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Künste im geteilten Deutschland. Eine Erinnerung1

Eine Art Festvortrag soll ich halten. Mir wird angst und bange. Ein Vortrag am Vorabend einer Tagung, die den – wie ich hoffe, verdienstvollen und, wie ich sicher bin, sinnvollen und notwendigen – Versuch unternimmt, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Entwicklung der Künste im geteilten Deutschland zu fragen und Antwort zu finden im Blick auf, wie ich gelesen habe, alle Künste und in einem ganzheitlichen Zugriff, was mehr ist als die Frage nach Lenkung und Autonomie und Zensur – nach einem ganzheitlichen Zugriff verschiedenster Wissenschaften. Respekt! Es ist wirklich an der Zeit für diesen Versuch – 23 Jahre nach der staatlichen Vereinigung. 


Aber was kann ich dazu beitragen? Das politische Weltkind, dessen einzige mögliche Kompetenz darin besteht, einmal teilnehmender kritischer Beobachter des DDR-Kulturlebens gewesen zu sein und nun seit gut 20 Jahren kritischer teilnehmender Beobachter des öffentlichen Umgangs mit diesem Teil seiner – und der Deutschen insgesamt – Geschichte. »Staatskünste«, »DDR-Künste« oder »Künste in der DDR«, »aus der DDR« – was sind die angemessenen Bewertungsmaßstäbe, welches die angemessenen Urteile und Begriffe für diese Erbschaft? Auch die DDR ist eine Geschichte, die nicht vergeht, und das gilt irgendwie auch für die Kultur, die in ihr entstanden ist. Tot ist sie jedenfalls nicht oder wenigstens nicht ganz, nicht in ihrer Gänze, wenn ich den Streit der vergangenen 23 Jahre richtig verstehe. Da ist noch – im Guten wie im Schlechten, im Richtigen wie im Falschen – einiges abzuarbeiten oder besser, um im anderswo passenden Sprachgebrauch zu bleiben, aufzuarbeiten.


Ich erlaube mir also einige unsystematische Rückblicke und subjektive Betrachtungen auf die Künste im geteilten Deutschland und vor allem auf den Umgang mit den Künsten aus der DDR im vereinigten Deutschland.


Erstens: Seit ich in der Politik bin, seit 1990, laufe ich als Wanderprediger durch das Land mit der Aufforderung, der flehentlichen Bitte: Ihr Westdeutschen und ihr Ostdeutschen, erzählt euch wechselseitig eure Lebensgeschichten! Dann werdet ihr wahrnehmen und begreifen, dass die einen nicht nur strahlende Helden- und Siegergeschichten hinter sich gebracht haben und die anderen nicht nur traurige Schurken- und Verlierergeschichten. Dann werdet ihr sehen, dass Schwarz und Weiß, Grau und Bunt nicht nach der Systemgrenze aufgeteilt sind. Dann werdet ihr Westdeutschen etwas für das künftige Zusammenleben Entscheidendes lernen, nämlich zu unterscheiden. Zu unterscheiden zwischen dem Urteil über das System namens DDR – realer Sozialismus, Kommunismus (wie immer) – das zusammengebrochen, das gescheitert ist, einerseits, und andererseits dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, die Biografien, die darin gelebt worden sind und die nicht, jedenfalls nicht alle, gescheitert sind, gescheitert sein dürfen. Die DDR war gewiss eine Diktatur auch übrigens der Selbst-
definition nach. Sie war kein Rechtsstaat, sie war ein System der Mangelwirtschaft usw. usf., aber sie war auch eine Notgemeinschaft ihrer Bürger gegen den Staat und seine Zudringlichkeiten, gegen die Mangelwirtschaft. 


Ist diese wünschenswerte, notwendige Unterscheidung des Urteils zwischen System und Biografie massenhaft gelungen, bestimmte sie die öffentliche Vergangenheitsdebatte? Das ist, aber vielleicht widersprechen Sie mir, nicht mein Eindruck. Und natürlich weiß ich auch, dass die Trennung nicht gänzlich möglich ist: Systeme werden ja schließlich von Menschen gemacht, exekutiert, am Leben gehalten oder – eben wie 1989/1990 – gestürzt. Trotzdem: Die Unterscheidung bleibt wichtig. 


Denn bisher, ich übertreibe, bestimmten die Geschichten von Feigheit und Verrat, also die Faszination durch IM, die Stasi, den öffentlichen Erregungsdiskurs in unserem Lande. Das mag verständlich sein, wenn man an die menschliche Neugier und das Unterhaltungsbedürfnis denkt, die der mediale Markt zu befriedigen hat, oder an die Betroffenen, die Opfer, die verständlicherweise wissen wollen, wer es gewesen ist. Was soll’s? Es war halt so, es ist halt so. Genau so aber entsteht und bestätigt sich immer wieder: Wer eine Diktatur überlebt hat, der ist schuldig, zumindest verdächtig. 


Anpassung, Opportunismus, partielles Mitmachen oder auch nur Schweigen, Nicht-Heldentum, Feigheit gar, Zurückziehen in die Nische – all das sind menschliche Verhaltensweisen, die in beiden Systemen verbreitet waren und sind. Sie sind in Ost und West von gleicher Quantität, vermutlich wohl auch von gleicher menschlicher Qualität, gelebt worden. Aber, das ist der gravierende Unterschied: Anpassung, Opportunismus, Feigheit können in einer Diktatur wesentlich schlimmere Folgen haben als in einer Demokratie. Das aber ist ein Systemunterschied mit weitreichenden Folgen für die Biografien.


Zweitens: Was haben diese vielleicht verqueren Bemerkungen mit den Künsten zu tun? Geht es in der Kultur vielleicht und überhaupt nicht viel edler und heroischer zu? Die Art und Weise, wie Künste und Künstler aus der DDR vor und nach der Vereinigung bewertet und behandelt wurden, scheint mir das nicht nahezulegen. Es waren ja politisch-moralische Bewertungen, die dominierten. Es ging weniger um differenzierte ästhetische Urteile, sondern mehr um moralisches, politisches Verhalten. Häufig waren es auch nachgeholte Auseinandersetzungen, die zu DDR-Zeiten nicht geführt werden konnten. Sie waren vermutlich auch so heftig, weil wirklich erlittenes Unrecht endlich zur Sprache kommen musste. Verletzungen saßen tief, alte Wunden waren nicht geheilt, Verratsvorwürfe mussten aufgeklärt werden. Erinnert sei an zwei Beispiele: an die schmerzliche, langwierige Vereinigung der beiden PEN-Zentren und die der beiden Berliner Akademien der Künste. 


