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Die Idee der Universität und ihre Zukunft

Die Universität ist der Ort der Wissenschaften, die Wissenschaften sind der Sinn der Universität. Diese Idee der Universität klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Aber gegenwärtig ist es so um unsere Universitäten bestellt, dass man an einen solchen Gemeinplatz allen Ernstes wieder erinnern muss. Man glaubt entdeckt zu haben, dass Universitäten eigentlich so etwas wie Wirtschaftsunternehmen seien, die auf dem Markt mit der Ware Wissenschaft handeln, und dass die Universitäten dann angeblich aufblühen, wenn sie sich nach dem Vorbild von Wirtschaftsunternehmen begreifen und sich freiwillig entsprechend umbauen. Dieser Umbau der Universitäten unter neoliberalistischen Vorzeichen wird als Reform der Universität ausgegeben. Zu befürchten ist freilich etwas ganz anderes: Die neoliberalistischen Neuerfinder der Universitäten zerstören die Idee der Universität. Das ist die zentrale These meiner nachfolgenden Überlegungen.

1. Die Idee der Wissenschaft

Wissenschaft versucht systematisch und methodisch zu erkunden (erforschen), was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist. Bei dieser Erforschung der Welt lassen sich die Wissenschaftler durch fünf Ideale anleiten: das Ideal der Wahrheit, das Ideal der Begründung, das Ideal der Erklärung und des Verstehens, das Ideal der Selbstreflexion und das Ideal der Intersubjektivität.

Wissenschaft will erkunden, was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist. Wissenschaftliche Forschung mündet in Aussagen über Sachverhalte in der Welt. Die wissenschaftlichen Aussagen sollen wahr sein, sie sollen die Welt so beschreiben, wie sie tatsächlich ist. Nur vor dem Hintergrund dieses Wahrheitsideals werden die intellektuellen Tugenden verständlich, auf die die Forscher eingeschworen werden und ohne die Wissenschaft schlechterdings nicht denkbar ist. Diese intellektuellen Tugenden laufen alle darauf hinaus, dass Wissenschaftler niemals unkritisch und ungeprüft festschreiben dürfen, was wir Menschen sowieso schon glauben oder glauben wollen; vielmehr sollen die Forscher versuchen, möglichst jede Täuschung, jeden Irrtum, jedes Vorurteil, jede Form des bloßen Wunschdenkens aufzudecken und zu überwinden.

Das bringt das Ideal der Begründung ins Spiel. Denn was in der Welt der Fall ist, liegt längst nicht immer offen zu Tage, im Gegenteil, immer wieder täuschen sich Menschen darüber. Es bedarf daher besonderer Anstrengungen, nachzuweisen, dass eine Meinung über die Welt tatsächlich wahr ist. Die Wissenschaft verpflichtet sich, für jede ihrer Feststellungen über das, was in der Welt der Fall ist, diesen oftmals mühsamen Wahrheitsnachweis zu führen. Das geschieht in Gestalt von wissenschaftlichen Begründungen.

Wissenschaft soll sich nicht damit begnügen, die Tatsachen in der Welt der Reihe nach zu konstatieren und einfach beziehungslos nacheinander aufzulisten. Wissenschaft soll uns, wo immer dies möglich ist, zu Einsichten darüber verhelfen, wie das, was in der Welt geschieht, miteinander zusammenhängt. Erst in dem Maße, in dem es der Wissenschaft gelingt, Regeln, Gesetze, Muster, Strukturen für den Zusammenhang der Sachverhalte in der Welt darzustellen, können wir erklären und verstehen, warum etwas in der Welt so und nicht anders geschieht.

