Der Laufstall
Anmerkungen zur Hochschulreform am Beispiel Sachsens
1. Sachsens Hochschulen erhalten ein neues Gesetz. Seine groben Linien ähneln den Bestimmungen, die anderswo schon in Kraft sind; das erklärte Ziel ist ebenfalls eine geläufige ›Nummer‹: mehr Autonomie. Aber nicht: mehr Geld.
2 . Das neue Gesetz regelt Organisations- und Kontrollfragen. Doch die Hochschulen haben vor allem Ressourcenprobleme. Daher sind von den angepriesenen Innovationen keine dramatischen Verbesserungen zu erwarten. Jene tagtägliche Beschwerlichkeit, die in erster Linie für das unbestreitbare Qualitätsdefizit verantwortlich ist, wird nicht erfasst. Solange aber riesige Kohorten durchs Studium geschleust und monströse Klausurberge abgearbeitet werden müssen, bleibt wenig Raum für ›Exzellenz‹. Zugespitzt: Wenn sich Freiheit nicht in Qualität umsetzen lässt, ist sie für die Katz. ›Hochschulbefreiung‹ entpuppt sich dann als Rosstäuscherei – ein falsches Pathos, das verkehrte Assoziationen weckt, nichts kostet und den schwarzen Peter einfach weitergibt. Frage: Käme irgendjemand auf die verrückte Idee, dem gegenwärtigen Finanzchaos ein ›Bankenfreiheitsgesetz‹ entgegenzusetzen? Sachsen etwa pumpt Hunderte von Millionen in seine marode Landesbank. Da fließt plötzlich unsagbar viel Geld – von dem es immer wieder heißt, dass man es nicht habe.
3. Bringt diese Reform des Organisations- und Kontrollapparats den Hochschulen wenigstens die billige Freiheit, sprich: das gute Recht, mit ihrem allgegenwärtigen Mangel nach eigenem Gutdünken umzugehen? Weit gefehlt. Kaum wird es ernst, verlieren sich die Spuren des Umbruchs. Unter den neuen Paragraphen werkelt immer noch der alte Geist – so ›re-formatiert‹, dass er sich im Faltenwurf des Freiheitsmantels verstecken lässt. Diese Revolution entlässt ihre Kinder nicht wirklich – im ›Laufstall‹ mögen alle herumtollen, verlassen darf ihn niemand. Das freilich ist leichter gesagt als getan. Auf der Suche nach dem rechten Gleichgewicht zwischen Freiheit und Organisation resp. Autonomie und Kontrolle verliert sich der Gesetzgeber im Gestrüpp seiner winkelzügigen Kalküle. Nicht nur in Sachsen – vergleichbare Projekte haben vergleichbare Defekte, wenn auch mit wechselnden Akzenten und in unterschiedlichen Nuancen.
4. Bei den Bestimmungen, die der Organisation eine neue Gestalt geben wollen, stechen mehrere Ungereimtheiten ins Auge. Zunächst und besonders gravierend: Entscheidungsblockaden in der Universitätsleitung sind vorprogrammiert. Einerseits wird dem Rektor das Privileg eingeräumt, die Richtlinien der universitären Politik zu bestimmen – ein Schritt in Richtung Präsidialverfassung. Würde dieser Weg konsequent beschritten, müsste man den Kanzler von seinem Podest holen, war dieser doch bisher in einer äußerst komfortablen Lage: Nicht nur konnte er gegen (haushalts-)rechtlich relevante Entscheidungen sein Veto einlegen, als Herr der Verwaltung stand ihm auch deren gesamter Apparat zur Verfügung (dessen personelle Besetzung ihm in letzter Instanz ebenfalls vorbehalten war).