Zur Erinnerung an die Künste im geteilten Deutschland gehören eben auch die Erinnerungen an die Auseinandersetzungen über die geteilten Künste nach der politischen Vereinigung, die teilweise so heftig waren, dass man meinen konnte, die kulturelle Vereinigung sei noch viel schwieriger als die politische, wirtschaftliche, soziale, ja, sie könne gar misslingen! Erinnert sei nur an zwei Beispiele. 


Erstes Beispiel: Der Streit um Christa Wolf. Ihre Bücher boten zu DDR-Zeiten viel Stoff für kritische Debatten. Vom »Nachdenken über Christa T.«, »Kindheitsmuster«, »Kein Ort. Nirgends« bis hin zu »Kassandra« boten sie Themen und Fragen, über die wir aufs Heftigste miteinander in der DDR und auch im Westen Deutschlands diskutiert haben. Die Autorin verweigerte sich glaubhaft den einfachen Erklärungen, ihre leise beharrliche Wahrhaftigkeit war uns Anspruch und Widerspruch gegen ideologische Verkommenheit und zugleich auch Ermutigung. Sie wurde ja im Osten von den Lesern verehrt und auch mit Staatspreisen ausgezeichnet. Im Westen wurde sie hofiert, mit Ehrungen und Preisen bedacht, in den Feuilletons gefeiert. Und nach 1989 dann das genaue Gegenteil: Christa Wolf wurde als Staatsschriftstellerin gebrandmarkt, teilweise von jenen, die sie zuvor bejubelt hatten. Sollte sie sich also für ihr Leben im falschen System entschuldigen? Welche Anmaßung!


Ein zweites Beispiel, was ich ausführlicher erläutern will: Der endlos lange Bilderstreit, beginnend mit der harschen Kritik von einigen der Weggegangenen an den Dagebliebenen mit der forschen Unterstellung, jede erfolgreiche Kunst im Osten sei ideologisch manipuliert. Dieser Vorwurf gipfelte in Georg Baselitz’ bekannter Zuspitzung »… es gibt keine Künstler in der DDR«. Und er hatte drastisch hinzugefügt, Künstler aus der DDR seien »ganz einfach Arschlöcher«.


»Wie feindliche Brüder waren die Künste im geteilten Deutschland Jahrzehntelang negativ aufeinander fixiert«, so schrieb es Eckhart Gillen in seinem Band über den Kalten Krieg und die deutsche Kunst. Diesen Kalten Krieg wieder loszuwerden, aus den Köpfen rauszukriegen, war offensichtlich nicht einfach. Dass nach der Provokation von Georg Baselitz die Vereinigung der Erinnerungen in der Welt der Künste erheblich belastet und konfliktreich war, lässt sich nachvollziehen, zumal sich dieser Streit als gefundenes Fressen für die Feuilletons erwies.


Angesichts dieser schrillen Tonlage meinte z. B. Eduard Beaucamp, »auf keinem anderen Sektor (sei) der Gegensatz so fundamental und erbittert (gewesen), wie auf dem der Bildenden Kunst«. Und er fügte hinzu: »Trotz mancher Entspannung lässt sich auch 20 Jahre nach dem Mauerbruch noch immer nicht resümieren, dass eine faire Vereinigung der beiden Künste stattgefunden habe. Man hat sich westlicherseits zur Akzeptierung jener grundlegend anderen Erfahrungen, Folgerungen, Entscheidungen, die im Osten aus der Kunstgeschichte der Moderne gezogen wurden, zu entschließen. Sonst wird der immense Gewinn der Wiedervereinigung verspielt. Der westliche Horizont wird dadurch nicht nur ergänzt, sondern fundamental erweitert«, so Beaucamp 2009/2010. 


Dabei fällt es doch gerade im Bereich der bildenden Künste schwer, beide »Welten« – Ost und West – scharf voneinander zu trennen. Die westdeutsche Kunstentwicklung ist wesentlich beeinflusst von Künstlerinnen und Künstlern, die in der DDR gelebt haben, zum Teil dort ausgebildet wurden. Ich zähle nur ein paar Namen auf: Sigmar Polke, Übersiedlung 1953, Gotthard Graubner, Übersiedlung 1954, Georg Baselitz, Übersiedlung 1958, Gerhard Richter, Übersiedlung 1961, A. R. Penck, Übersiedlung 1980, Ralf Kerbach, Übersiedlung 1982, Volker Stelzmann, 1986, usw. usf. Was wäre die westdeutsche Kunstszene ohne den Beitrag dieser ostdeutschen Brüder und Schwestern? 


Vielleicht erinnern Sie sich an die Aufregung im Jahre 1998 um die Kunstaufträge für den neuen Bundestag in Berlin: Wer soll, wer darf ins Parlament? Die großen westdeutschen Künstler? Selbstverständlich! Ostdeutsche Dissidenten wurden berücksichtigt. Gut so! Nach heftigem Streit auch Bernhard Heisig mit einem dramatischen Geschichtspanorama. Wolfgang Mattheuer wurde erst nachträglich um einen Beitrag gebeten. Bei der Auswahl der Künstler für den Bundestag ging es nicht nur um Kunst, selbstverständlich, sondern gewiss auch um Geschichtspolitik. Sie blieb lange nach der friedlichen Revolution ein brisantes Feld der öffentlichen Debatte. Und es dauerte, bis auch in den Feuilletons nicht mehr nur pauschal von »Auftragskunst«, sondern von »Kunst aus der DDR« gesprochen wurde. Dass dies ein steiniger Weg war, lässt sich auch an den großen Ausstellungen und Debatten der 90er Jahre ablesen. 


Als 1993 in der Neuen Nationalgalerie Berlin Arbeiten aus dem Sammlungsbestand des 20. Jahrhunderts (also sowohl aus Deutschland West wie aus Deutschland Ost) gezeigt wurden, entbrannte ein Streit darüber, ob es überhaupt legitim sei, Werke von Sitte, Heisig, Mattheuer und Tübke in die Ausstellung aufzunehmen. Dieser Streit hatte etwas Opportunistisches, wie mir scheint, denn vor dem Fall der Mauer schmückten sich westdeutsche Institutionen mit diesen Vier – wie nannten wir sie? Die Viererbande. Sie waren schon 1977 zur 6. documenta nach Kassel eingeladen und später auch zu anderen Schauen in der Bundesrepublik. 


