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Das Fortschrittsversprechen der Aufklärung und die Kulturkritik von Rousseau1

1. Der Fortschrittsdiskurs des 18. Jahrhunderts


Die Aufklärung hat eine optimistische Geschichtsphilosophie hervorgebracht,2 die prononciert auf den wissenschaftlichen Fortschritt setzt, der sich auf eine seit Bacon und Descartes geläufige Semantik von Erfahrung und Vernunft gründet. Der Begriff des Fortschritts bzw. das Versprechen der Wissenschaften, einen solchen herbeizuführen, gilt heute vielen als ein toter Stern. Zu ­ihren Vertretern im Zeitalter der Aufklärung gehören in Frankreich, das hier im Zentrum steht,3 um 1750 in bestimmtem Sinn die Enzyklopädisten, allen voran ihre Hauptvertreter d’Alembert und Diderot in Vorwort und Konzeption der Encyclopédie, zeitgleich auch Anne-Robert Jacques Turgot (1727–1781) mit der explizit dem Fortschritt gewidmeten kleinen Schrift Tableau philosophique des progrès successifs de l‘esprit humain (1750)4 und am Ende des Jahrhunderts der Marquis de Condorcet, Mathematiker, der mit der Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain von 17945 ein Vermächtnis niederlegt, das angesichts der historisch-politischen Zeitenwende den Zivilisations- und Erkenntnisfortschritt in universalistischer bzw. globalisierungstheoretischer Perspektive festschreibt, und der auch eine Neuordnung der Res publica letteraria hin zu einer weltweiten Wissenschaftlergemeinschaft ins Auge fasst.


Im Discours préliminaire der Enzyklopädie von 1751 definiert d’Alembert als deren beiden Ziele zunächst, die »Ordnung und Verkettung« (l’ordre et l’enchaînement) der menschlichen Kenntnisse aufzuzeigen, sowie dann, im Geiste eines Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, ­eines Wörterbuchs also der Wissenschaften, der freien und der mechanischen Künste, die Basis dieser Künste und der für sie wesentlichen Details zur Darstellung zu bringen. Welche Fährnisse einem solchen erkenntnistheoretischen und auf Praxis gerichteten Willen entgegenstehen konnten und wie der Verleger um des sicheren Gewinns Willen die letzten Bände dieses kapitalintensivsten Unternehmen im Frankreich des 18. Jh. eigenhändig und ohne Information der Herausgeber (zu dieser Zeit nur noch Diderot) zensierte, das kann man bei Robert Darnton in einem Band mit dem trefflichen Titel »Glänzende Geschäfte« nachlesen.6 Bis hin zu Google ist die Verbreitung des Wissens nicht nur eine Frage der Wahrheit.


So fühlten sich auch schon die Herausgeber der Enzyklopädie selbst nicht nur dieser verpflichtet, sondern ebenso dem Ziel, mittels ihrer zum Glück der Menschheit beizutragen. Voltaire nannte das Werk das Monument der Fortschritte des menschlichen Geistes. Ein explizit emphatisches Fortschrittsversprechen formuliert die Enzyklopädie aber nur indirekt. Fortschritt ist, wo er semantisch erscheint, sowohl positiv konnotierbar, wie im Artikel »Cartésianisme« am Beispiel des Spracherwerbs, als auch negativ, wie am Beispiel des Fortschreitens einer Krebskrankheit, so im Artikel »Cancer«. Am ehesten in die Nähe eines allgemeinen Fortschrittsversprechens kommt der Wissenschaftsfortschritt (»progrès des sciences«) in den Artikeln »Science« und »Axio­me« oder der Fortschritt der Vernunft (»raison«) im Artikel »Encyclopédie« bzw. jener des menschlichen Geistes (»progrès de l’esprit humain«) im Artikel »Barbares«. Für ein Fahnenwort in Gestalt eines Lemmas mit großer Amplitude fehlt um 1750 offensichtlich noch die gesellschaftliche Grundlage, der entsprechende alphabetische Eintrag hat nur wenige, neutral gehaltene Zeilen.7 Im Vordergrund steht die wissenschaftsphilosophische bzw. -politische, oft nur auf Umwegen mögliche Kritik am theologischen Weltbild, am Aberglauben und am Despotismus. Gnoseologisch gesehen ist der Wahrheitsbegriff der französischen Enzyklopädie, daran ist zu erinnern, absolut.8 Wahrheit ist in ihrem Verständnis nicht Kind ihrer jeweiligen Zeit.9 Der Gegensatz lautet noch: das dunkle Mittelalter und das Zeitalter des Lichts.


Selbstverständlich vermittelt eine solche Bildwelt auch einen geschichtsphilosophischen Optimismus. Und einen ersten menschheitsgeschichtlichen Ansatz10 in diese Richtung finden wir bereits bei dem jungen Turgot, dem späteren Minister von Ludwig XVI. und nachmaligen Vertreter des Freihandels, mit einer, erstaunlicherweise in der Sorbonne, dem Hort des Konservatismus,11 ebenfalls um 1750 vorgetragenen, ganz im Geist Charles Perraults gehaltenen und dessen Fortschrittsgedanken aus der Querelle des Anciens et des Modernes zugleich weiterführenden Zustandsbeschreibung der Gegenwart, die einem Versprechen gleichkommt. In Turgots Tableau ist die Rede von Sittenmilderung, Aufklärung des menschlichen Geistes, wechselseitiger Annäherung der Nationen, einem zwar langsamen, aber andauernden Fortschreiten zu einer größeren Vollendung.12 Diese Merkmale stehen für eine offene, zur Verbesserung tendierende Zukunft. Perfektion ist die hierfür aufgebotene Semantik. In ähnlicher Weise bekräftigt den guten Stand der Polizierung der von 1746 bis 1755 ständige Sekretär der Académie française Charles Pinot Duclos in seinen Considérations sur les mœurs de ce siècle von 1751 (dt. Jena 1758). Vielleicht ist es kein Zufall, dass Turgot – zur Zeit seines Traktats noch Prior der Sorbonne, also in einer geistlichen Funktion – es ist, der eine gleichsam religionsnahe Emphase in den Fortschrittsdiskurs einführte.13 Es wird jedoch bis zu Mme de Staël und ihrem kulturgeschichtlichen Entwurf De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales von 1800 und zu Chateaubriands Génie du Christianisme von 1802 dauern, bis Turgots Versuch, Christentum und moderne Welt zu versöhnen, stärker Platz greift.14

Ebenfalls mit Emphase formuliert, aber gänzlich säkularisiert in der Argumentation ist das Fortschrittsversprechen dann bekanntlich bei Condorcet. Er ringt es einer für ihn misslichen Situation ab, befindet er sich doch im Untergrund, verfolgt von einem in diesem Augenblick in die Enge getriebenen Jakobinismus, dem er bereits in den Debatten um das neue Erziehungswesen zu liberal erschien.15 Umso beeindruckender ist sein in zehn Kapiteln entworfenes Panorama, das von den ersten Bevölkerungsaggregationen ausgehend ein Bild des weltweiten Fortschritts entwirft, in dessen Zentrum die Wissenschaften und die Moral stehen. Bereits 1782 hatte Condorcet in seiner Aufnahmerede in die Académie francaise triumphierend festgestellt: 


»Die Wahrheit hat gesiegt; das Menschengeschlecht ist gerettet. Jedes Jahrhundert wird dem vorangehenden neue Lichter zuführen. Und diese Fortschritte, die nun nichts mehr aufhalten oder anhalten können, werden keine anderen Grenzen haben als jene der Dauer des Universums.«16

Alain Pons, der Herausgeber der Esquisse, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Idee der Perfektibilität dem Wissens- bzw. Wissenschaftsideal eine neue Richtung gibt. An die Stelle des kontemplativen philosophischen Weisen der Antike bzw. des mittelalterlichen Mönchs tritt der »savant« bzw. Wissenschaftler, der in einem Verbund von Philosophen, Handeltreibenden, Industriellen, Philanthropen und Staatsbürgern agiert.17 In diesem Verbund ist Perfektibilität ein gradueller, quantitativer und zeitlich unabschließbarer Vorgang. Condorcet führe damit auch die ältere Idee der Perfektion an ihre Grenze, denn unendliche Perfektion widerspreche Aristoteles’ Entelechiegedanken ebenso wie dem christlichen Menschenbild. Locke hingegen, mit dessen Lehre die Esquisse beginnt,18 habe einer solchen Auffassung die metaphysischen, moralischen und psychologischen Grundlagen geliefert und Newton stützte sie mit seiner neuen Physik.


