Die deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts: Fruchtbringende Gesellschaft. Kritische Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten (Reihe I), Dokumente und Darstellungen (Reihe II)
Begründet von Martin Bircher † und Klaus Conermann. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel herausgegeben von Klaus Conermann. Reihe I, Abt. A: Köthen, Abt. B: Weimar, Abt. C: Halle; Reihe II, Abt. A: Köthen, Abt. B: Weimar, Abt. C: Halle. In Kommission: De Gruyter
Reihe I, Abt. A: Köthen, Bd. 6:
Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650. 6. Bd.: 1641–1643
Unter Mitarbeit von Gabriele Ball und Andreas Herz herausgegeben von Klaus Conermann. In Kommission: De Gruyter, Leipzig 2013, 880 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Festeinband
Der Hamburger Präliminarfrieden vom 21. Dezember 1641 weckte große Hoffnungen auf einen baldigen Universalfrieden, steckte er doch den organisatorischen Rahmen für die westfälischen Friedensverhandlungen ab. Da es aber zu keiner Waffenstillstands-Vereinbarung kam, setzte sich der Krieg bis 1648 unvermindert fort. Vor diesem Hintergrund trat die Fruchtbringende Gesellschaft auch in den Jahren 1641 bis 1643 für eine zivile Ethik des Gemeinwohls und Konfliktausgleichs ein. Dabei enthüllt Fürst Ludwigs Briefwechsel mit zweien seiner Agenten – mit Enno Wilhelm von Innhausen und Knyphausen, dem Kommandanten der Nachrichten- und Diplomatie-Drehscheibe Hamburg, und mit dem im Haag am Hof Fürst Friedrich Heinrichs von Oranien tätigen Johann von Mario – auch wichtige Informationen über die französisch-schwedische Allianz, die französisch-britisch-niederländischen Beziehungen, den Ausbruch der englisch-schottischen Verfassungskämpfe und deren Übergang in den britischen Bürgerkrieg sowie weitere Konfliktherde in Europa wie die Sezession Portugals oder den irischen Aufstand.
In der tiefgründigen fruchtbringerischen Sprachdebatte verlagerten sich nach den beiden 1641 erschienenen deutschen Grammatiken von Christian Gueintz und Justus Georg Schottelius die Schwerpunkte auf die Gebiete der Prosodie, der Lexik, der Rechtschreibung und Poetik. Die kontroverse Diskussion über metrische Vielfalt in der deutschen Verskunst wurde vor allem durch Augustus Buchner und den 1642 aufgenommenen Georg Philipp Harsdörffer wachgehalten. Hier galt es, der deutschsprachigen Literatur rhythmische Freiräume zu schaffen, die Martin Opitz’ Betonungsgesetz und eine streng alternierende Metrik allzusehr eingeschränkt hatten. Der Versfuß des Daktylus wurde ein entscheidender Hebel in der Etablierung eines kunstreichen Barockstils.
Doch nicht nur Harsdörffer belebte die fruchtbringerischen Debatten. In den Jahren seit 1641 begann auch der Wolfenbütteler Hof in das fruchtbringerische Gravitationsfeld zu treten und zu dem vielleicht bedeutendsten Mittelpunkt der Gesellschaft neben der Zentrale Köthen zu werden. Neben Justus Georg Schottelius sind hier der Hofmeister Carl Gustav von Hille, über den die fruchtbringerische Korrespondenz größtenteils lief, und der Hofmarschall Franz Julius von dem Knesebeck zu nennen, der mit seinen Dreiständigen Sinnbildern (1643) ein ganz »zu Fruchtbringendem Nutze« verfasstes Emblembuch vorlegte. Herzog August d. J. selbst trat mit einer ambitionierten Bibelharmonie hervor, für die er in Johann Valentin Andreae einen irenisch gesinnten theologischen Ratgeber fand. Bedeutsam wird die mehrfach überarbeitete und aufgelegte Evangelische Kirchen-Harmonie des Welfenfürsten auch, wenn wir in diesem Werk einen sprachlichen Reformwillen erkennen, wie er in der Korrektur und Neuformulierung der biblischen Vorlage Luthers und deren orthographischer, grammatischer und stilistischer Durcharbeitung zu Tage tritt.