1995 präsentierte das Deutsche Historische Museum in Berlin eine große Ausstellung von in der DDR entstandenen Bildern unter dem Titel »Auftrag: Kunst«. Die Lesart vieler Besucher und Kritiker war, dass es sich bei Bildern aus DDR-Zeiten um offizielle Staatskunst handele, um »Auftragskunst«, also um politische Propaganda mit künstlerischen Mitteln. Mit der Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne« erlebte dieser deutsch-deutsche Bilderstreit 1999 seinen Höhepunkt, oder sollte man besser sagen, seinen Tiefpunkt: Die Bilder hingen auf Müllsäcken und wurden in eine Parallele mit Nazikunst gestellt. Der Kunsthistoriker Matthias Flügge sprach damals von einem »Rückfall in demagogische Abwertungs- und Denunziationsmuster des Kalten Krieges« und äußerte sich besorgt über das kulturelle Klima, zehn Jahre nach dem Mauerfall. Manche Künstler hängten ihre Bilder einfach ab, so Ralf Kerbach, Reinhard Stangl, Hans-Hendrik Grimmling. Andere verlangten die Herausgabe ihrer Arbeiten, so Wolfgang Mattheuer, Hans Ticha. 


Drittens: War der Streit, waren Einseitigkeiten, Verkürzungen, Verletzungen notwendig und unvermeidlich? Wer weiß das schon. Es gab sie jedenfalls und es durfte und konnte nicht so bleiben! 2003 hat Werner Hofmann festgestellt: »Lange Zeit waren die Künstler der DDR dem Westen, sofern er sie überhaupt zur Kenntnis nahm, ein Ärgernis, eine Belanglosigkeit, ein Anachronismus. Heute […] steht dieses ausgesparte Terrain erst recht im Abseits«. Noch 2009 konnte einer der Projektorganisatoren der im Martin-Gropius-Bau in Berlin gezeigten Ausstellung »60 Jahre. 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009« auf den Einwand, seit den 70er Jahren sei doch Kunst aus der DDR ein Teil auch der bundesrepublikanischen Kunstszene ­gewesen, antworten (wörtlich): »Wir zeigen die Kunst, die unter Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich: freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen.« Punkt. So einfach und basta! 


Die zuvor zitierte Feststellung von Werner Hofmann findet sich im Katalog zu einer endlich anderen Art der Darstellung, der ersten von bisher, wenn ich alle mitbekommen habe, vier großen Ausstellungen: 


Die erste wirklich repräsentative Rückschau wurde 2003 in der Neuen ­Nationalgalerie Berlin gezeigt unter dem schlichten Titel »Kunst in der DDR«. Mit dieser Ausstellung konnte sich die Bewertung der Kunst aus der DDR von Begrifflichkeiten wie Staats- und Auftragskunst lösen. Diese Schau, so sagen auch die Fachleute, gilt als vorläufiger Endpunkt des Bilderstreites. Jetzt ging es nicht mehr allein um Herkunft, sondern auch um Qualität. Und diese Ausstellung, ich erinnere mich genau, war auch für mich eine Erlösung! In Berlin war diese Retrospektive ein wahrer Besuchermagnet. Als sie jedoch wenig später in Bonn gezeigt wurde, blieben die Besucher weg und die Säle leer: Das Interesse an diesem Thema, an »Kunst in der DDR« war kein gesamtdeutsches, sondern immer noch ein ostdeutsches. 


Einen anderen Zugang präsentierte 2009 die von Eckhart Gillen und Stephanie Barron kuratierte Schau »Kunst und kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945 bis 1989«, die in Los Angeles, Nürnberg und Berlin zu sehen war. Sie versuchte, mit ausgewählten Werken einem deutsch-deutschen Kunst­dialog während der Teilung nachzugehen. Es lohnt sich auch, den außerordentlich ­instruktiven Katalog zu dieser Ausstellung mit dem Titel »Feindliche Brüder« anzuschauen. 


Die nach einem Roman von Christa Wolf benannte Ausstellung »Der geteilte Himmel« in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zeigte 2011 dann in dialogischer Form Arbeiten aus der Sammlung des Hauses aus den Jahren zwischen Kriegsende und 1968, allerdings mit einer Einschränkung: Der Ausstellungsfundus beschränkt sich bei den Werken aus der DDR auf die staatlich genehme Kunst, oppositionelle Werke wurden bis 1990 nicht gesam-
melt. 


2012 endlich, dreizehn Jahre nach dem Eklat von Weimar, wurde dort die Ausstellung »Abschied von Ikarus« gezeigt. In ihrem Mittelpunkt stand die Idee der Utopieerwartungen und Utopieermüdungen. Zwei Kooperationspartner hatten die Schau auf den Weg gebracht, die Klassikstiftung Weimar und das BMBF-Verbundprojekt »Bildatlas: Kunst in der DDR« unter Leitung des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg.


Auch der Deutsche Bundestag, von dem ich hier ja wohl auch reden muss, hat das ihm Mögliche getan, um die Aufarbeitung der SED-Diktatur voranzutreiben, zunächst natürlich politisch, um die Strukturen des repressiven politischen Systems (auch der Kultur- und Kunstlenkung) auszuleuchten. Gleich zwei Enquete-Kommissionen widmeten sich in den 90er Jahren dieser Aufgabe. Aufklärung und Aufarbeitung, so hatte es Willy Brandt formuliert, seien »eine gesamtdeutsche Aufgabe und ein Beitrag zur Versöhnung«. 


Zur Aufarbeitung gehört auch, Persönlichkeiten zu würdigen, die zu DDR-Zeiten Repressionen ausgesetzt waren. Gemeinsam mit anderen Abgeordneten habe ich mich dafür eingesetzt, dass in die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages Werke von wichtigen Künstlern aufgenommen wurden, beispielsweise von Max Uhlig, Carlfriedrich Claus, Wieland Förster, Lutz Dammbeck und anderen. 


Natürlich kann eine einzelne Institution nicht allen gerecht werden, auch das Parlament nicht. Aber sie kann Zeichen setzen. Ein kleines solches Zeichen war beispielsweise die vor einem Jahr im Bundestag gezeigte Ausstellung von Werken einer Malerin, die den meisten unbekannt war (ich kannte sie persönlich), der Malerin und Dissidentin Annemirl Bauer. Diese Ausstellung bot ­Gelegenheit, die rebellische, aber weithin unbekannte Künstlerin endlich einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen und zugleich über Strukturen des Kunstbetriebes der DDR zu reden. Annemirl Bauer hatte die Art der Auftragsvergabe im DDR-Künstlerverband, die willkürliche Vergabe von Westreisen, die politisch angepassten Entscheidungen von Jurys kritisiert. In einem auch im Rückblick außerordentlich mutig erscheinenden Schreiben an die SED-Führung hatte sie dem damals herrschenden System jede Legitimation abgesprochen mit der Konsequenz, dass sie aus dem Verband ausgeschlossen wurde, was einem Berufsverbot gleichkam. Zudem wurde sie von der Stasi terrorisiert. Den Mauerfall hat sie nicht mehr erlebt. Sie starb im August 1989 und es vergingen viele Jahre, bis man sich wieder an sie erinnerte.