Wissenschaft ist im Verständnis Condorcets eine soziale Handlung wie jede andere. Der Intention nach sind die Wissenschaftler eine neue Elite, die der Menschheit dient. Wissenschaft als theoretische und operative Einheit zu begreifen, ist gegenüber älteren Vorstellungen vom Wert des Wissens modern gedacht. Sie muss sich an ihren Effekten und Verflechtungen mit den genannten anderen Handlungen messen lassen. Condorcet verbindet diese Neuformierung mit der Herausbildung einer öffentlichen Meinung, welche die bisherige Usurpierung der wissenschaftlichen Ergebnisse durch Tradition und Autoritäten aus der Welt schafft, womit man bisher die Menschheit geschädigt habe; so die positive Wendung eines kritischen rousseauschen Motivs aus dessen Erstem Discours. Zugleich vertritt Condorcet, wie kurz nach ihm die sogenannten Idéologues, nun mit Nachdruck die schon im 18. Jh. virulente Auffassung, dass, was für die Naturwissenschaften möglich sei, auch für das Studium der menschlichen Natur und des sozialen Lebens möglich sein müsse. Der Ausdruck »sciences sociales« findet sich vermutlich erstmals 1791 bei Dominique-Joseph Garat,19 der zum Kreis um Condorcet gehört. Zuvor hatten bereits Leibniz und andere die Mathematik als Leitwissenschaft unterstellt. Diese Haltung findet sich auch noch bei Diderot. In der Privilegierung der Mathematik folgt diesen Vorläufern Condorcet. Er denkt Wahrscheinlichkeitsrechnung und Handlungstheorie zusammen und nennt diese Kombination soziale Mathematik. Sie hat das Glück und die Perfektionierung der menschlichen Gattung zum Zweck, d. h. sie ist vorwiegend im Dienst moralischer und politischer Ordnung.


Insofern ist die These Pons’, dass die Revolution für Condorcet kein Anlass zu qualitativer Spekulation, sondern nur eine Etappe zu weiterem Fortschritt sei, vielleicht nicht die ganze Wahrheit, ist die zehnte Epoche der Esquisse, die in einem ersten Entwurf von 1782 noch fehlte, als Paradox einer wissenschaft­lichen Utopie doch in dieser emphatischen Form wie in dieser Konkretion nicht denkbar ohne die Erfahrung von 1789 und ohne die Niederlage der alten Mächte auf dem Kontinent. Sie lässt sich richtig nur verstehen als Grundversprechen für eine neue und bessere Gesellschaftsformation der Menschheitsgeschichte, wie es auch Kant in seiner Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürger­licher Absicht 1784, notwendigerweise noch unverbindlicher, vorgebracht hatte. Größere Gleichheit zwischen den Nationen sowie eine tatsächliche Höherentwicklung innerhalb der Nation (»perfectionnement réel de l’homme«) sind unter der Richtschnur von Freiheit und Vernunft nach Condorcet die Tendenz und der Maßstab einer globalen Verbesserung. Zwar verweigert sich diese Sicht einer ­Divinisierung der Geschichte und ihrer Gesetze im Sinne Hegels oder Comtes, jedoch kann man mit Fug und Recht von einer Art Divinisierung des Fortschritts und der Wissenschaft sprechen, die gerade in der französischen gesellschaft­lichen, politischen und ideengeschichtlichen Entwicklung des 19. Jh. Schule machen wird. Das 10. Kapitel, das konzipiert ist als Prospekt eines großen, in die Zukunft gedachten Wissenschaftsprogramms, beinhaltet auch so etwas wie die Vision einer glücklichen Menschheitserwartung.20

Faktische Vorbilder für den Blick in die Zukunft bilden Frankreich und der angloamerikanische Raum. Zu verbessern ist nach Condorcet die Situation jener, die unter der Diktatur von Königen leben müssen, dann die Lage der barbarischen Völker Afrikas, schließlich die Unwissenheit der Wilden. Ziel der Esquisse ist es, mit einiger Wahrscheinlichkeit die künftigen Schicksale der Menschheit nach den Resultaten ihrer Geschichte vorzuzeichnen (»tracer, avec quelque vraisemblance, le tableau des destinées futures humaines d’après les résultats de son histoire«, Éd. cit, S. 265). Konjektur und Wahrscheinlichkeit als Methode und Kriterien des Vorgehens (frz. conjecture, probabilité, vraisemblance) stammen nicht aus der Semantik der Utopien, sondern aus der Mathematik und den Naturwissenschaften (opérations de la nature) sowie dem »bon sens«, bzw. der Ästhetik der Klassik, welcher der rationalistisch codierte Condorcet noch anhängt. Gegen Rousseau hält Condorcet die Ungleichheit nicht für einen unveränderlichen Wesenszug der Zivilisation, sondern für ein Resultat der Unvollkommenheit der Sozialtechniken, des »art social«21, so die hier noch physiokratische Terminologie in der Tradition der freien Künste. Kein Ort des Globus, so das Versprechen, wird von der Freiheit ausgeschlossen bleiben. Hierzu berechtigt ihn, dass die Prinzipien der französischen Verfassung bei allen aufgeklärten Menschen bereits in Geltung seien. Die Kolonialpolitik wird umschlagen in eine nützliche Politik des freien Handels, man wird die Unabhängigkeit der Kolonien anerkennen, den Missio­naren, die den Aberglauben brachten, werden wahre Aufklärer folgen, eine neue Brüderlichkeit wird entstehen, Freunde wird man sein unter den Völkern und die Wilden werden die gelehrigen Schüler der Zivilisation sein.22 Neue wissenschaftliche Entdeckungen und der Fortschritt in den Prinzipien der Lebensführung sowie der Moralauffassungen sind schon deswegen unausweichlich, weil die Natur jedenfalls den Hoffnungen der Menschen keine Grenzen 
gesetzt hat.


Condorcet ist indes kein naiver Prophet. Er sieht sehr wohl, dass die ­Ungleichheit des Reichtums, jene zwischen Erben und Arbeitenden und die Ungleichheit der Bildung tatsächlich existieren und wirken. Er will sie gemindert sehen und äußert sich in dieser Absicht mit Nachdruck, er will hierbei aber keineswegs in die von der Natur gesetzten Unterschiede so eingreifen, dass sie für den Einzelnen wesentlich freiheitsmindernd sind. Die steigende Bildung ist für ihn ein problemmildernder Multiplikator des wissenschaftlichen Fortschritts in Quantität und Methodenpräzision. Dieser Fortschritt wird zu besseren Bodenerträgen führen, aber auch zu längerer Lebensdauer aufgrund der medizinischen Forschung. Eine Gefahr der Überbevölkerung sieht Condorcet als beherrschbar an. Ein Grundproblem bleibe jedoch die respektive Ausdehnung der individuellen und der gesellschaftlichen Rechte (étendue des droits individuels de l’homme et de ceux que l’état social donne à tous à l’égard de chacun, S. 283). Hierzu entwirft er den Plan für die genannte soziale Mathematik, die allerdings erst in den Anfängen stecke sowie für eine Universalzeichensprache zur Perfektionierung der wissenschaftlichen Kommunikation. Ferner will er eine stärkere ethische Reflexion auf das eigene Handeln ins Werk gesetzt wissen und bessere Gesetze. Zur Annahme der Wirksamkeit dieser Maßnahmen berechtigen die »bonté morale de l’homme« (S. 286), eine anthropologische Annahme also, hier die natürliche Güte des Menschen, die in eine unlös­liche Kette von Wahrheit, Glück und Tugend verflochten sei (ebd.).