5. Doch damit nicht genug: Während der Kanzler den ganzen Verwaltungsapparat für seine Politik einspannen kann, hängen seine Leitungskollegen völlig in der Luft. Solange nichts anderes anstand als eben Verwaltung, war diese Konstellation ungefährlich – die Administration tat, was sie konnte, und außerhalb ihrer Reichweite fielen nur läppische Aufgaben an: ›events‹ wie Begrüßungen oder Ehrungen, deren Qualität sich zwar auch noch steigern ließe, doch von dieser Optimierung hing nichts wirklich ab. Selbst dann, wenn hie und da Krisen heraufzogen, war eher ein politischer ›Riecher‹ gefragt denn strategische Kalküle auf der Basis elaborierter Pläne. Aber diese Zeiten sind vorbei. Dafür gibt es zwei Gründe: ›Bologna‹ und ›Exzellenz‹. Seither hat sich in der Universität das Arbeitsklima deutlich verändert: Anspruch und Aufwand sind gleichzeitig gestiegen, rapide. Universitäten müssen Ziele formulieren, Projekte organisieren, Leistungen kontrollieren, Märkte beobachten, Kunden werben, Wettbewerbe gewinnen, Ressourcen platzieren, Strukturen optimieren, Profile entwickeln, Personen mobilisieren und Geldströme lenken. Wer da den Status quo nur verwaltet, anstatt ihn gründlich zu verändern, gibt das Spiel von vorneherein verloren. Ob es dahin kommt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ein Kanzler Sand ins Getriebe streut – was wiederum dann passiert, wenn er sich selbst als Verwaltungsherr versteht, dessen primäres Ziel es ist, die Bewegung so abzubremsen und umzulenken, dass seine Administration alles unter Kontrolle behält. Dann werden aus Projekten ›Sachgebiete‹, deren Leitung einem ›höheren‹ oder ›gehobenen Dienst‹ anvertraut wird, deren Leistungen sich in ›Aktenlagen‹ und ›Beschlussvorlagen‹ niederschlagen.
6. Das wird passieren. Und noch etwas anderes: Blockaden mit Zukunft finden unter anderen Auspizien statt – ins Gehege kommen werden sich differierende Vorstellungen davon, was in einer gegebenen Situation wohl zweckmäßig sein mag. Das sächsische Hochschulgesetz räumt dem ›ersten Diener‹ (Rektor) die Richtlinienkompetenz ein – und setzt ihm zugleich einen zweiten vor die Nase: Kanzler können buchstäblich alles im Namen der ›Zweckmäßigkeit‹ blockieren. Daraus folgt: eine zeitgleiche Maximierung von Konfliktwahrscheinlichkeit und Kontrolldichte. Warum Kontrolle? ›Zweckmäßigkeit‹ ist ihrer Natur nach formal und ökonomisch: Entweder soll ein bestimmtes Ziel mit möglichst wenig Mitteln erreicht werden; oder mit gegebenen Mitteln will man dem Ziel möglichst nahe kommen. Kurzum: die Domäne eines Controller- oder Buchhalter-Hirns, das Zahlen (›Kennziffern‹) haben und gegeneinander verrechnen will. Komplexere Hirne verlangen nach komplexeren Zahlen oder gar ganzen Zahlensystemen, damit ja kein blinder Fleck auf der universitären Landkarte bleibt, der aus dem Rechenkalkül herausfällt. Den Trend dahin gibt es selbstredend schon lange, und seltsame Blüten treibt er nicht erst seit heute. Indessen ist, was sich abzeichnet, nicht nur eine Fortsetzung des Gewohnten, sondern seine Totalisierung: Die Taylorisierung von Forschungsprozessen, im letzten Jahrhundert in Mode gekommen und seither unablässig auf dem Vormarsch, wird sich – nicht von heute auf morgen, doch in kleinen Schritten – auch den Lehrbetrieb einverleiben. Individuelle ›Impact‹-Faktoren <ol> <li>Wolfgang Fach, "Der Laufstall.es wird noch eine Weile dauern, bis sich Lehrerfolge pro Zeiteinheit messen lassen, doch auch hier gilt: Kommt Zeit, kommt Rat. Außerdem kann man sich dieselbe fürs erste auch damit vertreiben, Erfolgskriterien zu fixieren: Jenseits des Atlantiks kursieren bereits Listen mit 40 und mehr Ziel-Dimensionen, die den Lehrenden permanent vor Augen schweben sollen. Wenn das keine Chance für Bürokraten ist!