Ausgehend von Andreae zeigt uns der Brief des Joachim Morsius an Joachim Jungius vom 26.8.1643 wie in einem historischen Echo ein bis an die Ränder Europas verzweigtes, vielknotiges Geflecht reformerischer Ideen und Projekte auf den verschiedensten Gebieten der Frömmigkeit, der Kirche, der Bildung und Wissenschaft, der Pädagogik, der kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt. Denn in jenem Kreis, in welchem nach eigenem Zeugnis Morsius im Jahre 1629 Schriften Andreaes zu einer erstrebten Societas Christiana verteilte, erblicken wir etliche ranghohe Fürsten und Politiker, bei denen mit Fürst Ludwig, Herzog August d. J. (s. o.), Landgraf Moritz von Hessen-Kassel und Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf wichtige Fruchtbringer hervorragen. Hatte Andreae mit seinen Plänen zu einer Societas bzw. Unio Christiana theologische Reformideen im Geiste eines Universalchristentums und einer zweiten Reformation entwickelt, so hatte Joachim Jungius 1622 mit seiner Societas Ereunetica das kurzlebige Projekt der ersten, am Vorbild der römischen Accademia dei Lincei ausgerichteten naturwissenschaftlichen Akademie nördlich der Alpen angestoßen. Daher passt auch der Brief von Schottelius an seinen einstigen Hamburger Lehrer, den Wissenschaftsreformer Jungius vom 9.5.1643, in diese Reformzusammenhänge. Zwar sollte Jungius einen anderen Weg gehen als sein Schüler, doch in Jungius’ früherem Ratichianismus, seinen langjährigen Bemühungen um deutsche wissenschaftliche Fachsprachen und in Schottelius’ eigenen Anstrengungen um die lingua ipsa germanica konvergieren für einen Moment die verschiedenen bildungsreformerischen Ansätze und Zusammenschlüsse des frühen 17. Jahrhunderts. Hier erkennen wir die Fruchtbringende Gesellschaft inmitten eines spannungsreichen sozietären Aufbruchs intellektueller Nonkonformistenauf der Suche nach einer neuen, ebenso unwiderleglichen wie praktischen Grundlegung der Wissenschaften und ihrer gesellschaftlichen Relevanz.
Ein Netzwerk anderer Art wird im Zusammenhang von Daniel Sachses monumentalem dreiteiligen Postillenwerk Einhelligkeit Der Vier Evangelisten (1641, 1643 und 1644) greifbar. Hier zeigen sich reformierte Verbindungen in Deutschland und den Niederlanden, welche die Finanzierung und Distribution eines Werkes beeinflussen, in dem die herkömmliche Bibelsprache auf der Höhe des fruchtbringerischen Sprachausbaus reformiert wurde. Um Finanzierungsbeihilfen geht es auch bei Fürst Ludwigs Werbungen für Matthäus Merians d. Ä. Radierarbeit und den Druck eines auf 400 Impresen und Reimgesetze erweiterten Gesellschaftsbuchs. Die erhaltenen Korrespondenzen bieten präzise Einblicke in Verlag und Subskription dieses letzten gedruckten Gesellschaftsbuches der Akademie, das 1646 erscheinen sollte.
Frauen konnten zwar keine eigenständigen Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, wohl aber als Gesellschafterinnen anerkannt und nach dem Gesellschaftsnamen ihres Gemahls benannt werden, z. B. die hochangesehene ›Befreiende‹, Herzogin Sophia Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel, deren Dichten, Übersetzen und Komponieren als fruchtbringerische Leistungen gewürdigt wurden. Ihre »history der Dorinde« ist eine kritisch-erzieherische, an »alle Dames von condition« und andere Interessierte gerichtete, selbstbewusst umgestaltete Übersetzung aus Honoré d’Urfés Roman L’Astrée und ein Musterbeispiel für die Integration von Frauen in den fruchtbringerischen Kulturanspruch. Hier und in der reizvollen Beschreibung eines am Gothaer Hof gespielten Actus zum Martinsfest tritt uns zudem auch die Tugendliche Gesellschaft, eine Parallelgründung zur Fruchtbringenden Gesellschaft, in ihrer kulturellen Leistung wieder vor Augen.
Zu den interessanten literaturgeschichtlichen Entdeckungen gehört im vorliegenden Band ein Zeugnis früher Beschäftigung mit Corneilles bahnbrechendem Drama Le Cid. Als weit seiner Zeit voraus erscheint das Interesse Fürst Ludwigs an den Traktaten des heute vergessenen jungen Arztes Johann Ulrich von Müffling gen. Weiß, welcher in der Zusammenstellung gemeinchristlicher, jüdischer und mohammedanischer Glaubensinhalte schon auf eine aufgeklärte, später von Gottfried Arnold gepriesene Theologie hinwies. Den großen religiösen und wissenschaftlichen Reformprojekten der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schließt sich wie ein Satyrspiel die Übersetzung eines antipäpstlichen Skandalbuches eines katholischen Priesters an, Ferrante Pallavicinos Il divorzio celeste (1643). Wegen seines scharfsinnigen und unterhaltsamen Angriffs gegen die Kirche Papst Urbans VIII., der in Europa großes Aufsehen erregte, wurde dieser Satiriker und Kirchenkritiker schon kurz vor dem Erscheinen des Buchs in Avignon verhaftet und 1644 enthauptet. Wohl ein Fruchtbringer, der reformierte Gesandte und Obrist Georg Hans von Peblis, hatte das Buch als erster noch im Erscheinungsjahr des italienischen Originals unter dem Titel Himmelische Ehescheidung verdeutscht. Derselbe Pallavicino dürfte übrigens als Feldkaplan den kaiserlichen General Piccolomini bei seinem Zug zum Entsatz der kaiserlich besetzten und vom Feinde blockierten Festung Wolfenbüttel begleitet haben, als sein Herr wohl im Mai 1641 in Anhalt unter dem Namen des Zwingenden in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen wurde. So machen die Briefe und Dokumente auch dieses Bandes die Fruchtbringende Gesellschaft als ein speculum saeculi in vielfältiger Facettierung sichtbar. Kumulierte Glossare, Sach- und Personenregister erschließen Quellen und Kommentare. Nützliche Hilfen besonders zur Mitgliederschaft der Akademie sind inzwischen auch abrufbar im Projekt-Portal: www.die-fruchtbringende-gesellschaft.de.