Viertens: Worum es nach meiner Überzeugung gehen muss, 24 Jahre nach Überwindung der staatlichen Spaltung, ist einfach und strapaziös zugleich: Die 40-jährige Geschichte der Bundesrepublik und der DDR ist nicht als getrennte Geschichte, sondern nur in ihrer Bezogenheit aufeinander zu begreifen. Der Journalist Peter Bender hat vor Jahren als erster einen solchen Versuch einer parallelen Geschichte der beiden deutschen Staaten unternommen, in der die Gegensätze und Unterscheidungen als Teil einer gemeinsamen Geschichte zu verstehen erprobt wird. Das erscheint mir auch für die Kultur, für die Künste im geteilten Deutschland sinnvoll und das richtige Anliegen dieser Konferenz. 


Ich zitiere nochmals Eduard Beaucamp aus dem Jahre 2010, und zwar etwas ausführlicher: »Der Fall ist in der Kunstgeschichte einzigartig: Ein tief schuldiges, zerrüttetes, kompromittiertes, kriegszerstörtes und zerteiltes Land gerät in zwei feindliche Machtsphären. Die beiden Teile werden gegeneinander auf­gehetzt und entwickeln im Zuge ihrer geistigen und künstlerischen Aufrüstung zwei gegensätzliche Kulturen. Beide Teile berufen sich auf verschiedene Tradi­tionen, Normen, Werte und Ziele. Der westliche Part glaubt sich auf der Seite der Freiheit, der Wahrheit, des Fortschritts und der Weltläufigkeit. Die Künstler im anderen Lager haben sich einem totalitären System zu fügen und mit einer Gesellschaftsideologie auseinanderzusetzen. Sie müssen sich ihre Wege und trotzigen Selbstentwürfe zwischen Diktaten, Überzeugungen, Gängelungen, Anpassungen und Repressionen suchen. […] Die Kunst«, so Beaucamp, »war – 
im Osten heftiger und länger als im freiheitlichen Westen – als Waffe im ›Wettbewerb der Systeme‹ ernst genommen und zur gegenseitigen Befehdung und Missionierung benutzt worden. Die DDR versuchte in ihren ersten rigiden Jahrzehnten, die Kunst für ihre Umerziehungs- und Agitationszwecke gefügig zu machen, und verfolgte und vertrieb widerstrebende Künstler. Im Westen bestärkte das den tiefsitzenden Verdacht, dass alle erfolgreiche, womöglich repräsentative Kunst im Osten parteilich, manipuliert, korrupt und unterwandert gewesen sei – frei und selbstbestimmt hingegen nur die der Emigranten und Dissidenten. Später tauchte im Westen selber die heikle Gegenthese auf, dass die ›Weltsprache der Freiheit‹, also die abstrakte Kunst, als zentrales Idiom der internationalen Nachkriegsästhetik von amerikanischen Kulturagenten von der CIA selbst infiltriert und gefördert worden sei. Hinzu kam die allzu pauschale, polemische These, dass die Westkunst ein Manipulationsprodukt des Kunstbetriebs und des Marktes sei. Doch nachdem seit der Wende so emsig im hässlichen Hinterhof der DDR-Kunst vor allem nach den abscheulichen Stasi-Aktivitäten geforscht wurde, wäre es fairerweise an der Zeit, auch einmal so manche Kulissen und Hintergründe der Westkunst zu erkunden.« 


(Man muss nicht die einzelnen Formulierungen und Wertungen teilen. Aber hier übernimmt einer den Versuch, einmal beides in den Blick zu nehmen und durchaus polemisch provozierend herauszufordern, was gemeint sein könnte, wenn man eine parallele, wechselseitig aufeinander bezogene Geschichte der Künste in die Augen nimmt.)


Fünftens: Während der deutschen Teilung war die Kultur trotz allem ein einigendes Band. Sie hatte eine Art Brückenfunktion, beide Teilstaaten kamen schließlich aus der gleichen kulturellen Tradition. Dagegen standen die Anmaßungen der DDR-Kulturpolitik seit Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre mit der Behauptung »zweier Nationen«, zweier Literaturen usw. Ganze Bereiche der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und der Parteihochschule mühten sich, diese Behauptungen irgendwie zu belegen – vergeblich. Sie wirkten, ich erinnere mich, immer ein wenig lächerlich. 


Aber auch im Westen arbeiteten manche daran, die staatliche Doppelung in den Kulturbereich zu transferieren: Die Rede – ich war ja mal Germanist – 
von einer deutsch-deutschen Sprachspaltung geisterte jahrzehntelang durch die Medien. Als Beweis mussten ein paar exotische Wörter und Wendungen aus dem Sprachgebrauch des DDR-Wortschatzes herhalten. Selbst seriöse Unternehmen, nicht zuletzt das Institut für Deutsche Sprache, haben sich philologisch akribisch, kulturkritisch oder sprachpflegerisch mit dem »zweigeteilten Duden« beschäftigt. Es gab Konferenzen, zahlreiche Projekte, auch Disser­tationen zum Thema und auch die 20. Auflage des Dudens von 1991, die als der »gemeinsame Duden für Ost und West« auf den Markt kam, zehrte von diesem Boom, der schlicht auf einem Missverständnis beruhte. Eine tatsäch­liche Sprachspaltung hat in den 40 Jahren der deutschen Zweistaaatlichkeit nie stattgefunden. 


Es ist mir wichtig, an die Bindekraft der Kultur, des Kulturellen zu erinnern. Wir Deutsche waren staatlich gespalten, auch in ideologisch gegensätzliche Systeme, aber es gab eine elementare Gemeinsamkeit, den der Begriff der Kulturnation meinte: gemeinsame Geschichte, gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Sprache, gemeinsames kulturelles Erbe. Das war ja durch die staatliche Spaltung nicht erledigt. Das band zusammen über politische Grenzen hinweg. Dem SED-Regime war es ja nie wirklich gelungen, aus der DDR-Bevölkerung eine eigene Staatsnation zu machen und erst recht nicht eine eigene Kulturnation. Daran hinderte sie schon der massenhafte Blick der DDR-Bürger nach Westen: Jeden Abend sind wir doch ausgewandert – via Fernsehen in den Westen. 