In diese Richtung einer szientifisch basierten Politik tendiert auch der Plan zu einer weltweiten Wissenschaftsorganisation, der uns als Fragment sur l’Atlantide23 überkommen ist, dessen Titel auf Bacons Nova Atlantis anspielt. Dieser Text erforderte wegen seiner Darlegungen zur Gegenstandspezifik der Wissenschaften und zur Interdisziplinarität eine eigene Ausführung, die hier nicht geleistet werden kann. Er bringt ferner lebenstüchtige Anmerkungen zu den Schwierigkeiten einer solchen Organisation aus Gründen der professionellen Eitelkeit der Wissenschaftlerzunft. Nicht zuletzt interessant ist er wegen einer Digression zur Wissenschafts- und Kulturfähigkeit der Frauen, die – so spottet der bis zum Beginn seiner politischen Misshelligkeiten im Salon der Mme Helvétius verkehrende und für Gleichberechtigung plädierende Condorcet – angesichts mancher physiologiebedingter Unpässlichkeiten zwar vermutlich kein zweiter Voltaire werden könnten, doch immerhin ein Rousseau. Dieser war bekanntlich misogyn und gesundheitlich recht anfällig.


2. Rousseaus Kulturkritik


Gegen Rousseau argumentierte Condorcet, wie wir sahen, auch im Kontext der Ungleichheit, die er für kein zwangsläufiges Produkt der Zivilisation hielt, wie dieser, sondern für das Ergebnis einer falschen sozialen Politik. Der Citoyen de Genève, dessen 300. Geburtstag wir im Jahr 2012 begehen konnten, hatte in der Tat eine ganz andere, bis heute wirksame Denkkultur in Gang gebracht. Er hat um 1750 die entstehende Encyclopédie vor Augen, da er mit Diderot gut ­bekannt ist, und er ist nicht nur mit deren Fortschrittsdiskurs vertraut, sondern weiß auch um den sittengeschichtlichen, optimistisch gelagerten Polizierungsdiskurs, wie ihn Turgot, Duclos und in gewissem Sinn auch Voltaire vertreten. Gegen diese um 1750 dominierende Geisteselite, die trotz bzw. auch gerade wegen ihrer aufklärerischen Gesinnung mit der Politik und der gesellschaftlichen Macht Verbindungen hält, schreibt Rousseau an. Zwar ist er einstweilig noch als Mitarbeiter an Diderots und d’Alemberts Unternehmen vorgesehen, was er auch mit Beiträgen zur Musik und zur Politischen Ökonomie einlöst, dennoch sucht er eine Selbständigkeit der Position dahingehend, als er die gesamte bis­herige gesellschaftliche Entwicklung gerade nicht für einen Fortschrittsweg, sondern für eine, wenn auch irreversible Verfehlung betrach-
tet.24 Hierzu bietet ihm die Preisfrage der Akademie von Dijon, aus deren Beantwortung der sogenannte Discours sur les sciences et les arts von 1750 hervorgeht und dessen Auffassungen er dann im Discours sur les origines de l’inégalité parmi les hommes von 1755 vertiefen wird, einen willkommenen Anlass. Die Fortschrittstheorie hatte, wie wir sahen, sowohl die zivilisatorische Entwicklung wie die mit ihr verbundene Entfaltung der Handlungsmöglichkeiten der Individuen positiv bewertet, ging jedenfalls mit Condorcet davon aus, dass die Perfektibilität des Menschen grenzenlos sei (la perfectibilité de l’homme est réellement indéfinie25). Rousseaus Perfektibilitätsbegriff, den er im zweiten Discours entfaltet, ist sachlich und anthropologisch anders gelagert als jener Condorcets. Perfektibilität ist hier keine anthropologische Grundqualität in ethischer Dimension. Mit dieser schon früh Missverständnisse erzeugenden Termininologie bezeichnet Rousseau vielmehr zunächst nur den Unterschied zum Tier am Beispiel der verlangsamten Entwicklung des Menschen. Er folgte hierin Pufendorff, der von imbecillitas im Natur­zustand spricht und ging Herder, der Rousseau als Quelle verschweigt, in der Sache voran. Gehlen ist in dieser Frage eigentlich nur Popularisator. Selbstliebe und Mitleid des natürlichen Menschen, von denen der zweite Discours spricht, sind dort kein Ausweis des Egoismus oder einer a priori verstandenen natürlichen Güte, sie sind als protoethische Qualitäten gleichsam direkt mit seiner Lebenswelt verknüpft. Nach dem Austritt aus dem Naturzustand ist jedoch Tugend ein ständiger Kriegszustand des Menschen mit sich selbst.26 So liegt nach Rousseau in der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen (»la faculté de se perfectionner«27), modern gesprochen in seiner Eigenschaft als Mängelwesen, nicht nur der größere Handlungsspielraum im Verhältnis zur Instinktfixierung des Tiers beschlossen, sie ist zugleich in der geschicht­lichen Entwicklung durch die keine Grenzen kennende Eigentumsfixierung des Menschen »die Quelle all seines Unglücks« (la source de tous les malheurs de 
l’homme28). 


Rousseau versucht Teleologie im Beginn des Geschichtsgangs zu vermeiden. Er reflektiert zunächst auf die »Zufälle«, »die imstande waren, die menschliche Vernunft zu vervollkommnen, indem sie die Art verdarben, die ein Wesen böse machten, indem sie es soziabel machten, und den Menschen und die Welt von einem so entfernten Stadium schließlich bis zu dem Punkt hinführten, an dem wir sie sehen.«29 Er entwickelt den Weg dahin aus der durch immer wieder auftretenden Mangel entstehenden Notwendigkeit zur Arbeit, aus Vorformen der Sesshaftigkeit, der damit zusammenhängenden Familiengründung, der Überschussproduktion, bis hin zum geregelten Ackerbau, wobei all diese Neuerungen zugleich eine Veränderung im Natur- und Selbstverhältnis wie in den Verkehrsformen der Menschen untereinander bedingten. Es erwachen Achtung und Selbstachtung, Liebe und Eifersucht, Geselligkeit und Konkurrenz, und es entsteht eine Übergangssituation »zwischen der Indolenz des anfänglichen Zustands und der ungestümen Aktivität unserer Eigenliebe« (un juste milieu entre l’indolence de l’état primitif et la pétulante activité de notre amour propre, Ed. Meier, S. 192), welche die glücklichste und dauerhafteste Epoche in der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten gewesen sein muss. Diese Epoche ist nach Rousseau die »wahrhafte Jugend der Welt« (la véritable jeunesse du Monde, Ed. Meier, S. 194). Ihr folgt dann die eigentliche Geschichte des Menschen als Dialektik von Perfektion und Verfall. 


