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Editorial

Mit diesem Heft stellen sich die Denkströme vor, das neue Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Im Fall einer neuen Zeitschrift fragt man zu Recht: Was ist ihr allgemeines Ziel? Und wen will sie erreichen?

In einer ersten Näherung sagt bereits der Titel etwas zum Zweck: Ströme sammeln Wasser. Denkströme versammeln Wissen, aber auch Argumente. Manchmal teilen sie sich, verteilen das Wasser oder Wissen in verschiedene Regionen und Bereiche. Auch Argumentationen können sich verzweigen. Sie können in verschiedene Richtungen oder zu sich widersprechenden Orientierungen führen. Das ist nie auszuschließen. Es ist nicht einfach durch einen vermeintlich intrinsischen Zwang zum Konsens aus dem Betracht zu lassen. Und es ist nicht künstlich durch äußere Begradigungen des Denkens zu steuern, da das Ergebnis das Gegenteil freien Denkens wäre. Dass der Dissens nicht schon an sich unvernünftig ist, auch das will die Metapher in unserem Journaltitel sagen. Es geht also nicht darum, eine angeblich von allen unmittelbar anzuerkennende Wahrheit zu lehren oder auf ihrer Grundlage irgendwelche Leser wissenschaftlich zu beraten. Es geht vielmehr darum, den verschiedenen Argumenten und den unterschiedlichsten Themen in den Wissenschaften und über die Wissenschaften in ihren differenten Aspekten erst einmal eine Stimme zu geben und sie dadurch auch explizit zu machen. Denkströme können sogar verfließen. Aber sie können sich auch wieder treffen und zu einem stärkeren Strom vereinen. Der Titel Denkströme ist selbst das Resultat bzw., um in der Metapher zu bleiben, der Ausfluss eines solchen Prozesses. Nach längerem überlegen, wie der Titel des Journals der Sächsischen Akademie der Wissenschaften lauten sollte, war es Dan Diner, dessen Vorschlag offenbar auf den rechten Flusslauf oder Denkstrom hingewiesen hat.

Wie eine Akademie der Wissenschaften der Idee nach das ganze Spektrum disziplinären Wissens umfasst, so will auch unser Akademiejournal transdisziplinäre Verbindungen schaffen. Es soll Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Disziplinen und wissenschaftlichen Institutionen herstellen. Es ist in dem Sinn interdisziplinär, ohne einer hybriden Auflösung der Disziplinen das Wort zu reden. Denn in den Wissenschaften sollte es immer um diszipliniertes, methodisch kontrolliertes und kanonisch lehrbares Wissen gehen, nicht bloß um zufällige Ansammlungen von diversen Kenntnissen über einen Gegenstand oder ein Thema. Nur die einzelnen Anwendungen sind gegenstandszentriert. Das an sich immer allgemeine Wissen bleibt stets auch an Theorien und Methoden orientiert. So kann es zum Beispiel keine Wissenschaft von allen Aspekten der Sprache oder von Zeichen geben. Es gibt auch keine einheitliche Wissenschaft vom Menschen. Trotz der modischen Konjunktur des Ausdrucks ›Kulturwissenschaft‹ gibt es keine homogene Wissenschaft von der Kultur, nicht einmal über das Altern. Die Gründe für diese thesenartigen Feststellungen finden sich hier: Sprache und Zeichen durchdringen alles Wissen, von der Philosophie und Mathematik bis zur Physik. Jedes Wissen hat immer auch etwas mit dem Menschen oder der Kultur zu tun. Und auch das Altern ist in jeder wissenschaftlichen Erforschung wieder in disziplinäre Aspekte aufzuteilen, von den medizinischen bis zu den ökonomischen.

Leider wird im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb diese uralte, im Grunde auf Aristoteles zurückgehende Einsicht, dass eine einheitliche Wissenschaft nicht bloß durch den Gegenstand, also das Thema, sondern auch durch den Untersuchungsaspekt, die Untersuchungsmethode und die Artikulations- bzw. Darstellungsform der Resultate bestimmt ist, nicht mehr begriffen. Eine diffuse Bevorzugung hybrider Forschungsförderung ohne allzu klare Ziele und Zielkontrollen zeigt eben dies. Der gute Klang des Ausdrucks ›Interdisziplinarität‹ in vielen Reden auf vielen Foren verdeckt allzu oft auf mehr oder minder gedankenlose Weise das bloß Nichtdisziplinäre und damit wissenschaftlich Problematische entsprechender Unternehmungen.