Mit welcher Ausdauer und Leidenschaft haben wir Ostdeutsche alles verschlungen, was an Kultur aus dem Westen kam, die mitgebrachten oder in DDR-Verlagen erschienenen, als Bückware begehrten Westbücher gelesen, die Westfilme angeschaut, die in den 80er Jahren etwas häufigeren Ausstellungen westdeutscher Künstler besucht, die westliche Musik gehört. Persönliche Besuche von prominenten Westautoren und -künstlern garantierten volle Häuser. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal Heinrich Böll an meiner Brust hatte, weil er, ich stand im Gang einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie, hindurch wollte auf die Bühne und plötzlich klebte er an mir und sagte ganz leise: »Ich will doch nur da nach vorne.« Nur eine von vielen Erinnerungen. Verehrung, Erwartung an sie, an die westdeutschen Künstler, Autoren waren erheblich. Man klaute mit besonderer Begeisterung auf der Leipziger Messe Westbücher mit stillem oder signalisiertem Einverständnis der Verlagsvertreter. Was Grass, Böll, Walser, Staeck, Beuys usw. zu politischen Fragen, zumal Deutschlands, zu sagen hatten, nahmen wir fast wichtiger als die Äußerungen von Christa Wolf und Heiner Müller. Schriftstellerbegegnungen zum Friedensthema sollten sein, bei aller Skepsis, denn jedes freie Wort, in der DDR gesprochen, war zu begrüßen. 


Und da Martin Walser vor mir sitzt, fällt mir eine besondere Erinnerung ein, eine Erinnerung an eine Fernseh-Talkshow 1988/89. Er saß da zusammen mit Lea Rosh, Günter Gaus und Heiner Müller und sprach von seinem Geschichtsgefühl, das nicht nur den Bodensee meinte, sondern auch Leipzig; und davon, dass er gerne selbstverständlich in Leipzig und Dresden und anderswo ins Theater gehen wolle. Auf den flotten Einwand, er könne das doch, sagte Martin Walser: »Aber ich rede doch nicht nur von mir, ich rede doch auch von den Ostdeutschen, den DDR-Bürgern, dass sie in Stuttgart und Düsseldorf und anderswo ins Theater gehen könnten.« Ich werde ihm das nie vergessen. Das war etwas, was unsereins begierig hörte, weil es andere, wie der daneben sitzende Heiner Müller, der große Autor, nicht sagten, denn Heiner Müller reiste ganz selbstverständlich, privilegiert wie er war, immer in den Westen. Lassen wir das beiseite.


Darüber hinaus gab es, wenn ich mich richtig erinnere, das viel größere Interesse der Ostdeutschen an Geschichte. Ein Bewusstsein von gemeinsamer Geschichte war in der DDR viel lebendiger. Dazu hat übrigens genau das SED-Regime kulturpolitisch wesentlich beigetragen. Es gehörte ja zur Ambivalenz des Projekts, des Programms von der »Pflege des nationalen Kulturerbes«, das in der Apologetik die Verbindung zur gemeinsamen Geschichte und gemein­samen Kultur immer wachgehalten wurde, unweigerlich.


Sechstens: Die Kultur in der DDR war, selbstverständlich, ein ideologisch umkämpfter Raum, denn die SED nahm die Künste auf sowohl pathetische wie bestürzende Weise ernst – als Instrument des Klassenkampfes, wie der ideologischen Erziehung, wie der Persönlichkeitsbildung, womit durchaus verschiedene Formen und Ziele der Instrumentalisierung gemeint waren. Mit welchem Fleiß und welchem Ernst sich alle Ebenen des Partei- und Staatsapparates den Künsten zu widmen hatten, will mir noch im Rückblick staunenswert erscheinen, wie es mir damals immer mal auch Angst erzeugte. (Ich war, es ist erwähnt worden, ein gutes Jahr bis zu meinem Rauswurf im Kulturministerium der DDR tätig.) Das schloss übrigens Respekt, ja Ehrfurcht vor Kunst und Künstlern bei Funktionären nicht aus, aber kleinkarierte, dumme Verachtung und Herabwürdigung gegenüber Künstlern ebenfalls nicht. Misstrauen, Unsicherheit und Unwissen gehörten zum kulturpolitischen Habitus. 


Um sich der Gefolgschaft dieser unsicheren Kantonisten, der Literaten, Komponisten, Maler, Schauspieler zu versichern, versuchte die SED-Kulturpolitik durchaus verschiedene Strategien: Zuckerbrot und Peitsche, Verteilung von Privilegien (wie Reisevisa) oder Ausstellungsverbote. Die Künstlerverbände spielten dabei eine wichtige Rolle. Die Zugehörigkeit ermöglichte die materielle Absicherung des beruflichen Starts, Studienreisen, Ausstellungen, Aufführungen, Aufträge, Veröffentlichungen – oder eben nicht. Manche ließen sich ideologisch in Haftung nehmen, andere nicht. Viele glaubten zunächst an das, wie sie meinten, »bessere Deutschland« und engagierten sich dafür bis zu den ersten großen Enttäuschungserfahrungen. Viele durchlebten einen schmerzhaften »inneren Bruch«. Manche schon den zweiten, man erinnere sich an Franz Fühmann. Die Konsequenzen fielen unterschiedlich aus: Die einen gingen in den Westen, andere bauten sich eine Nische, manche flüchteten in Zynismus, wieder andere kämpften gegen die eigenen Einsichten an, manche gingen in die innere Emigration. Aber immer gab es auch Künstler und Künstlerfunktionäre, die die SED-Kulturdoktrinen gegen Kollegen vertraten: mal werbend, mal erpresserisch, mal aggressiv. 


Das Bild ist bunt und widersprüchlich. Da darf nichts beschönigt werden. Es gab unsäglich viel unsäglich schlechte Kunst, propagandistische Machwerke, miesesten sozialistischen Realismus. Ich nenne keine Namen, aber ich zitiere die schönste Definition des sozialistischen Realismus, die mir bisher unter die Augen gekommen ist. Sie stammt von Friedrich Dieckmann: »Sozialistischer Realismus, das war nach dem Willen der Erfinder dieser Leitlinie der Kunst die Widerspiegelung der Wirklichkeit unter Einbeziehung jener objektiven Gesetzmäßigkeiten, die die herrschende Partei so liebte, weil sie sich (und anderen) vorgaukelte, sie selbst verkörpere sie.«


Siebtens: Die Kultur in der DDR war also ein gewiss ideologischer und politischer Kontrolle unterworfener Raum. In ihm musste Autonomie immer wieder neu erkämpft werden und in ihm gelang Lenkung, so sehr sie versucht wurde, nie total. Jeder wache Kunstzeitgenosse konnte in der DDR Beispiele trotziger Selbstbestimmung und Selbstbehauptung nennen – in Literatur, bildender Kunst und Musik vor allem, aber auch im Theater, im Spiel- und Dokumentarfilm und in der Fotografie. Man kannte und suchte sie, gab ihre Namen weiter, wartete auf ihre nächsten Texte, Bilder, Filme, Ausstellungen. Ein eigentüm­licher Kommunikationsraum war das, nur wenig oder gar nicht vermittelt durch das Feuilleton, sondern von Mund zu Mund. Öffentliche Aburteilungen machten neugierig. Eine Gegenöffentlichkeit, diffus und in der späten DDR immer besser organisiert, von beunruhigendem Ausmaß und Inhalt in den ­Augen der Oberen. Denn das waren die Künste in der DDR ja auch: Als Gegen­öffentlichkeit war Kultur ein Ort der Beheimatung der Bürger, ein wichtiger Teil der Notgemeinschaft gegen den Staat, seine Zudringlichkeit, seine Unwahrheiten. Die Künste, das Lesen, Schauen, Hören, das waren wirklich Überlebens-
mittel.