Wesentlich in diesem Prozess sind Eigentumsbildung und Arbeitsteilung. Derjenige, der zuerst ein Grundstück einzäunte, dies sein Eigentum nannte und hierfür Zustimmung fand, war nach Rousseau der Begründer der societas civilis (société civile). Die Arbeitsteilung wird verdeutlicht an der Metallurgie, die für den Ackerbau ertragssteigernd tätig ist und deren Arbeitskräfte zugleich zur Ernährung auf diesen angewiesen sind. Erst an dieser Stelle der Entwicklung von Eigentumsbildung und Arbeitsteilung bringt Rousseau physische Stärke und Geschicklichkeit als strukturell bedeutsam in den Geschichtsgang ein. Der Erfolgreichere bildet mehr Eigentum, erzeugt den Abhängigen, von dem er zugleich selbst abhängig bleibt, wie beide von gewachsenen Bedürfnissen. So entsteht nach Rousseau eine Kultur des wechselseitigen Schadens, »das verborgene Verlangen, seinen Profit auf Kosten anderer zu machen« (le désir caché de faire son profit au dépens d’autrui, Ed. Meier, S. 209). Habituell bildet sich die Maske des Wohlwollens zum Zwecke der Unterwerfung heraus. Durch die Vielzahl neuer Bedürfnisse ist der Mensch nun »sozusagen der ganzen ­Natur untertan und vor allem seinen Mitmenschen, zu deren Sklave er in ­gewissem Sinn wird, selbst wenn er zu ihrem Herrn wird.« (le [sc. l’homme] voilà … assujéti, pour ainsi dire, à toute la Nature, et surtout à ses semblables dont il devient l‘esclave en un sens, même en devenant leur maître, Ed. Meier, S. 206). In der machtpolitischen Betrachtung entsteht aus den Risiken des Stärkeren gegenüber der Mehrzahl der Unterworfenen schließlich der Wille und Plan zum Kontrakt, den der Stärkere dem Schwachen auferlegt, den dieser wiederum in Hoffnung, selbst der Stärkere werden zu können, akzeptiert: »Alle liefen auf ihre Ketten zu, im Glauben ihre Freiheit zu sichern.« (Tous coururent au devant de leurs fers croyant assûrer leur liberté, Ed. Meier, S. 216). Das ist das Ende der »liberté naturelle« zugunsten der »liberté civile«, d. h. der Fixierung des Gesetzes des Eigentums und der Ungleichheit. Während Condorcet und die mit ihm verknüpfte Fortschrittstheorie von einer wesentlichen Syntonie von Höherentwicklung der Individuen und der Gattung ausging, stellt Rousseau die These auf, dass die Vernunft, an anderer Stelle sagt er das Individuum, vorankämen, die Gattung sich jedoch zum Schlechteren entwickle. Diese Dialektik, die sich bei Schiller und Kant umgekehrt darstellt, drückt einen tiefen geschichtsphilosophischen Pessimismus aus. Der Unterschied zu den Fortschrittsvertretern liegt in der Bewertung der Folgen einer ungehemmten Entwicklung von Strukturen der Macht und des Eigentums. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Rousseau ist keineswegs ein Gegner der Eigentumsordnung. In seinem Verständnis wird mit dem Gesellschaftsvertrag aus der natürlichen Freiheit eine bürgerliche, welche die Freiheit begrenzt und das vorhandene Eigentum sichert. Und nur so ersetzt der Mensch Instinkt durch Gerechtigkeit und gewinnt in seinen Handlungen, nicht zuletzt auch durch die Gesetze, Moralität. Der Pessimismus entsteht bei Rousseau dadurch, dass er sich in seinem Versuch, das Eigentum gleichsam still zu stellen, um die Freiheit und die Verhaltensauthentizität zu sichern, theoretisch und praktisch mehrfach umstellt sieht.


Theoretisch stehen ihm jene Auffassungen entgegen, die einen geradlinigen Zivilisationsfortschritt behaupten und hierbei im Prinzip von einer relativ ungehemmten Entwicklung des Eigentums ausgehen – dies sind auch die Vertreter einer den Korporativismus des Ancien Régime sprengenden Freihandels –, 
aber auch jene, weniger harmonisierend angelegten, welche in den Lastern und dem Luxusbedürfnis (Mandeville), oder allgemeiner in den Leidenschaften (Helvétius) einen positiven Stimulus für die Gesellschaft und ihre Motorik ­sahen. Praktisch steht Rousseau vor der Anschauung, dass überall Macht und Eigentum sich konzentrieren und hierbei eine hohe soziale und kulturelle Ungleichheit entsteht, sodass, wie es am Ende des zweiten Discours heißt, »eine Handvoll Leute vor Überflüssigem birst, während es der ausgehungerten Menge am Nötigsten fehlt« (une poignée de gens regorge de superfluités, tandisque la multitude affamée manque du nécessaire, Ed. Meier, S. 271/272). Selbst seine Heimatstadt Genf, die ihm eigentlich Vorbild ist, trägt für Rousseau Züge einer sozial und symbolisch Ungleichheit perpetuierenden Patrizierherrschaft.


In dieser grundsätzlichen Asymmetrie entsteht mit Notwendigkeit Intransparenz der Kommunikation und auf Dauer gestellte Uneigentlichkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen,30 in denen die Unterwerfung des anderen das eigentliche Ziel des gesellschaftlichen Verkehrs darstellt. Hiergegen setzen Rousseaus Schriften zur Abhilfe zum einen auf das Mittel der staatlichen Intervention: Beschränkung des Eigentums, republikanische Staatsform, politische Gleichheit der Individuen, so im Contrat social. Abgesichert wird die mora­lische Integrität der Bürger durch die Forderungen nach naturnaher Erziehung, so im Émile; nach Einfachheit der Lebensführung, so in der Nouvelle Héloise; sowie nach einer die Kohäsion des gesellschaftlichen Ganzen garantierenden Zivilreligion. In der Tendenz dieses Konstrukts fallen Citoyen und Bourgeois, d. h. Privat- und Staatsbürger, in eins. Hierin liegt auch der Grund, warum der sich als Freiheitstheoretiker verstehende Rousseau als Sachwalter politischen Zwangs gelten konnte, als der er bereits dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts erschien.


Bereits vor der Präzisierung seiner erst im zweiten Discours sich fundierenden gesellschaftstheoretischen Annahmen begreift Rousseau Künste, ­Literatur und Wissenschaft als organischen Teil und als Mittel der Herrschaft. Ihre Effekte erscheinen ihm verwerflich, da verweichlichend, entpolitisierend und vom Patriotismus wegführend. Diese Motive entwickelt er in der einen Gutteil seines Ruhms begründenden Preisschrift über die Künste und die Wissenschaften, der Discours sur les sciences et les arts. Bekanntlich hatte die Akademie von Dijon im Mercure de France, der Zeitschrift der Eliten, die Preisfrage ausgelobt, ob die Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen hätten, die Sitten zu verbessern.31 Wie die Einsendungen es bis auf zwei Ausnahmen belegen, war im Erwartungshorizont der Zeit aller Vermutung nach eine positive bzw. affirmative Antwort erwünscht. Hierfür spricht auch das oben angezeigte Umfeld von Turgots und Duclos’ Schriften, sowie der Sachverhalt des Erscheinens der Encyclopédie. Eine positive Gestimmtheit belegen ebenso die heftigen Polemiken, die Rousseaus kritischer Beitrag nach sich zog.32 Diderot gibt bekanntlich vor, er habe Rousseau, damals noch wie er selbst Teil der literarischen Pariser Bohème aber schon mit einem Herausgebervertrag für die Enzyklopädie versehen, vorgeschlagen, eine gegenteilige Position zur Erwartung der Akademie einzunehmen. Rousseau hingegen wählt in seinen Confessions (8. Buch) in der Schilderung seines Wegs zu Diderot,33 auf dem er die Preisfrage gelesen haben will, eine Semantik von plötzlicher Erleuchtung, die ihm den Weg der Erkenntnis gewiesen habe. Er präsentiert sich damit als Begründer einer kulturkritischen Gegenbewegung zum vorherrschenden Aufklärungs- und Zivilisationsoptimismus, für die er auch repräsentativ geworden ist.34 Inwiefern die Akademie von Dijon, die ihm den Preis zusprach, damit tatsächliche Zustimmung signalisieren wollte, ist hierbei 
zweitrangig.