Wissenschaft will erkunden, was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist. Nun stelle man sich einmal vor, jemand legte eine Theorie vor, die die Existenz des Erfinders eben dieser Theorie ausschlösse. Der Erfinder behauptet ja, die Welt sei so, wie sie in der besagten Theorie beschrieben wird. Eine solche Theorie kann nicht richtig sein. Mit anderen Worten, jede Theorie über das, was in der Welt der Fall ist, muss damit verträglich sein, ja muss begreiflich machen können, dass es uns gibt, die wir die Theorie behaupten, andernfalls kann etwas mit der Theorie nicht stimmen. Jede Theorie müssen wir dem Test unterziehen, ob sie damit verträglich ist und ob wir mit ihr auch begreifen können, dass wir uns unter anderem mit der besagten Theorie auf die Welt beziehen. Indem wir darüber nachdenken, ob eine Theorie oder Feststellung diesen Test besteht, werden wir uns unserer selbst und unserer eigenen Rolle bei der Theoriebildung bewusst. Wissenschaften beschäftigen sich niemals selbstvergessen mit der Welt, gewissermaßen ganz und gar der Welt hingegeben. Vielmehr fragen sich Wissenschaftler immer wieder, wie sie es anstellen müssen und können, die Welt richtig zu erforschen. Welche Methoden sind geeignet, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, welche Methoden sind für welche Täuschungen anfällig und gegen welche Täuschungen resistent? Welche Anforderungen müssen wissenschaftliche Begriffe erfüllen, damit man mit ihrer Hilfe die Welt richtig beschreiben kann? Warum entstehen wissenschaftliche Kontroversen? Wie lassen sich wissenschaftliche Kontroversen vernünftig beilegen? Lassen sie sich überhaupt vernünftig beilegen? Sind wissenschaftlich gesicherte Prognosen der Zukunft möglich? Wann und wie sollen sich Wissenschaftler kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität in der Öffentlichkeit zu Wort melden? Wo liegen ethische Grenzen, die auch in der Forschung niemals überschritten werden dürfen? Fragen über Fragen, denen allen eines gemeinsam ist: Wissenschaften erforschen nicht nur die Welt in allen ihren Aspekten, Wissenschaften erforschen und thematisieren auch die Erforschung der Welt in all ihren Aspekten. Wissenschaft ist hochgradig selbstreflexiv, und letztlich ist die Selbstreflexion der Wissenschaften identisch mit ihrer philosophischen Dimension.

Wissenschaft bringt ihrer Idee nach kein Geheimwissen einer privilegierten Minderheit hervor. Dem Anspruch nach müssen sich wissenschaftliche Resultate immer wieder von anderen Forschern nachvollziehen und bestätigen lassen. Wissen, das sich nicht intersubjektiv mitteilen und intersubjektiv nachprüfen lässt, verwirkt auf Dauer den Anspruch, wissenschaftliches Wissen zu sein. Deshalb unterwirft sich die Wissenschaft dem fünften Ideal, dem Ideal der Intersubjektivität.

Niemand kann alleine Wissenschaft treiben. Wissenschaft ist ein durch und durch kollektives und soziales Unternehmen. Der genuin soziale Charakter von Wissenschaft hat eine wichtige Konsequenz. Die Forscher müssen zusammenarbeiten, sie müssen miteinander kooperieren, soll Wissenschaft zustande kommen. Es lassen sich zwei hauptsächliche Formen der Zusammenarbeit in der Wissenschaft unterscheiden: Zum einen sind Forscher einander Beobachtungshelfer. Forscher müssen sich dabei wechselseitig unterstützen, hinreichend viele einschlägige Beobachtungen über das, was in der Welt der Fall ist,ass="ParagraphFirst">Was sich gegenwärtig an den Hochschus Richtige am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt auch wahrzunehmen. Ohne sorgfältig geplante und abgestimmte Arbeitsteilung oftmals sogar tausender und abertausender Forscher ließen sich sehr viele Messungen und Experimente gar nicht durchführen. Beobachtungshelfer sind Wissenschaftler für einander aber auch, wenn ein Wissenschaftler selber noch einmal nachschaut, was der Kollege gesehen zu haben glaubt, oder wenn ein Wissenschaftler an anderen Orten und zu anderen Zeitpunkten, die für die Kollegen nicht zugänglich sind, eine Beobachtung vornimmt oder wiederholt. Noch eine andere wichtige Form der Beobachtungshilfe sei hier erwähnt. Angesichts der unermesslichen Forschungsliteratur, zumal in den Geisteswissenschaften, ist es unabdingbar, dass Wissenschaftler Ersatzleser für einander sind; der eine Kollege hat das eine Buch, der andere Kollege das andere Buch gründlich studiert, und anschließend informieren sie sich kurz wechselseitig über die wichtigsten Einsichten der eigenen Lektüre.