Wie oft ist schon beschrieben worden, dass die Künste Ersatz waren für die nicht vorhandene politische Öffentlichkeit, die freie politische Kommunikation. Wir hatten gelernt, zwischen den Zeilen, den Tönen, den Linien zu lesen. Unser ostdeutsches Verhältnis zur Kunst und den Künstlern war »existenzieller« geprägt, auch moralischer getönt. Wir hatten ernsthafte Fragen und erhofften ernsthafte Antworten – welche Last für die Künstler! Sie waren gewissermaßen Stellvertreter. Ihnen kam eine besondere Wichtigkeit zu. Sie wurden von oben, von den Herrschenden, aber auch von unten, den Beherrschten, ernstgenommen. 


Einige Beispiele nur: Die regelmäßig organisierten Besuche der zentralen DDR-Kunstausstellungen in Dresden, sie erzeugten nicht nur von oben angeordnete Kunstdebatten, sondern wirkliche Diskussionen unten, bei den Besuchern, Diskussionen über Realitäts- und Problemgehalte, Bilder im Vergleich zu den je eigenen Wahrnehmungen von Wirklichkeit und Problemen. Man vergleiche die offizielle Begleitmusik zu Walter Womackas süßlichem »Das Paar« und die ernsthaften Debatten um Mattheuers »Die Ausgezeichnete«. »Nachdenken über Christa T.« von Christa Wolf – ich erinnere mich an die abendlichen, gänzlich freiwilligen, heftigen Debatten im studentischen Kreis über diesen Abgesang auf den verordneten Optimismus. Die kollektiv erschütterte Begeisterung über »Paul und Paula«, jenen erfolgreichsten Film aus der DDR: der individuelle Lebensanspruch einer jungen Frau gegen die scheinbar unentrinnbare Enge der DDR-Verhältnisse. Nach Ansehen des Films erzählte mir ein Kollege, der SED-Genosse war, davon, wie er von seiner Partei kujoniert wurde, weil er sich hat scheiden lassen wollen. Wolf Biermanns Lieder und Gedichte, sie wurden abgetippt und weitergegeben. Studenten wurden dafür exmatrikuliert. Sein Hinauswurf 1976 provozierte etwas Undenkbares, eine ganze Protestwelle und eine ganze Welle des »Ausreisens«. Wochenlang stand vor dem Haus, in dem ich wohnte, im Prenzlauer Berg ein Auto mit drei Männern. Das galt nicht mir, sondern Horst Sagert, der über mir wohnte. 


Debatten über Kunstwerke, das waren zu DDR-Zeiten also wahrlich keine Feuilleton-Debatten. Im Gegenteil. Sie waren von teilweise geradezu existenziellem Ernst. Ist diese besondere Art von Wichtigkeit der Künste erledigt durch die Freiheit, durch den Markt? Sollen wir dem früheren Zustand etwa nachtrauern? Lieber nicht. Nostalgie ist niemals angemessen.


Achtens: Die DDR-Geschichte war auch eine Geschichte der enttäuschten Hoffnungen. Im vereinten Deutschland prägen heute Generationen die öffentliche Meinung, die sich auch darin unterscheiden, ob sie die DDR-Diktatur am eigenen Leib erfahren haben oder nicht. Das bestimmt den Rückblick auf die DDR und auch den Blick auf den heutigen Osten Deutschlands. Der westdeutsche Blick, ich übertreibe wieder, verführt zu dem Urteil, die Ostdeutschen seien auf jeden Fall mindestens mitverantwortlich für die Diktatur, die sie vielleicht sogar willig ertragen hätten. Der ostdeutsche Blick dagegen verfinstert sich sowohl beim Rückblick als auch bei der Betrachtung der Gegenwart. Im Rückblick weiß man zu unterscheiden, wer mit welchen Taten die Diktatur gefestigt, wer mit welchen Taten gegen den Stachel gelöckt hat, und auch, dass es lange zum Wegducken vor der Macht keine zumutbare Alternative gab. Helden sind nicht der Normalfall, sonst wären sie keine. Held wird man aus bestimmten persönlichen Dispositionen oder aus Verzweiflung. Die Helden von Leipzig waren Helden aus Verzweiflung, aus Hoffnungslosigkeit. An dieser Hoffnungslosigkeit hat die SED vier Jahrzehnte gearbeitet. Vier Jahrzehnte, in denen Versprechungen nicht gehalten wurden, sondern in eine üble Mischung aus Betrug und Repressionen mündeten, immer wieder aufs Neue. Das beinahe religiöse Muster dogmatischer Politik, die alles Positive auf später vertröstete: Die Volkssouveränität, der Wohlstand, die individuelle Freiheit, die wirkliche Gleichheit, die Verlässlichkeit der Spielregeln, die hohe Qualität und ausreichende Quantität der Waren und Güter – alles werde im dereinst zu erreichenden Kommunismus Wirklichkeit. Dieser Trost wurde erst recht gespendet, wenn die Normen der eigenen Verfassung, die Versprechungen des jeweils letzten Parteitages der SED gerade wieder nicht erfüllbar waren. 


Man hatte das hinzunehmen. Man konnte Ulbricht und Honecker nicht abwählen. Man hatte erlebt, dass schon beim Versuch, die offiziellen politischen Grundsätze ernst zu nehmen, die russischen Panzer auffuhren. Das war die Erfahrung von 1953. Und es folgten nach dieser Schlüsselerfahrung von ’53 die Niederlagen von 1956, 1961, 1968, 1976. Diejenigen, die die westdeutsche veröffentlichte Meinung machen, kennen solche Erfahrungen nicht und sie sollten dankbar dafür sein, statt die Stirn in Falten zu legen und darauf zu bestehen, dass Heldentum der einzig richtige Weg gewesen zu sein habe. Es ging nicht um einen Preis für Zivilcourage, sondern um einen modus vivendi mit Verhältnissen, die die meisten DDR-Bürger sich nicht haben aussuchen können. Und die meisten haben im falschen System ein richtiges Leben zu führen versucht – mit Anstand, Witz und Intelligenz, aber nicht ohne Beschämung und Niederlagen. 1953, 1956, 1961, 1968, 1976, 1981 – ich muss die Daten wohl nicht erläutern. Es ist die Agenda der politischen Hoffnungsenttäuschungen. 