Rousseaus Selbstsituierung deutet sich schon in der Äquidistanz an, die er zu den Schöngeistern und Denkmoden der Zeit (beaux esprits, gens à la mode) wie zu den Freigeistern und Philosophen behauptet, und mit der er nicht nur einen Gegensatz zu den Protagonisten der Hof- und Salonkultur aufmacht, sondern auch ein Kampffeld innerhalb der Aufklärung eröffnet. Für manche Aspekte seiner kulturkritischen Antwort stand bereits ein Topos bereit, so etwa jener der Verweichlichung durch Akkulturierung, wofür Athen im Verhältnis zu Sparta und das Schicksal Roms als historische Exempel dienten. Montesquieu, ein Vertreter des aus dem Bürgertum stammenden Amtsadels, hatte mit seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von 1749 ebenfalls in diese Kerbe geschlagen. Rousseau plausibilisiert seine These einer Sittenverderbnis durch die Künste und Wissenschaften zunächst durch eine Kritik an den Sitten seiner Zeit. Deren Polizierung und Zivilisierung baut er semantisch, zunächst scheinbar ganz konform zum Zeitgeist, als Zustand einer aufgeklärten Gesellschaft im Zeichen des Fortschritts auf und spricht von der Zerstreuung des anfänglichen Dunkels durch das Licht der menschlichen Vernunft (»dissiper par les lumières de sa [sc. de l’homme] raison, les tenèbres dans lesquelles la nature l’avait enveloppé«35), um diese durch Wissenschaften und Künste geschaffenen Lumières dann aber als Mittel zur Erzeugung glücklicher Sklaven zu denunzieren:


»Das Bedürfnis schuf Throne, die Wissenschaften und Künste haben sie befestigt. Mächtige der Erde, liebt die Talente und schützt jene, die sie pflegen. Zivilisierte Völker, pflegt sie: glückliche Sklaven, die ihr jenen diesen delikaten und feinen Geschmack verdankt, auf den ihr so stolz seid, diese Süße des Charakters und jene Urbanität der Sitten die den gesellschaftlichen Verkehr unter euch so soziabel und so leicht machen; mit einem Wort, den Anschein aller Tugenden, ohne tatsächlich auch nur eine zu haben.«36

Auch für diese Kritik an den »apparences« im gesellschaftlichen Kommerz hat Rousseau einen direkten Vorläufer. Es ist die Höflichkeitskritik von Jean-François Toussaint aus Les mœurs von 1748, worin dieser eine ausgefeilte Polemik gegen den Honnête homme entwickelt hatte. Dort ist die Rede von der sogenannten Politesse, von ihrer Auslegung von List und Täuschung als Geschicklichkeit, von Ehrgeiz als edler Nachahmung, von Doppeldeutigkeit als feiner Menschenführung usw. Anzumerken ist hierzu, dass das sich im 17. Jh. auf der Basis von Castigliones Cortegiano entwickelte Verhaltensideal des Adels in universalisierender Absicht um 1750 insgesamt einer dreifachen Kritik ausgesetzt sah: wegen der fehlenden Nützlichkeit des zweiten Standes, wegen der Künstlichkeit seiner Verstellungskultur und wegen der fehlenden Moralität seines Distinktionsanspruches. Toussaint entwickelte hiergegen als neues Leitideal den Homme de vertu auf der Basis einer bürgerlichen Version der Dreipflichtenlehre. Seine Schrift wird der Bestseller des Verhaltensschrifttums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Rousseau folgt Toussaint auch in diesem Gegenmodell der Tugend, das den gesamten ersten Discours dominiert37 und mittels derer er das von den herrschenden Eliten als Gipfelpunkt der geschichtlichen Entwicklung vorgestellte Kulturmodell in ein Entartungsmodell umdeutet. Dies geschieht auch über eine Serie von Antithesen, so die Gegenüberstellung von äußerlicher Contenance und Herzensneigung, von Künstlichkeit und Natur, von Uniformität aus Gewohnheit und Besonderheit des Einzelnen. Die en passant vorgenommene Soziologisierung dieses Gegensatzes als Antithese von Höfling (courtisan) und Landmann (laboureur) verrät den noch vorindustriellen Charakter dieser kulturkritischen Modellierung.


Argumentationsschwierigkeiten entstehen für Rousseau auf dem Feld der Wissenschaften. Fügen sich die Argumentationsbestände der Politesse-Kritik relativ schlüssig zur Kritik an den Schönen Künsten, da diese ja als Teil der höfischen Repräsentation bzw. der Konversationskultur der Salons und somit der herrschenden Kultur fungieren, kompliziert sich indes die Situation bei den Wissenschaften, die ja weder organisch zum Bezirk der Höflichkeit noch, trotz aller Behauptung, strictu sensu zum Bezirk der Herrschaft gehören und bei ­denen vor allem die sittenverderbende Funktion nicht ohne Weiteres plausibel gemacht werden kann. Hierzu hätte sich Rousseau auch mit Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes (1688–1697, 4 vol.) auseinandersetzen müssen, auf die er in gewissem Sinn, wenn auch nur implizit antwortet. Gelingen kann Schlüssigkeit nur auf einer höheren Ebene der Allgemeinheit, indem Politesse, Arts und Sciences als Resultate eines seit dem Ausgang aus der Natur wirkenden Zivilisierungsprozesses begriffen werden, der nicht nur in seiner höfischen Form, sondern wegen seiner die Authentizität gesellschaftlicher Beziehungen ver- bzw. überformenden Wirkung ganz grundsätzlich zu verwerfen sei. Hierzu verlagert er seinen Blick bis an den Anfang der Geschichte zurück und formuliert eine Antithese von Natur und Kultur, der er, wenigstens ansatzweise, eine Verlaufsdimension gibt, wenn er davon spricht, dass »unsere Herzen sich in dem Maße korrumpiert haben, wie unsere Wissenschaften und unsere Künste zur Perfektion fortgeschritten sind« ([…] nos âmes se sont corrompues à mesure que nos sciences et nos arts se sont avancés à la perfection, Éd. cit., S. 6). Dieser im Ansatz dialektischen Denkfigur, fehlt noch der erst im zweiten Discours schlüssig werdende Entwicklungsgedanke, weswegen der ­gesamte erste Discours zwangsläufig stark von Antithesen lebt und Rousseau den Naturzustand folgerichtig nur in der Tradition der Idylle bzw. des Goldenen Zeitalters beschreiben kann: »[…] die Einfachheit der Zeiten des Anfangs. Das ist ein schönes Ufer, geschmückt allein von den Händen der Natur, zu dem man unaufhörlich blickt und von dem man sich mit der Empfindung des ­
Bedauerns entfernt.«38