Damit bin ich schon bei der zweiten zentralen Kooperationsform. Die Forscher sind gleichberechtigte Mitdiskutanten in den kritischen und daher stets kontroversen wissenschaftlichen Debatten. Die fünf Ideale der Wissenschaft, insbesondere aber die Ideale der Begründung, der Selbstreflexion und der Intersubjektivität lassen sich nicht anders realisieren, als dass die Wissenschaftler ihre Gründe und Gegengründe, ihre Argumente und Gegenargumente für ihre wissenschaftlichen Ansichten miteinander austauschen und aufeinander beziehen und so versuchen, sich gemeinsam auf die wahren oder zumindest die am Ende am besten begründeten Überzeugungen zu einigen.

2. Die Idee der Universität

Die Universität ist der Ort der Wissenschaften, die Wissenschaften sind der Sinn der Universität. Universitäten sind Orte, wo Menschen regelmäßig zusammenkommen und zusammenwirken, um nach bestimmten von ihnen selbst gesetzten und kontrollierten Regeln Wissenschaft zu ermöglichen und zu realisieren. Erstens kommen in der Universität Forscher zusammen, um gemeinsam bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit so zu erforschen, dass sie dabei die Ideale der Wahrheit, der Begründung, der Erklärung und des Verstehens, der Selbstreflexion und der Intersubjektivität möglichst gut erfüllen. Zweitens kommen in der Universität Forscher mit jungen Menschen der nachfolgenden Generation zusammen, um diese in die Wissenschaft einzuführen und sie zu befähigen, in Zukunft selber Wissenschaft zu betreiben oder zumindest Wissenschaft ein Stück weit zu verstehen und außerhalb der Forschung anzuwenden. Aus der Idee der Wissenschaft folgen bereits die wichtigsten Grundsätze, nach denen die beiden Aufgaben der Universitäten, die Forschung und die Lehre, zu organisieren sind.

(1) Die unmittelbar mit Wissenschaft befassten Mitglieder der Universität, die Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Studierenden sind auf die fünf Ideale der Wissenschaft und die mit ihnen verbundenen intellektuellen Tugenden verpflichtet. In der gesamten Geschichte der Universitäten mussten einzelne ihrer Mitglieder immer wieder an diese Verpflichtung auf die Ideale der Wissenschaft erinnert werden. Auch heute stehen längst nicht allen Mitgliedern der Universität die Idee der Wissenschaft und die Idee der Universität hinreichend klar vor Augen.

(2) In der Forschung kooperieren die Forscher als Beobachtungshelfer und als gleichberechtigte Mitdiskutanten in den kontroversen wissenschaftlichen Debatten. Ich will die Konsequenzen der ersten Kooperationsform für die Universitäten hier nicht weiter betrachten, sondern konzentriere mich auf die zweite Form des Zusammenwirkens. Sie verlangt, die wissenschaftliche Forschung wesentlich als einen ununterbrochenen kontroversen Diskussionsprozess zu organisieren. In diesem Diskussionsprozess sind alle Forscher gleichberechtigt. Jeder hat die gleichen Pflichten, sich mit Hilfe der Mitforschenden sachkundig zu machen, jeder hat das gleiche Recht, jede ihm einschlägig erscheinende These und Gegenthese, jedes ihm einschlägig erscheinende Argument oder Gegenargument vorzutragen, zur Diskussion zu stellen und zu vertreten. Niemand darf von Außen diesen Diskussionsprozess reglementieren und beschränken. Dieser Diskussionsprozess und seine Ergebnisse liegen ausschließlich in der Verantwortung der Forschenden und der übrigen unmittelbar mit Wissenschaft befassten Mitglieder der Universitäten. Universitäten verdienen es nur dann, Universitäten genannt zu werden, wenn es ihnen gelingt, Forschungsprozesse als fortlaufende offene und freie kontroverse Debatten zu organisieren. Alle anderen organisatorischen Rahmenbedingungen innerhalb der Universitäten müssen sich nicht zuletzt daran messen lassen, ob sie Forschungsprozesse als offene und freie kontroverse Debatten befördern oder behindern.

(3) In die Wissenschaft eingeführt und zur Wissenschaft befähigt werden die Studierenden durch einen Dreierschritt: vormachen, nachmachen, mitmachen. Zu Beginn trennt ein mehr oder weniger gewaltiges Kompetenzgefälle die Lehrenden von den Studierenden. Deshalb müssen Lehrende kraft ihrer Kompetenz und Erfahrung vormachen, wie man Wissenschaft angemessen betreibt. Das kann natürlich auf vielfältige Weise geschehen. Da aber der Forschungsprozess wesentlich als offene und freie kontroverse Debatte ablaufen muss, sind die Lernschritte des Nachmachens und Mitmachens selber wesentlich als offene und freie kontroverse Debatten zwischen Lehrenden und Studierenden und auch zwischen den Studierenden zu organisieren.