Es gibt daneben auch noch eine kulturpolitische Enttäuschungsagenda. Ich erinnere an einige Daten dieser Enttäuschungsagenda: Sie beginnt mit der Formalismusdebatte Anfang der 50er Jahre, mit dem Verbot der Oper von Brecht/Dessau »Das Verhör des Lukullus«, weil sie »unharmonisch« sei und eine »Verwirrung des Geschmacks« bewirke. Ich erinnere an die Polemik gegen die erste große Barlach-Ausstellung 1952, »Sumpf des Mystizismus« lautete der Vorwurf. Das Formalismusverdikt traf den DEFA-Film »Das Beil von Wandsbek«, immerhin nach einem Roman von Arnold Zweig. Sogar eine ganze Kunsthochschule, die in Weißensee, wurde unter Verdacht gestellt! Nach Schauprozessen 1956/57 gegen Harich, Janka und Just gab es die kulturpolitische Offensive, genannt »Bitterfelder Weg«. Eine »Kulturrevolution« sollte Bestandteil der Sozialistischen Revolution sein – auch manche von den Künstlern der DDR erhofften sich eine Stabilisierung. 1961, bereits sechs Wochen nach dem Mauerbau, wurde Heiner Müllers Komödie »Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande« als »kulturrevolutionäres antikommunistisches und antihumanistisches Machwerk« bewertet, ihr Autor wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, Regisseur Klaus Tragelehn ein Jahr zur »Bewährung in die Produktion« geschickt. 1962 wurde Peter Huchel als Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form« entlassen. Er hatte unter anderem Ernst Fischers Aufsatz »Entfremdung, Dekadenz, Realismus« (ein Plädoyer für Klassiker der Moderne wie Joyce, Proust, Kafka) veröffentlicht. Dezember 1965 dann, da war ich schon Student in Berlin, das spektakuläre 11. Plenum des ZK, dem ein ganzer kulturpolitischer Kahlschlag folgte: das Verbot von zwölf DEFA-Filmen und weitere Restriktionen gegen die Künste. 1976 der Hinauswurf von Wolf Biermann, die Protestwelle, die Ausreise vieler Künstler aus der DDR. Dieser ungebremste Aderlass nach 1976 war eine Abstimmung mit den Füßen, lange vor dem Schicksalssommer 1989. Ich erinnere mich sehr gut an das Weggehen vieler Künstler, Autoren, Filmemacher, Freunde, an das immer neue Erschrecken, wer künftig alles uns fehlen wird. 


Ich breche ab. Der westliche, der oberflächliche Blick übersieht allzu leicht diese lange Abfolge von Hoffnung und Enttäuschungen. Der Gewinner des Systemwettbewerbs kann rückblickend nicht mehr begreifen, dass auf der Verliererseite ehrenwerte Motive, anständige Verhaltensweisen und bis fast zuletzt noch kleine Hoffnungen existierten. Der ostdeutsche Blick schämt sich dieser Hoffnungen heute vielleicht, ist vom Zweifel beherrscht: Hätte man es nicht besser wissen können, die Hoffnung nicht früher fahren lassen müssen? Aber sie ist ja auch nicht auf einen Schlag verschwunden, sondern allmählich, fast unmerklich geringer geworden, bis die Hoffnungslosigkeit in verzweifelten Mut umschlug: 1989, das Ende der DDR. 


An der friedlichen Revolution von ’89 beteiligten sich viele der im Lande verbliebenen Autoren, Theaterleute, Künstler. Im September ’89 protestierten bekannte Rockmusiker und Liedermacher in einer aufsehenerregenden Resolution »gegen die unerträgliche Ignoranz der Partei und Staatsführung«; die große Demonstration und Kundgebung am 4. November 1989 in Berlin ist von Künstlern angemeldet und organisiert worden. Auf ihr sprachen Christa Wolf, Stefan Heym, Heiner Müller, Jan Josef Liefers und andere. Noch einmal waren sie Stellvertreter des Ganzen, ein letztes Mal. Schon mit dem Aufruf »Für unser Land« vom Ende desselben Monats sprachen sie offensichtlich nicht mehr stellvertretend für eine Mehrheit.


Neuntens: Lässt sich eine vergleichbare Konfliktgeschichte für die Künste in der Bundesrepublik Deutschland West beschreiben? Gar auch eine »Geschichte enttäuschter Hoffnungen« oder Illusionen, etwa wenn ich an ’68 und die Folgen denke? Der Anfang war ja noch gemeinsam: der radikale Versuch eines Neu­anfangs nach dem Naziverbrechenssystem und seiner Indienstnahme der Künste und der Vertreibung der Avantgarde und der kritischen Künstler überhaupt. Was aber blieb gemeinsam im dann folgenden Auseinanderstreben? Was sind parallele Entwicklungen? Wie sehr unterschieden sich die Entwicklungen in den verschiedenen Künsten? Es blieb ja doch weiterhin, lassen wir die Niederungen auf beiden Seiten beiseite, eine gemeinsame deutsche Literatur: Oder waren Grass und Walser nur westdeutsche Autoren, Christa Wolf und Heiner Müller nur ostdeutsche? Ich glaube nicht. In der avancierten Musik ­arbeiteten die Komponisten am und im gleichen Material. Die bildende Kunst Ost allerdings entzog sich weitgehend dem Dogmatismus der Abstraktion. Der DEFA-Film muss sich in seinen besseren Produktionen von 1946 an nicht vor dem westdeutschen Film verstecken. 


Was entspricht im Westen der durchaus ehrenwerten antifaschistischen Selbstindienstnahme der Künste im Osten nach 1945? Ist die Zuwendung zu starken und progressiven deutschen Traditionen namentlich in der bildenden Kunst Ost – Verteidigung der Figuration gegen die Abstraktion – bloß konservativ, bloß ideologischer Beeinflussung und Bevormundung geschuldet oder nicht eine spezifische Wendung gegen die Doktrin vom sozialistischen Realismus? Blieb die Kunst Ost »deutscher« im Gegensatz zur »Verwestlichung« in der Bundesrepublik, wie manche behauptet, beschworen haben? Aber was heißt das schon noch? Günter Gaus, Sie erinnern sich vielleicht an ihn, meinte jedenfalls, die DDR sei deutscher geblieben und ihre Bürger auch. Entspricht einer politik- und ideologiekritischen Grundgestimmtheit der westdeutschen Kunst und Künstler etwa eine politiknahe, utopie- und ideologiegetränkte Grundeinstellung ostdeutscher Kunst und Künstler? Aber der geteilte utopische Anspruch, er führte doch gerade zu Politik- und Ideologiekritik – ein Konflikt, der die Künste in der DDR seit den 60er Jahren bestimmte.