Die wissenschaftskritische Disposition Rousseaus um 1750 hat man erst in jüngster Zeit deutlicher herausgearbeitet. Zu notieren ist zunächst, dass dem Text des ersten Discours zwar eine systematische sachliche Auseinandersetzung mit der Wissenschaft abgeht, diese aber im Rahmen einer negativen Anthropologie (»les hommes sont pervers«) doch breiteren Raum findet, wobei sie nicht an der Wahrheit ihrer Aussagen, sondern an moralischen Kriterien gemessen wird. So geraten die Römer in die Dekadenz, als sie begannen, die Tugend zu studieren, statt sie zu praktizieren. Wenn sich in Rom die Philosophen und Rhetoren versammeln, geht die militärische Tugend zugrunde. Seneca wird mit der Aussage zitiert: Postquam docti prodierunt, boni desunt (ep. XCV). Die Natur habe, so heißt es, die Völker vor der Wissenschaft bewahren wollen, wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Armen eines Kindes reißt. Die Geheimnisse, die sie vor den Menschen verbirgt, sind ebenso viel Übel, vor denen sie sie schützt. Die Wissenschaften und die Artes sind letztlich eine Folge unserer Laster: Die Astronomie entsteht aus dem Aberglauben, die Beredsamkeit aus dem Ehrgeiz, dem Hass, der Schmeichelei und aus der Lüge; die Geometrie aus der Habgier, die Physik aus leerer Neugier. Alle Wissenschaften, und selbst die Ethik, gründen nur im Stolz bzw. der Überhebung des Menschen. Man hat Physiker, Geometer, Chimisten, Astronomen, Poeten, Musiker, Maler. Aber »man hat keine Staatsbürger mehr« (nous n’avons plus de citoyens, Éd. cit., S. 20). Diese Art der anthropologischen Herangehensweise an die Wissenschaften, die ja nicht zuletzt Condorcet als Negativfolie diente, ist jedoch nicht allein, wie man vermuten könnte, dem rhetorischen Effekt geschuldet. Wie eine jüngere Studie zeigen konnte,39 belegt eine als Manuskript überlieferte Mitschrift Rousseaus der Vorlesungen zur Chemie von François Rouelle aus dem Jahr 1747, wie dieser am Beispiel des Arsenabbaus und seiner verheerenden Folgen für Fauna, Flora wie für die damit befassten Arbeiter das Spannungsverhältnis von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik schon vor seiner Antwort auf die Preisfrage im Auge hat, eine Perspektive, die er auch in einem späteren Text aus dem Mercure de France (Juli 1753) zur toxischen Gefährlichkeit des Kupfers verstetigt. Bei diesen Ausführungen zur poten­tiellen Schädlichkeit von Giftstoffen sei, so Enskat, für Rousseau die praktisch-politische Urteilsfähigkeit des Bürgers von weit größerer Bedeutung als die wissenschaftsbasierte und sachlich wie methodisch reflektierte Urteilsfähigkeit des Forschers. Ist dies richtig, wofür vieles spricht, bezöge Rousseau also nicht nur, wie gezeigt, Stellung gegen eine Ausrichtung am Kommunikationsstil der herrschenden Eliten, sondern indirekt auch gegen den Wissenschaftsstil Diderots und d’Alemberts. Bei solcher Zuspitzung darf indes nicht aus dem Blick geraten, dass die Encyclopédie, diezuvörderst auf den Stammbaum der Wissenschaften, die Überprüfung bisherigen Wissens und auf die Verbreitung von Aufklärung setzt, diesen Standpunkt, wie oben angezeigt, durchaus mit der Kritik an Despotismus und religiöser Intoleranz verband, es also weniger um einen radikalen Gegensatz von Wissenschaft und Moral bzw. Politik gehen kann, als um zwei Richtungen der Aufklärung, welche deren Verhältnis unterschiedlich akzentuierten und konfigurierten. Auch scheint Rousseau, der bei seiner Wissenschaftsschelte einige unabhängige Geister wie Bacon, Descartes und Newton doch gelten lässt, zunächst die Beraterfunktion des Philosophen gegenüber der Macht nicht völlig auszuschließen und lobt auch die Einrichtung von Akademien durch den Monarchen nicht zuletzt deswegen, weil sich die Wissenschaftler dort wechselseitig überprüfen, sie sich der Aufnahme würdig erweisen und dies durch nützliche Werke wie vorbildliche Sitten beweisen wollen. Wie ernst Letzteres gemeint ist, sei dahingestellt. Denn er will ja den Preis gewinnen. Authentischer scheint die Schlusspassage der Schrift, in der sich die Haltung des Experten in eine demokratische Gebärde auflöst, in der insinua­torisch Volk, Tugend, Wissenschaft und »wahrhafte Philosophie« (»véritable philosophie«) in eins fallen.


3. Wirkung


Abschließend sei ein kurzer Blick auf die Wirkungsgeschichte der hier skizzierten Grundpositionen geworfen. Condorcets Position, die von Auguste Comte befestigt und geschichtsphilosophisch durch das Dreistadiengesetz von theologischem, metaphysischem und positivem, d. h. wissenschaftlichem Zeitalter untermauert wird, ist in Frankreich durch das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus in Geltung. In der Dritten Republik ist der Verbund von Fortschritt, Wissenschaft und Moral gleichsam Staatsdoktrin. Eine elaborierte Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften wie in Deutschland, kennt Frankreich nicht.40 Um 1900 gerät diese Fortschrittsauffassung in eine erste größere Krise. Der Formel vom »Bankrott der Wissenschaft«, wie sie etwa Ferdinand Brunetière, ein konservativer Katholik und Literaturhistoriker, vorträgt,41 hat man zunächst wenig mehr als Beharrung entgegenzusetzen. So formulierte der Chemiker und Bildungspolitiker Marcellin Berthelot, ein bedeutender Vertreter des Positivismus zur selben Zeit noch, dass der »universelle Triumph der Wissenschaft den Menschen ein Maximum an Glück und Moralität sichern werde« (que le triomphe universel de la science arrivera à assurer aux hommes le maximum de bonheur et de moralité42). Wichtiger als der Angriff aus den Gesellschaftswissenschaften ist für die durchaus spürbare allgemeine Verunsicherung jedoch der innere Impuls aus den Naturwissenschaften selbst, so durch die Evolutionstheorie, die das mechanische Fortschrittsdenken ebenso schwächt wie die neuen Forschungsresultate in der Physik.43 Henri Poincaré spricht 1905 in La valeur de la science von einem Ruinenfeld, in dem die Grundideen Newtons und Lavoisiers nicht mehr gälten. Er selbst nimmt in seinen Forschungen Vorstellungen der Relativitätstheorie vorweg. Zirkulierte die Fortschrittsidee bisher reibungslos zwischen Wissenschaften, Moral, Gesellschaft, Republik und Demokratie, so erlauben die neuen Einsichten und offenen Fragen, die selbstverständlich nicht nur das französische Wissenschafts- und Geistesleben berührten, hier aber besondere Wirkung zeitigten, keine vereinfachenden Diskurswanderungen dieser Art mehr. Für die Naturwissenschaften gibt diese Verunsicherung, dies sei hinzugefügt, Anlass zum Blick zurück auf die eigene Geschichte. Es instituiert sich das Paradigma der Wissenschaftsgeschichte. 


In den sich zu Disziplinen formenden Geistes- und Sozialwissenschaften geht nun der Blick ebenfalls weg vom Zeit- bzw. Fortschrittspfeil und grundsätzlich in die Tiefenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausdifferenzierung und ihrer Fähigkeit zur sachlichen und moralischen Kohäsion. Diese Problematik reflektiert besonders das Werk von Émile Durkheim. In De la division du travail social. Étude sur l’organisation des sociétés supérieures von 1893formuliert er als einer der Ersten den Zusammenhang von Individualisierung und Vergesellschaftung, indem er die Frage aufwirft, wie es komme, dass das Individuum immer autonomer werde und zugleich immer mehr von der Gesellschaft abhänge, zwei Bewegungen, die gegensätzlich schienen und doch parallel verliefen.44 Um seinen Denkansatz eines notwendigen social engeneering zu plausibilisieren, zielt er dann auf die Außerkraftsetzung der wesentlichen Prozesslogiken der kapitalistischen Konkurrenz wie Arbeitslosigkeit, Überproduktion, Wirtschaftskrisen etc. und setzt zur Stiftung des gesellschaftlichen Zusammenhangs auf eine säkularisierte 
Moral.


In beiden genannten Fällen aus den Natur- und Sozialwissenschaften wird zugleich das Fortschrittsparadigma als ein Teil des Erbes der Aufklärung brüchig. Blickt man auf die weitere Geschichte des 20. Jh. so ist evident, dass es zwar weiterhin seine Verfechter findet, die kritischen Positionen zur Entwicklung der westlichen Zivilisation jedoch sukzessive Oberhand gewinnen: so mit Adornos/Horkheimers in der Dialektik der Aufklärung vorgetragenen Kritik an der instrumentellen Vernunft, die alles vermisst und bemisst und dem ­Inkommensurablen keinen Platz mehr lässt, oder mit Foucaults Nachfolge der Frankfurter Schule, nun, im Geiste Nietzsches, welche die lebensphilosophische Kritik an der Vernunft zu erneuern sucht. In beiden Konzeptionen der Vernunftkritik45 wird das Zeitalter der Aufklärung seiner kritischen Funktion gegenüber dem Ancien Régime entleert und als Epoche der Abrichtung 
der Subjekte sowie die Wissenschaft als deren Helfer in Gefängnissen, Administrationen und Psychiatrieanstalten in ein a priori negatives Licht gerückt. Negative Dialektik und die Revolte der Lüste sind die weltanschaulich-politischen Kennzeichen dieser Art der Kritik. Ihr Stammvater Rousseau bleibt in der Vernunftkritik eher außer Betracht, wiewohl er zu den allerersten Theoretikern der Vermachtung von Wissen gehörte, bereits den Zusammenhang von Wissenschaft und Herrschaft herauspräparierte und selbst eine für die Zeit durchaus vorbildliche kritische Analyse des Zusammenhangs von Ökonomie, Macht, Gesellschafts- und Kulturentwicklung vorgelegt hat. Diese ›Leerstelle Rousseau‹ ist vermutlich kein Zufall, stört sie doch das Bild einer zwangs­bewehrten Aufklärung ohne kritische Einrede, das die Vernunftkritik benötigt, um ihr symbolisches Kapital zu schützen. Eine »Selbstaufklärung der Aufklärung«, wie sie im Dialog zwischen dem Fortschrittsparadigma und der Kulturkritik bereits im 18. Jahrhundert stattfand, ist in dieser Tradition nicht vorgesehen.