(4) Im Prinzip muss der Lehrende ein kompetenter Forscher sein, denn er soll in die Wissenschaft durch Vormachen und Kontrolle und Verbesserung des Nachgemachten einführen. Umgekehrt steht jeder kompetente Forscher unter den fünf Idealen der Wissenschaft, insbesondere unter dem Ideal der Begründung, der Selbstreflexion und der Intersubjektivität; er muss daher in der Lage sein, das von ihm Entdeckte und Gedachte so darzustellen, dass andere es nachvollziehen und unabhängig von ihm überprüfen und kritisch diskutieren können. Es ist nicht nur ein Humboldtsches Ideal, Forschung und Lehre miteinander zu verbinden, es folgt aus der Idee der Wissenschaft und damit aus der Idee der Universität überhaupt, dass Forschung und Lehre nicht voneinander getrennt werden können und dass jeder Wissenschaftler an der Universität Forscher und Lehrer in Personalunion zu sein hat.

(5) Es gibt keine Wissenschaft ohne Selbstreflexion, und deshalb gibt es letzten Endes keine Wissenschaft ohne Philosophie. Eine Bildungsstätte, wo zum Beispiel nur Theologie gelehrt wird, ist daher keine Universität, sondern ein Priesterseminar; eine Bildungseinrichtung, in der Physik, Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre und was auch immer, nur keine Philosophie unterrichtet wird, ist keine Universität, sondern eine Fachhochschule. Freilich muss die Philosophie selber das Ganze der Wissenschaften im Blick haben und darf nicht selber der Illusion erliegen, sie sei eine Einzelwissenschaft neben anderen Einzelwissenschaften.

(6) Wenn man es recht bedenkt, deuten unsere mit der Idee der Wissenschaft und der Idee der Universität begründeten Grundsätze zur Einheit von Forschung und Lehre schon darauf hin, dass die innere Verfassung der Universität im Kern nur die einer Gelehrtenrepublik sein kann. Gelehrtenrepublik ist Demokratie nach Schweizer Vorbild und meint etwas sehr Einfaches: In letzter Instanz ist es die freie, offene und kontroverse Diskussion der Forscher und Lehrer, aus der alle wesentlichen Entscheidungen über das, was an der Universität im Dienste der Wissenschaft zu tun und zu lassen ist, hervorgehen müssen.

3. Wider die neoliberalistische Neuerfindung der Universitäten

tutionen, die der Tatsn den Hochschulen abspielt, lässt sich an einer Formel ablesen, die in aller Munde ist. Jeder von Ihnen kennt diese Formel: Wir müssen den ökonomischen Standort Deutschland sichern, und daher müssen unsere Schulen und Hochschulen wieder zur so genannten Weltspitze aufrücken. Man kann es auch noch anders ausdrücken: Die Universitäten müssen sich bezahlt machen, das in sie investierte Geld muss am Ende gesamtwirtschaftlichen Gewinn abwerfen. Die besten Wissenschaften, so glaubt man in diesem Zusammenhang, sind die Laborwissenschaften. Jedes naturwissenschaftliche Laborexperiment benutzt eine Apparatur, mit der sich Phänomene kontrolliert hervorrufen und verändern lassen, um sie zu vermessen, zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Ein Phänomen naturwissenschaftlich erklären zu können, heißt zu wissen, was man tun muss oder im Prinzip tun müsste, um dieses Phänomen oder ein vergleichbares ähnliches Phänomen technisch zu erzeugen und zu manipulieren. Wird experimentelle Forschung erfolgreich abgeschlossen, stehen in Gestalt der während der Forschung entwickelten Experimentierapparaturen bereits Prototypen für Geräte und Maschinen bereit, die sich dann tendenziell immer auch industriell und ökonomisch nutzen lassen. Hinter dem Schlagwort von der ökonomischen Standortsicherung durch Wissenschaft steht daher der Versuch, den Prozess der Wissenserzeugung mit der industriellen Produktion so zu verzahnen, dass der Weg von der Grundlagenforschung zum ökonomisch nutzbaren Produkt möglichst kostengünstig und zeitlich kurz gestaltet wird.