In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe informativer Monografien vorgelegt worden zur Geschichte der bildenden Kunst in der DDR, des ostdeutschen Theaters, der Musik, der Popkultur, zur Geschichte des DEFA-Films und zur Babelsberger Filmästhetik, zur in der DDR entstandenen Literatur. Man könnte fast behaupten, die ostdeutsche, keineswegs homogene Kulturlandschaft zwischen ’49 und ’89 sei besser, weil systematischer aufgearbeitet als die westdeutsche. Aber das sollen andere beurteilen. Daneben liegen inzwischen auch zahlreiche autobiografische Texte von Autoren, von Akteuren vor, die insgesamt ein facetten- und konfliktreiches Bild der ostdeutschen Kultur im geteilten Deutschland ergeben. Was dagegen tatsächlich leichter zu fordern als offensichtlich zu leisten ist, das wäre ein Perspektivenwechsel, nämlich den Blick zu richten auf die parallele, die gemeinsame und gegensätzliche Kultur­geschichte Ost-West. Deshalb vermute ich, der hier in Leipzig angestrebte wechselseitige Erzählversuch könnte spannend und erhellend sein.


Zehntens und letztens: Die deutsche Vereinigung erfolgte politisch, rechtlich, wirtschaftlich, sozial nach einem durchaus einfachen Muster. Was im Westen Deutschlands galt, wurde auf den Osten Deutschlands übertragen. Ich sage das nicht mit dem billigen Unterton des Vorwurfs, denn die Fakten waren ziemlich eindeutig. Wenn ein politisch wie wirtschaftlich ziemlich erfolgreiches System und ein politisch wie wirtschaftlich gescheitertes System zusammenkommen, sind die Gewichte klar verteilt. Die einen werden die Lehrmeister, die anderen die Lehrlinge, die einen liefern die Norm, die anderen haben sich danach zu richten. Bei den einen hat sich nichts zu ändern, bei den anderen so ziemlich alles. Nochmals, ich sage das nicht im Ton des Vorwurfes. Es war ja zu begreifen, selbst für einen Ossi wie mich, dass niemand in Freiburg im Breisgau so leicht das Gefühl entwickeln konnte, es müsse sich bei ihnen etwas ändern, nur weil in Leipzig ein System gestürzt bzw. zusammengebrochen war. Inzwischen aber haben selbst die im fernen Südwesten begriffen, dass die unerhörte Begebenheit von 1989 Folgen für sie hatte. 


Ich erinnere daran, weil ich mich in den vergangenen 20 Jahren immer wieder gefragt habe, warum eigentlich das, was politisch, wirtschaftlich, rechtlich, sozial mit einer gewissen Unausweichlichkeit gegolten hat (übrigens nicht ohne – wenn auch gelegentlich schmerzlichen – Erfolg), warum dies auch für den Bereich der Kultur, für die Künste unbedingt gelten musste? War auch in den Künsten eine »nachholende Modernisierung«, um den Terminus von Habermas aufzunehmen, notwendig? Und wenn ja, in welchem Umfang und in Bezug auf welche Strukturen, Prozesse, Aktivitäten, die wir unter dem Kunstbegriff zusammenfassen? War die leidende Widerborstigkeit mancher Künstler, zum Beispiel ihre jammernde Abwehrhaltung gegenüber den brutalen Marktmechanismen, nur ein lächerliches, retardierendes Moment, eine Donquichotterie? Oder gab es nicht doch wenigstens in den Künsten eine ­eigenständige, eigentümliche DDR-Moderne einerseits und andererseits eine irgendwie konservierte, reiche Kulturlandschaft? Um letztere übrigens hat sich die Bundeskulturpolitik durchaus rührend und verdienstvoll zu kümmern versucht (»Blaue Liste«). 


Wenigstens hier, in der Kultur, hätten doch andere Maßstäbe der Bewer-­tung, der Abwicklung oder Nichtabwicklung gelten können, ja müssen. Denn, ich sage es trotzig auch noch nach 20 Jahren, die Kultur, also die Künste und die Künstler, waren nicht in der gleichen Weise »abgewirtschaftet«, wie das für Politik, Recht, Medien, Moral und eben die Wirtschaft in der DDR gegolten hat! 


Aber ich weiß ja auch: Die Debatte genau darüber war gewissermaßen ein grummelnder Unterton der vergangenen beiden Jahrzehnte. Wir sollten sie jetzt auch vernehmbarer und ausdrücklicher führen. Ich verstehe diese Leipziger Konferenz als einen Versuch genau in diese Richtung. Es ist, meine ich und unterstütze auch deshalb das Anliegen der Konferenz sehr, an der Zeit, ich sage es nochmals, die Kulturgeschichte der DDR als Teil der gemeinsamen deutschen Kulturgeschichte seit 1945 zu begreifen und zu untersuchen. Eine gerechte, also faire und differenzierte Bewertung dessen, was die Künste in der DDR waren, die Künstler da leisteten, ist wohl nicht möglich, ohne zugleich den kritischen Blick auf die Künste in der Bundesrepublik zu richten, also ohne kritische Reflexion allzu selbstverständlich gewordener Maßstäbe. Deshalb will ich noch einmal sagen, wie sehr ich angetan und dankbar bin für die Weimarer Ausstellung »Abschied von Ikarus«. Und vielleicht gelingt es sogar, manche festgefahrene Fronten aufzulockern, zwischen Ostdeutschen, zwischen Weggegangenen und Dagebliebenen, zwischen sogenannten Staatskünstlern und Nonkonformen, zwischen »offizieller Kunst« und Gegenkultur, zwischen dem moralischen und dem ästhetischen Urteil – ohne die tatsächlich gelegentlich bitteren Widersprüche zu verkleistern. 


Ich bin neugierig auf die Ergebnisse der Tagung und wünsche alles Gute. 


  1. 1Öffentlicher Vortrag, gehalten am 4. April 2013 im Alten Rathaus zu Leipzig zur Eröffnung des Symposiums »Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland«, das die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und die Sächsische Akademie der Künste gemeinsam vom 5. bis 6. April 2013 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig veranstaltet haben.
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Heft 10 (2013)
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