Wie schon diese hoffentlich umstrittene Bemerkung zur rechten Form von Trans- oder Interdisziplinarität zeigt, soll unser Journal immer auch ein Forum sein für Debatten über die Wissenschaft, ihre Formen, institutionellen Verfassungen, gesellschaftspolitischen Bedingungen und ihre sowohl technischen als auch pädagogischen Aufgaben in Ausbildung und Bildung. In diesem Heft findet sich dazu schon eine Debatte über die allgemeine Verwirrung um das Humboldt-Ideal im Zuge des Umbaus der höheren, universitären Bildung in Deutschland und Europa nach den Bolognareformen. Die gleichlautende Überschrift der Beiträge von Holm Tetens und Wulf Diepenbrock »Die Idee der Universität und ihre Zukunft«, die mit dem Titel unserer Diskussion im Akademieforum vom 20. Juni 2008 zusammenfällt, könnte somit gleichsam den Rahmentitel für einen Großteil der Beiträge des ersten Heftes der Denkströme abgeben. In vielfachen Anläufen und aus unterschiedlichen Perspektiven wird der Versuch unternommen, die Idee der Universität in ihrem Zusammenhang zu den gegenüber der preußischen Staatsuniversität veränderten strukturellen Rahmenbedingungen zu thematisieren. Dabei stellt sich dann auch die Frage, ob, wie Jürgen Mittelstrass ’ oder Holm Tetens’ Plädoyer lautet, das Humboldtsche Bildungsideal unmittelbar mit der Idee der Universität zusammenhängt und bei allen strukturellen Veränderungen zu bewahren ist, oder ob es eher selbst dem Zeitgeist der preußischen Staatsuniversität zugeschlagen und daher endgültig verabschiedet werden sollte, wie der Historiker Konrad H. Jarausch in seinem Beitrag unterstellt. Es ist die grundsätzliche Frage nach der Idee der Wissenschaft und nach der Idee der Universität, sofern diese durch jene ihren Namen verdient, die vernünftige Rahmenbedingungen möglicher und notwendiger Reformen des Hochschulwesens zu formulieren erlaubt und nicht die blinde Orientierung an ökonomischen Verwertungsstandards, wie Tetens mahnt. Damit kann die Wissenschaft gerade nicht als Idee begriffen und gefördert werden. Sie würde zur Ware auf dem Weltmarkt. Die gedankenlose übernahme scheinbarer Erfolgsrezepte aus der ohnehin kaum vergleichbaren anglo-amerikanischen Hochschullandschaft kann hier nicht weiterführen. Den Gefahren einer Art Bildungsmaoismus, dem die Institutionen in den Vereinigten Staaten so licht erscheinen wie gewissen sektiererischen Gruppen der 70er Jahre die des kommunistischen China, ist entsprechend auch eine differenzierte Realanalyse der verschiedenen Traditionen und des begrenzten Sinns bloßer Kopien einer Struktur aus einer ganz anderen Umgebung entgegenzusetzen. Während bei Tetens im Vordergrund steht, sich nicht von bewährten und vernünftigen Strukturen vorschnell zu verabschieden, betonen Jarausch und Mittelstrass, wenn auch im Detail mit differenten Vorstellungen, die Notwendigkeit zum Strukturwandel der deutschen Hochschule. Beide befürchten, dass dieser nicht mutig genug vollzogen werden könnte. Richard Münch sieht den Schlüssel zum Erfolg der gegenwärtigen Reformbemühungen in der öffnung der disziplinären Grenzen, deren bloß traditionalistischer Fortbestand einer modernen Wissenschaftsentwicklung seiner Ansicht nach im Weg steht. Wulf Diepenbrock betont die Notwendigkeit zur Deregulierung, um der Universität ihre Autonomie in Fragen der Forschung und Lehre zu sichern. Er setzt dabei auf die in der Tat immer notwendige freie und vernünftige Kooperation.

Jede Diskussion um die Idee der Universität und ihre Zukunft findet vor dem Hintergrund reflektierter Erfahrungen statt. Der Historiker Detlef Döring schließt den Teil der Beiträge entsprechend, indem er das anstehende 600jährige Jubiläum der Universität Leipzig zum Anlass nimmt, die Rolle der Universität im Allgemeinen, die der Leipziger Universität im Besonderen, in ihrem Einfluss auf die disziplinäre Entwicklung der Wissenschaften in den Blick zu nehmen.

Daneben finden sich im Diskussionsteil Zwischenrufe zum gerade beschlossenen neuen Sächsischen Hochschulgesetz (SHG). Sie schließen sich damit nahtlos an die allgemeinen überlegungen zur Idee und Zukunft der Universität an und führen diese in der besonderen Auseinandersetzung mit den Regulierungsvorgaben des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst fort. Wolfgang Fach zeigt, wie sich unter dem neuen Gewand vorgeblicher Autonomie der alte Geist am Leben erhält. Nicht zuletzt weil zwar strukturell zumindest manche Kompetenzen an die Hochschulen gegeben werden, dabei aber infrastrukturell kaum Verbesserungen in Sicht sind. Daran schließt sich auch der Diskussionsbeitrag von Charlotte Schubert an, die auf einige besondere Punkte aufmerksam macht, in denen das neue SHG nicht die Deregulierung und Freiheit zur Selbstbestimmung der Hochschule hält, die es verspricht. Dabei verweist Schubert auf konkrete, im SHG angelegte Konflikte, die aus diesem widersprüchlichen Geist hervorgehen. Gerald Eisenblätter und Karola Kunkel durchleuchten das neue SHG dann aus der Sicht studentischer Interessen und finden auch hier noch reichlichen Bedarf zur Nachbesserung.

In einem dritten Teil schließlich berichtet Ulrich Johannes Schneider als Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig über aktuelle Projekte zur Nutzbarmachung alter Quellen in neuen, digitalen Medien. Des Weiteren werden Neuerscheinungen, die unmittelbar aus aktuellen Forschungsprojekten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften entstanden sind, ebenso vorgestellt wie das Programm und die inhaltliche Ausrichtung der in diesem Jahr neu gegründeten Veranstaltungsreihen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig: das Akademieforum und das Akademiekolloquium .

Die Denkströme erscheinen zweimal jährlich in hybrider Form parallel in einer Druckauflage beim Leipziger Universitätsverlag und zugleich als Open Access Online-Journal unter http://www.denkstroeme.de.

Zum Schluss bleibt nur noch, den Denkströmen eine kritische Leserschaft zu wünschen, dieser wiederum ein Vergnügen bei der Bereitschaft, sich nicht nur von ihnen treiben zu lassen, sondern mit- und weiterdenkend aktiv an ihnen teilzunehmen.

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Heft 1 (2008)
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ISSN:
1867-7061

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