Schreibt man das Rezeptions- und Wirkungstableau noch weiter bis an das Ende des letzten Jahrtausends, so scheinen etwaige geschichtsphilosophische Äußerungen auch weiterhin eher der Linie der Kulturkritik als der des Fortschrittsoptimismus zuzuneigen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich offenbar das Konzept der Freiheit und die auf ihr gründende Wirtschaftsweise in der Form wie in der Legitimationsweise nachhaltig zu verändern beginnen. Eine sich mit der Globalisierung weiter verdichtende Vergesellschaftung, die Verengung natürlicher Ressourcen wie eine sich extrem zuspitzende Konzentration von Reichtum und Macht gehören zu den wesentlichen sozialen Kennzeichen dieser Entwicklung. Zu ihren wesentlichen politischen, diskursiven und kulturellen Kennzeichen gehört, so die hier vertretene These, die seit rund zwei Dezennien verstärkt beobachtbare Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang. Mit der nach 1989 Platz greifenden Universalisierung des Freiheitsdiskurses vereinheitlichen sich paradoxerweise die semantischen Anforderungen an das Verhalten von bisher getrennten Bereichen wie Arbeit und Freizeit (Flexibilität, Emphasezwang), verwischen sich Leistung und Dienstleistung (mitarbeitender Kunde), fallen Individualisierung und Vergesellschaftung zusammen. Schließlich wachsen derart auch die Anforderungen an alle Subjekte zur ökonomischen und mentalen Selbstregierung (Gouvernementalität). Sichtbarster Ausdruck dieser Tendenzen ist die Figur des mit Regulierungsmaßnahmen erzwungenen Unternehmers seiner selbst, in der auch das Paradox verordneter Freiheit besonders deutlich zum Ausdruck kommt, 


Diese Tendenz zu einer in den Freiheitsdiskurs fundamental eingelassenen Prekarisierung der Subjekte und zu ihrer auf Dauer gestellten, in den Formen meist mittelbaren, Regulierung betrifft auch die Wissenschaften und die technischen Möglichkeiten. Wissensschübe, wie etwa in der Genforschung, bringen unter den gegebenen Bedingungen eine Widerspruchssituation von größeren Möglichkeiten und bedrohlicher Beschränkung in den physischen Grundlagen des Menschen hervor. Ähnliches gilt für die Effekte der Kommunikationstechnologien und der Digitalisierung, die neben schnellerem und freierem Zugang zu Personen und Wissen zugleich eine Intensivierung der Kontrollierbarkeit mit sich führen.


Zunehmend wird die Globalisierung der Freiheit zum Argument der Notwendigkeit ihrer Einschränkung. Fortschritt, wo er, wie etwa beim Wachstum, gelegentlich noch beschworen wird, wird derart tatsächlich zu einem toten Stern. Man greift zur Deutung unserer Gegenwart derzeit jedenfalls mit mehr Erkenntnisgewinn zu Rousseau als zu Condorcet. Die Hypothese, wir befänden uns in einer qualitativ neuen Stufe des Modernisierungsprozesses, bietet sich in dieser Sicht fast zwangsläufig an. Wagt sich jemand, wie jüngst etwa der Luhmann-Schüler Dirk Baecker, noch einmal an eine geschichtsphilosophische Diagnose, so fällt der entsprechende Suhrkamp-Titel mit Studien zur nächsten Gesellschaft (2007) indes eher vorsichtig bzw. wenig aussagekräftig aus. Vermutlich zeigt auch hier die Postmoderne, die mit Lyotard die Aufklärung für beendet erklärte und keine große Erzählung mehr zulassen wollte, einmal mehr ihre Wirkung. Ob die Aufklärung, zu der Rousseau unstreitig gehört, ihre Geltung tatsächlich verloren hat und ob bzw. wie die Wissenschaften den Zusammenhang von Individualisierung und Vergesellschaftung technisch und moralisch noch als Fortschritt denken könnten, darüber wäre füglich zu debattieren.


  1. 1Geringfügig überarbeiteter und um Fußnoten ergänzter Vortrag, gehalten im Rahmen der Kommission »Wissenschaft und Werte« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig vom 9.11.2012.
  2. 2Vgl. Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. /New York 1987.

  3. 3Im deutschsprachigen Raum rechnen hierzu die Vertreter der Culturgeschichte, wie z. B. Isaak Iselin, Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit, 
2 Bände, Frankfurt und Leipzig, zuerst 1764 anonym erschienen, 2. Auflage: Zürich 1768; zu Herders uneindeutigem Fortschrittsbegriff vgl. neuerdings Anne Löchte, Kulturtheorie und Humanitätsideen der »Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea«, Würzburg 2005.

  4. 4Dt.:Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (1750), hg. von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt a. M. 1990 (stw 657).

  5. 5Dt.: »Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes«.

  6. 6The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie 1775–1800, Cambridge (Mass.) / London 1979; dt.: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Enzyklopädie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn, Berlin 1993 (gekürzte Ausgabe).

  7. 7PROGRÈS: Mouvement en avant; leprogrès du soleil dans l’écliptique; le progrès du feu; le progrès de cette racine. Il se prend aussi au figuré, et l’on dit faire des progrès dans un art, dans une science.

  8. 86 Ein Relativismus des Urteils erscheint theoretisch zuerst in ästhetischen Fragestellungen, so in den auf die subjektive Empfindung abhebenden sowie auf klimatheoretische Erwägungen basierendenRéflexions sur la poésie et la peinture des Abbé Dubos von 1719 und später vertieft bei Diderot im Artikel »Beau« der Encyclopédie. Vgl. hierzu Vf., »Kunst und Kritik«, in Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 2, hg. von Helmut Holzey und Johannes Rohbeck, Basel 2008, S. 755–796 und neuerdings Kristin Reichel, Diderots Entwurf einer materialistischen Moralphilosophie (1745–1754) methodische Instrumente und poetologische Vermittlung, Würzburg 2012.

  9. 97 Über die Bibelkritik gewinnt seit Bayle aber langsam ein hermeneutisches Textverständnis Boden, das vor allem im deutschen Sprachraum mit Semler und Schleiermacher weiter vorankommt und in der entstehenden Geschichtswissenschaft mit dem »Sehepunkt« bei Chladenius den Fortschrittsgedanken im Blick auf die wissenschaftliche Erkenntnis in der Tendenz der Relativierung aussetzt. 

  10. 10Perrault bezog seine Fortschrittsidee noch in starkem Maße aus der Hofkultur von Louis XIV. 

  11. 11Die Sorbonne erlebt genau um diese Zeit mit der Affäre des Abbé de Prades den ersten Einbruch der Aufklärungsphilosophie in ihre sorgsam gehüteten philosophischen Bastionen. Prades hat erhebliche Schwierigkeiten mit seinem Dissertationsverfahren, sieht seine Doktorarbeit kurz darauf verbrannt und muss als Verfasser des Artikels »certitude« derEncyclopédie an den preußischen Hof Friedrichs II. fliehen. Vgl. John S. Spink, »Un abbé philosophe: l’affaire de J.-M. de Prades«, in Dix-huitième siècle 3 (1971), S. 145–180 und Simone Goyard-Fabre, »Diderot et l’affaire de l‘abbé Prades«, in Revue philosophique de la France et de létranger, 1984, S. 287–309.