7. Allerdings, nach Zahlen verlangt hierzulande jedenfalls weniger das ökonomische Denken per se, sondern ein staatlicher ›Blick‹, der sich schärfen will. Zur Erinnerung: Die Statistik ist als Staatsaufgabe geboren worden. Doch warum ist dieses Interesse an Ziffern aller Art gerade jetzt so mächtig angewachsen? Autonomiegewinne bei den Hochschulen setzen in den zuständigen Ministerien Sorgen und vor allem Energien frei, die in ein ausgefeiltes Überwachungsinstrumentarium fließen sollen, das selbst kleinste Bewegungen erfasst und für begründungspflichtig erklärt. Autonomie wird so hinterrücks wieder kassiert. Dann bliebe den Universitäten nichts übrig, als viel Zeit in Begründungen dafür zu investieren, warum sie mit ihrer Zeit nichts Besseres anfangen. Derzeit sieht es ganz danach aus, als wolle man zweitklassige Hochschulen erstklassig kontrollieren. Preußentum und Fetischismus.
8. Amerika, die nie versiegende Quelle unserer Inspirationen, liefert auch hier das Lehrstück. Dort funktioniert ein vergleichsweise harsches Regime akademischer (Selbst-)Kontrolle vor allem aus zwei Gründen. Der erste: die durchgängige Vorherrschaft des Führerprinzips – oder, weniger verfänglich, ›leadership‹. Auf jeder Stufe werden Defizite bestimmten Funktionären – etwa Deans oder Chairs – zur Last gelegt, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, dass sie ihre Einheit auf Kurs bringen, sprich: zur permanenten Leistungssteigerung anhalten. Nachdem alles und jedes ›gerankt‹ worden ist, stehen diesen Verantwortlichen klare Standards vor Augen. Grundsätzlich gilt: Alles muss besser werden, nie ist etwas gut genug. Wiewohl es zum Spiel gehört, Defizite insoweit zu kompensieren, als man sich Zielvorgaben (›mission statements‹) verpasst, die kompromittierende Schwächen als lässliche Sünden erscheinen lassen (etwa weil soziale Haltungen fachliche Leistungen als akademisches Ideal ablösen) – niemand kann leugnen, dass im Durchschnitt mehr Wert auf Kontrollen gelegt wird. Vielleicht ist das auch das Resultat einer anderen Einstellung zur Institution und ihren Kunden. Doch (mindestens) ebenso sehr fällt ins Gewicht, dass Verweigerer aller Art nicht ungeschoren davon kommen: Die soziale Kontrolle funktioniert, und wo sie nicht ausreicht, setzen finanzielle Sanktionen ein, positive wie negative. So gesehen leistet sich das neue Hochschulgesetz einen richtigen Fauxpas: Es etabliert zwei gegenläufige Verantwortungsstränge: einen von oben und den zweiten mit umgekehrter Richtung – Dekane oder Direktoren müssen einerseits für die Erreichung vereinbarter Ziele sorgen, andererseits sitzen in den Gremien (vor allem dem Senat) Gruppenvertreter, deren Sinn ebenfalls nach Erfolgskontrolle steht – allerdings anhand nicht vereinbarter ›Basisinteressen‹. Über deren Richtung lässt sich allgemein sicher so viel sagen, dass sie Folgekosten von Zielvereinbarungen reflektieren, die zu ›unerträglichen‹ Belastungen bei einigen oder allen Betroffenen geführt haben. Zerreißproben sind also vorprogrammiert. Und wenn es nicht alleine in der Zentrale knirscht, sondern auch an diesen Fronten Pressionen endemisch sind, dann kann man sich leicht ausmalen, wie schnell eine Hochschule zum Laufstall – oder auch Freigehege – mutiert: Raus darf niemand, aber drinnen tollen sie herum. Damit ist die Lage natürlich karikiert – aber was anderes sind Karikaturen als Hinweise darauf, was menschenmöglich ist?