Dass die wissenschaftliche Forschung Resultate hervorbringt, die sich ökonomisch bezahlt machen, ist als eines der Ziele der Forschung nicht illegitim. Aber es darf nicht das primäre und vorrangige Ziel der Wissenschaft werden. Genau das aber geschieht gegenwärtig. Dem Ziel, den Weg von der Grundlagenforschung zum ökonomisch nutzbaren Produkt möglichst kostengünstig und zeitlich kurz zu gestalten, werden heutzutage tendenziell alle anderen Ziele der Bildungs-, Forschungs- und Universitätspolitik untergeordnet. Erst von diesem Ziel her erscheint die Auffassung, die Universitäten wie Wirtschaftsunternehmen aufzufassen, die untereinander und mit der übrigen Wirtschaft um die Ware Wissenschaft und die Ware Ausbildung in der Wissenschaft ökonomisch auf dem Weltmarkt konkurrieren, so plausibel als ein alternativloser Sachzwang. Auf diesen Sachzwang berufen sich die Kräfte innerhalb und außerhalb der Universitäten, die das betreiben, was ich polemisch die neoliberalistische Neuerfindung der Universitäten nenne. Ich will einige neoliberalistische Verirrungen etwas genauer unter die Lupe nehmen.

(a) Der neoliberalistischen Neuerfindung der Universitäten liegt ein völlig einseitiges Wissenschaftsverständnis gepaart mit Elementen des sowieso um sich greifenden Wissenschaftsaberglaubens zugrunde. Echte Wissenschaft aber zeichnet sich durch die Pluralität der Wissenschaften in und unter der Einheit der Idee der Wissenschaft und durch selbstkritische Reflexion auf die Grenzen von Wissenschaft aus. Es ist offenkundig, dass man unter der Zielvorgabe, den Wirtschaftsstandort Deutschland durch Wissenschaft zu retten, vornehmlich die Experimentalwissenschaften im Blick hat und dazu tendiert, wissenschaftliches Wissen mit technischem Verfügungs- und Prognosewissen gleichzusetzen. So etwas kann nur passieren, wenn den für die Wissenschaften und Universitäten Verantwortlichen offensichtlich elementarste wissenschaftsphilosophische Unterscheidungen nicht (mehr) geläufig sind. So müssen wir mindestens unterscheiden zwischen technischem Verfügungswissen und Orientierungswissen, um auch nur halbwegs wenigstens dem Unterschied zwischen Natur- und Technikwissenschaften und den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften gerecht zu werden. Wer Wissen für den wichtigsten Rohstoff zukünftiger Ökonomien hält, traut der Wissenschaft außerdem Dinge zu, die sie so nicht leisten kann und wird. Der Glaube an die Wissenschaft wird zum Wissenschaftsaberglauben. Dabei versorgen uns gerade auch die Natur- und Technikwissenschaften in Hülle und Fülle mit einem Wissen darüber, was wir vermutlich wissenschaftlich nicht wissen, nicht vorhersagen, nicht technisch beherrschen können. Wir müssen dieses Selbstwissen der Wissenschaften um ihre Grenzen nur systematisch zur Kenntnis nehmen und auswerten. Das ist in einer wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unsrigen bitter nötig. Unter den neoliberalistischen Vorzeichen werden die Wissenschaften jedoch dazu gedrängt, viel mehr Dinge zu versprechen als sie werden halten können. Das Ideal der kritischen Selbstreflexion droht unter die Räder zu kommen.