  12. 12»Les mœurs s’adoucissent, l’esprit humain s’éclaire, les nations isolées se rapprochent les unes des autres […] la masse totale du genre humain […] marche toujours, quoique à pas lents, à une perfection plus grande.«

  13. 13Sein Denkansatz zu einer stadialen Geschichtsphilosophie jedoch (Kindheit, Jugend etc.), der bei Vico in derScienza Nuova (1730 u. posth. 1744), theoretisch schon weiter getrieben war, wird in Frankreich vorerst nicht aufgenommen. Vermutlich ist hier das Erbe des einlinigen Fortschrittsbegriffs aus der Querelle des Anciens et des Modernes zu stark.

  14. 14Vgl. Vf., »Das französische Kulturmodell um 1800 im Spiegel der Querelle des Anciens et des Modernes«, in Lothar Ehrlich und Georg Schmidt (Hg.), Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 195–216.

  15. 15Cinq mémoires sur linstruction publique, Paris 1994 (1792).

  16. 16»La vérité a vaincu; le genre humain est sauvé. Chaque siècle ajoutera de nouvelles lumières à celles du siècle qui l’aura précéde; et ces progrès, que rien désormais ne peut arrêter et suspendre, n‘auront d’autres bornes que celles de la durée de l’univers.«, zit. nachEsquisse (im Folgenden Éd. Pons), Paris 1988, »Introduction«, S. 24/25 (Ü: V f.). In der wissenschaftsgeschichtlichen Situierung greife ich im Folgenden auf die Ausführungen von Pons (»Introduction«, S. 17–78) sowie auf meine Studie in Fn. 14 zurück.

  17. 17Ebd., S. 28; dem Wissenschaftler neuer Art muss man noch den Gelehrten älteren Zuschnitts vorschalten.

  18. 18»L’homme naît avec la faculté de recevoir des sensations.«, Éd. cit., S. 79.

  19. 191749–1833.

  20. 20Die absolute, uneingeschränkte Emphase signalisierende Verwendung des Begriffs Fortschritt als politisch-gesellschaftliche Losung im Singular ist erst ein Resultat der dritten Republik, jedoch kommt Condorcets Zukunftsbild einer Gesellschaft, die »mit festem Schritt auf der Strasse der Wahrheit, der Tugend und des Glücks einhergeht« (»marchant d’un pas ferme et sûr dans la route de la vérité, de la vertu et du bonheur«, Éd. cit., S. 296) sehr nahe an diese Vorstellung. Zur Begriffsgeschichte vgl. neuerdings Pierre-André ­Taguieff, Le Sens du progrès. Une approche historique et philosophique, Paris 2004.

  21. 21Éd. Pons, S. 266.

  22. 22Diese These von der zivilisatorischen Mission, nun Frankreichs, prägt bekanntlich im 19. und 20. Jh. die französische Kolonialpolitik und ihre Legitimation. Vgl. Karl Epting, Das französische Sendungsbewusstsein im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1952.

  23. 23Ou efforts combinés de l’espèce humaine pour le progrès des sciences, Éd. Pons, S. 299–348.

  24. 24Zu den kulturphilosophischen Implikationen der Position Rousseaus vgl. meinen Artikel »Rousseau«, in Ralf Konersmann (Hg.), Handbuch der Kulturphilosophie, Stuttgart 2012, S. 60–70, auf den ich hier in einigen Aspekten zurückgreife. 

  25. 25Éd. Pons, S. 81.

  26. 26Dies vermerkt Saint-Preux im Briefroman derNouvelle Héloïse in einem Billet an seine Geliebte Julie: »Chère amie, ne savez-vous pas que la vertu est un état de guerre …«, Brief VII, 6. Teil.

  27. 27Der zweite Discours wird zitiert nach der zweisprachigen, von H. Meier edierten und kommentierten Ausgabe, 5. Aufl., München 2001 (im Folgenden Ed. Meier), hier, S. 102.

  28. 28Ed. Meier, S. 104.

  29. 29Il me reste à considerer et à rapprocher les différents hazards qui ont pu perfectionner la raison humaine, en détériorant l’espèce, rendre un être méchant en le rendant sociable, et d’un terme si éloigné amener enfin l’homme et le monde au point où nous les voyons., ebd., S. 166.

  30. 30Jean Starobinski und Jean-Jacques Rousseau, La transparence et l’obstacle, Paris 1971 (dt.: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München/Wien 1988).

  31. 31Der Originaltitel lautet: Discours qui a remporté le prix à l’académie de Dijon. En l’année 1750. Sur cette question: Si le rétablissement des sciences et des arts a contribusé à épurer les mœurs. Par un citoyen de Genève. – Barbarus hic ego sum quia non intellegor illis, Ovid.

  32. 32Vgl. hierzu den Apparat der Ausgabe derŒuvres complètes Rousseaus in den Éditions de la Pléiade sowie die Abteilung »La polémique« in, Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts. Lettre à d’Alembert, hg. von Jean Varloot, Paris 1987, S. 77–136.

  33. 33Dieser befindet sich wegen unbotmäßiger Publikationen im Gefängnis.

  34. 34Vgl. hierzu Vf., »Politesse und Kulturkritik: Rousseaus Erster Discours im Kontext«, in Anne Amend-Söchting u. a. (Hg.), Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen (Festschrift D. Rieger), Heidelberg 2002, S. 391–403.

  35. 35Zitiert nachDu Contrat social, Paris 1962, S. 3.

  36. 36»Le besoin éleva les trônes, les sciences et les arts les ont affermis. Puissances de la terre, aimez-les talens et protégéz ceux qui les cultivent. Peuples policés, cultivez-les: heureux esclaves, vous leur devez ce gout délicat et fin dont vous vous piquez, cette douceur de caractère et cette urbanite de mœurs qui rendent parmi vous le commerce si liant et si facile; en un mot, les apparences de toutes les vertus sans en avoir aucune.«, ebd., S. 4 (Ü: Vf.).

  37. 37Er folgt ihm, wie das Zitat zeigt, auch im Begriff der mœurs, der verallgemeinernde Begriff der Civilisation, der erst 1756 erscheint, steht ihm noch nicht zur Verfügung.

  38. 38»[…] la simplicité des premiers temps. C’est un beau rivage paré des seules mains de la nature, vers lequel on tourne incessament les yeux, et dont on se sent éloigner à regret.«, Éd. cit., S. 16 (Ü: Vf.).

  39. 39Rainer Enskat, »Was ist Aufklärung? Wie Rousseau und Diderot im Dialog einige Bedingungen der Aufklärung klären«, in Henning Krauß u. a. (Hg.), Psyche und Epochennorm, Heidelberg 2005, S. 17–54.

  40. 40Während in Deutschland mit Dilthey diese Trennung auch theoretisch-methodisch Folgen hat und sich im Gegensatz von Erklären und Verstehen artikuliert, behält in Frankreich der Positivismus die Oberhand und tritt, so in den Literaturwissenschaften, das Problem der subjektiven Standortgebundenheit als außerwissenschaftliche und streng zu kontrollierende ›Fehlerquelle‹ an die Literaturkritik ab. Vgl. hierzu die theoretischen Arbeiten von Gustave Lanson aus dieser Zeit:Méthodes de l’histoire littéraire, Paris 1925, Genf 1979.

  41. 41Ferdinand Brunetière, Après le procés. Réponse à quelques ›Intellectuels‹, Paris 1898, S. VI.

  42. 42Marcellin Berthelot, La science et la morale, Paris 1895.

  43. 43Vgl. hierzu Anne Rasmussen, »Critique du progrès, ›crise de la science‹: débats et représentations du tournant du siècle«, inMil neuf cent, Année 1996, No 14, S. 89–113. 

  44. 44»Comment se fait-il que, tout en devenant plus autonome, l’individu dépend plus étroitement de la société? Comment peut-il être à la fois plus personnel et plus solidaire? Car il est incontestable que les deux mouvements, si contradictoires qu’ils paraissent, se poursuivent parallèlement.«

  45. 45Vgl. hierzu Vf., »Zur Prekarität der Aufklärung. Vernunftkritik und das Paradigma der Anthropologie (Taine, Horkheimer / Adorno, Foucault, Lyotard)«, in Hans Adler und Rainer Godel (Hg.), Formen des Nichtwissens in der Aufklärung, München 2010, S. 45–67.
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Heft 10 (2013)
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