9. Freiwillige Selbstkontrolle nach amerikanischer Art ist auch in ihrer Heimat kein über alle Zweifel erhabenes Exempel für das Wir-Gefühl der Korporationsmitglieder – ›die‹ sind keine besseren Menschen als wir, jedenfalls nicht so viel besser, dass dieser Unterschied den anderen erklären könnte. Ins Kalkül muss vielmehr etwas anderes gezogen werden: Hochschulen sind marktabhängig, ihre Einnahmen bestreiten sie zu großen Teilen aus Gebühren. Bei den privaten war es nie anders, doch inzwischen sind auch die staatlichen dem rauen Wind des Wettbewerbs um zahlende Kunden ausgesetzt, weil der staatliche Geldfluss zunehmend versiegt. Geringere Subventionen bedeutet höhere Gebühren, und wer mehr zahlen muss, verlangt mehr. Anders als unsere Universitäten müssen amerikanische zeigen, dass sie ihr Geld wert sind; jedenfalls sollten sie diesen Eindruck erwecken können. Im Verein mit dem hochgeschraubten Pathos der ›mission statements‹ sind aufwendige Selbstkontrollen ein gutes Mittel, um draußen klar zu machen, dass es drinnen mit rechten Dingen zugeht.
10. Wir vertrauen stattdessen auf ›Hochschulräte‹ – sie sollen qua Amt die Anbindung an den Markt der Gesellschaft herstellen. Dazu werden ihm beträchtliche Kontrollrechte eingeräumt. Das kann schief gehen, wenn die Ratsmitglieder, häufig aus autokratischen Verhältnissen stammend, ihre persönliche Welt für das ganze Universum nehmen und entsprechend autistisch agieren. Erste Beispiele gibt es schon, gefolgt von den unausweichlichen Turbulenzen. Warum sollte man sich derartige Eingriffe auch gefallen lassen? Da können Universitäten 600 Jahre alt werden (Leipzig) und werden immer noch wie höhere Töchter behandelt, die nur mit ihren Gouvernanten unterwegs sein dürfen, weil sie sich sonst den Falschen anlachen. Wenn diese Gouvernanten wenigstens etwas taugen würden! Dafür müssten sie wissen, wer oder was für ihre Schutzbefohlenen der oder das Richtige ist – was sie aber nicht können, weil ihre Kenntnis von den Verhältnissen auf sporadischen Einblicken beruht und daher schütter bleiben muss. Ein paar Mal im Jahr Aktenstudium zwischen zwei ICE-Halts – mehr Aufwand können diese geschäftigen Kontrolleure in aller Regel nicht betreiben, um sich, ihr eigenes Gewissen beruhigend, mit den aktuellen Stichworten vertraut zu machen. Zum Glück haften sie für nichts, sonst kämen wohl noch ein paar schlaflose Nächte hinzu. Genauer besehen sind solche Gremien mindestens so sehr Kinder der Bürokratie wie Aufseher des Marktes. Sonst würden sie nicht eingerichtet. Zugespitzt könnte man sagen: Kenner komplettieren Kanzler und Kennziffern – alle zusammen sollen sie den Gang der Dinge in Zaum halten.
11. Nach John Locke ist es das politische Prinzip der neuen Zeit, dass nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollen – unter deren Ägide die Leute dann friedlich und produktiv miteinander leben. Zweifellos ›herrscht‹ das Hochschulgesetz, doch ansonsten sieht es recht ›alt‹ aus. Denn seine Paragraphen provozieren unproduktive Konflikte, anstatt sie zu domestizieren – der ungeplante Effekt des Versuchs, einen riskanten Befreiungsakt dadurch unter staatlicher Kontrolle zu halten, dass Ermächtigung und Entmachtung gleichzeitig institutionalisiert werden. Dies ist das Prinzip Laufstall – es gibt dem Staat, was des Staates ist, und macht aus ›befreiten‹ Hochschulen akademische Tollhäuser. Selbstredend muss es soweit nicht kommen. Vernünftige Menschen bringen auch unter schlechten Bedingungen etwas Gutes zustande. Doch Gesetze sind für jene gemacht, denen es an Vernunft mangelt – und davon gibt es innerhalb der Universitäten mindestens so viele wie außerhalb. Sachsen nimmt darauf keine Rücksicht.