(b) Wissenschaftliche Ergebnisse sind keine Waren, sondern öffentliche Güter. Wie wir gesehen haben, lebt Wissenschaft von ihrer Idee her davon, dass jedes ihrer Forschungsresultate zusammen mit seiner jeweiligen Begründung immer wieder von anderen Forschern unabhängig voneinander nachvollzogen, überprüft und immer wieder kritisch und kontrovers in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erörtert wird. Diese stets zu wiederholende und fortzusetzende Überprüfung und kritische Erörterung wissenschaftlicher Ergebnisse erstreckt sich auch auf ihre Tradierung an die nächste Generation. Deshalb vollzieht sich Unterricht in der Wissenschaft wesentlich über eine kontroverse Diskussion zwischen Lehrenden und Lernenden. Daraus ergibt sich unmittelbar die strukturelle Kollision zwischen einem wissenschaftlichen Forschungsresultat und einer marktgängigen Ware: Das Forschungsresultat ist öffentliches Gemeingut aller Wissenschaftler und gerade nicht etwas, das geheim zu halten und der freien Verfügung der Konkurrenten, sprich anderer Wissenschaftler anderer Universitäten zu entziehen ist. Außerdem: Wie schnell, mit welchem Aufwand und von wem ein Resultat zum ersten Mal erzielt worden ist, entscheidet über den Wert von Waren, über den Wert des wissenschaftlichen Resultats sagt es nichts aus. Auch in dieser Hinsicht kollidiert ein wissenschaftliches Forschungsresultat strukturell mit einer marktgängigen Ware.

(c) Die Güte von Wissenschaft und die Qualitäten eines Forschers und Hochschullehrers lassen sich nicht nach quantitativen, der Betriebswirtschaftslehre entnommenen Kriterien bemessen. Die Güte von Wissenschaft und die Qualitäten eines Hochschullehrers sind danach zu beurteilen, ob die Ideale der Wissenschaft gut realisiert sind. Die Qualität wissenschaftlicher Forschung lässt sich in letzter Konsequenz nicht quantitativ messen. Ob ein wissenschaftliches Forschungsergebnis inhaltlich interessant ist und ob es gut begründet ist, das stellt sich fast nie sofort, sondern oftmals erst nach längerer Zeit heraus, wenn immer mehr Forscher ihm zustimmen, es Eingang findet in kanonisches Lehrbuchwissen oder es zumindest für wert befunden wird, auf es einzugehen, über seinen Inhalt in Geschichtsdarstellungen einer entsprechenden Disziplin zu berichten und so weiter und so fort.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen betrachte man die quantitativen Parameter, mit denen heute die Leistungen eines Wissenschaftlers in der Forschung gemessen werden: Höhe der eingeworbenen Drittmittel, Zahl der Forschungsprojekte, Zahl der Publikationen, Häufigkeit des Zitiertwerdens, der so genannte ›Impact-Faktor‹ des Publikationsortes. Offenkundig sagt keine dieser Zahlen direkt etwas darüber aus, wie interessant, neuartig und gut begründet die Forschungsresultate eines Wissenschaftlers sind. Aber steht nicht hinter jedem Drittmittelprojekt und jeder Zeitschrift mit hohem Impact-Faktor die mehr oder weniger strenge Begutachtung durch andere und oftmals besonders hoch qualifizierte Wissenschaftler, hinter jedem Zitat das Interesse, das das Forschungsresultat bei anderen Wissenschaftlern geweckt hat? Einerseits ist das richtig. Wissenschaftliche Zeitschriften, Begutachtungsverfahren, Kongresse, Vorlesungen, Seminare sind Institutionen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass wissenschaftliche Wahrheiten niemals anders als über das Medium der kontroversen Diskussion ans Licht kommen. Aber andererseits lehrt die Wissenschaftsgeschichte auch noch etwas ganz anderes: Immer wieder haben Außenseiter und Dissidenten am Ende wissenschaftlich Recht behalten und hat sich ein von Gutachtern, wissenschaftlichen Zeitschriften usw. für exzellent befundenes wissenschaftliches Resultat als falsch und wertlos erwiesen, einmal abgesehen von der Tatsache, wie kontrovers in Wahrheit Exzellenzurteile in der Gemeinschaft der Wissenschaftler oftmals sind.

Diesen Tatsachen hat die Universität bisher in kluger Weise institutionell Rechnung getragen: Dem einzelnen Forscher wird nach seiner Berufung auf eine Professur die Freiheit garantiert, auch unabhängig von der Meinung der Kollegen und ohne ständige Begutachtung und Evaluation über die Themen zu forschen, die ihm interessant und lohnend erscheinen. Diese Forschungsfreiheit hat die Universität in der Vergangenheit auf kluge Weise garantiert, durch die Unkündbarkeit des Forschers, die Bereitstellung einer finanziellen und personellen Grundausstattung, die sinnvolle Forschung schon erlaubt, ohne dass diese Grundausstattung von der permanenten Evaluation des Forschers durch Gutachter abhängig gemacht wurde.

Die an der Universität dem einzelnen Forscher bisher garantierte Freiheit, die ganz wesentlich auch die Freiheit von der permanenten Begutachtung und Evaluation einschließt, hat noch einen zweiten Sinn: Wissenschaftliche Forschung ist eine schöpferische Tätigkeit. Das Innovative in der Wissenschaft ist auf produktive Einfälle und Einsichten angewiesen. Es ist eine kognitionspsychologische Binsenwahrheit, dass sich schöpferische Leistungen nicht planen und nicht durch technisches Handeln herbeizwingen lassen. Man kann nicht mehr tun, als für Menschen eine anregende Umgebung zu schaffen und ihnen sehr viel Zeit zuzugestehen, Dinge auszuprobieren und Irr- und Umwege einzuschlagen. Ansonsten muss man auf den richtigen Einfall warten, von dem niemand vorauswissen kann, ob er sich einstellen wird. Die gegenwärtige neoliberalistische Neuerfindung der Universität läuft auf das Gegenteil hinaus: Sie will aus den Forschern Akteure machen, die in möglichst kurzer Zeit viele wissenschaftliche Resultate erbringen sollen und das angeblich auch können, sobald man die Forscher nur ständig kontrolliert und die Forschungsaktivitäten nach betriebswirtschaftlichen Kriterien bewertet.

(d) Das Lebenselexier der Wissenschaften und der Universitäten ist nicht die nach ökonomischen und pseudoökonomischen Kriterien veranstaltete Konkurrenz der Forscher und Universitäten untereinander, das Lebenselexier der Wissenschaften und Universitäten ist die freie und offene kontroverse Debatte. Heute wird immer und immer wieder der Satz wie eine unumstößliche Wahrheit wiederholt: Interne und externe Konkurrenz verbessert die Universität. Aber dieser Satz ist falsch. Er hält keiner sorgfältigeren Überprüfung stand. Die zwanzig besten amerikanischen Universitäten zum Beispiel sind nicht gut, weil sie untereinander konkurrieren und sich fragwürdigen Rankings unterwerfen. Sie sind so gut, weil sie über so viel Geld verfügen, dass sie ideale Bedingungen für Forschung und Lehre schaffen können. Das A und O des Erfolgsgeheimnisses amerikanischer Spitzenuniversitäten ist ein phantastisch günstiges Zahlenverhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden, ein erheblich geringeres Lehrdeputat für die Hochschullehrer, eine optimale administrative Entlastung der Forscher durch eine effektive Hochschulverwaltung.

Der Wissenschaft und ihren konstitutiven fünf Idealen liegt eine hochkomplexe delikate Beziehung zwischen dem einzelnen Forscher und der Forschergemeinschaft zugrunde. Immer geht es um die Freiheit des einzelnen Forschers, seine eigenen Wege gegen den faktischen Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu gehen, und um die verbindliche Rückbindung des Forschers an die kontroversen Debatten der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Dafür gibt es keine institutionelle Patentlösung, trotzdem haben die Universitäten in der Vergangenheit dieser dialektisch höchst verwickelten Beziehung zwischen dem einzelnen Forscher und der Forschergemeinschaft erstaunlich erfolgreich institutionell Rechnung getragen. Den Universitäten liegt die geballte, über tausendjährige Erfahrung zugrunde, wie sich schöpferische Forschungsprozesse organisieren lassen. Die gegenwärtigen neoliberalistischen Neuerfinder der Universität glauben, auf diese Erfahrungen nicht mehr angewiesen zu sein, sondern alles besser zu wissen. Insbesondere zerstören sie die bisher sensibel austarierte komplizierte Dialektik zwischen dem einzelnen Forscher und der Forschergemeinschaft. Wenn diese Dialektik zerstört wird, die Forscher unter den Dauerstress permanenter Kontrolle und Dauerevaluation nach fragwürdigen Kriterien gesetzt werden, wird in Wahrheit im Forschungsprozess der finanzielle und personelle Aufwand, das Angepasstsein an die gegenwärtig hoch im Kurs stehenden Modetrends in der Forschung und ähnliches mehr prämiert. Nicht mehr im Vordergrund steht die Frage, ob ein wissenschaftliches Ergebnis wahr, gut begründet, erklärungskräftig, relevant, neuartig ist. Die neoliberalistische Neuerfindung zerstört die Idee der Universität.

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Heft 1 (2008)
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1867-7061

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