Editorial
Wissenschaft ist nicht einfach direkte empirische Erforschung von Material, sondern ein nicht immer bloß freundliches Gespräch zwischen Wissenschaftlern. Dass dabei hochspannende Ergebnisse entstehen, sowohl für unser Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt als auch für einen tiefen Blick in die Vergangenheit, zeigen gleich drei Beiträge zur Ägyptologie an der Universität Leipzig und an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Hans-Werner Fischer-Elferts ›medizinische‹ und damit ›fachsprachliche‹ Analyse einer romanhaften Autobiographie aus der Zeit des Mittleren Reiches (20.–18. Jh. v. Chr.) führt uns vor, wie Wissen aus verschiedenen Bereichen, hier: zu verschiedenen Textsorten (wie dem Papyrus Ebers) durch Zusammenführung unser Verständnis weiterbringt. Sinuhe der Ägypter – nicht zu verwechseln mit der Hauptfigur eines populären historischen Romans unter diesem Titel von Mika Waltari aus dem Jahr 1945, in welcher er die Zeit Echnatons widerspiegeln möchte – diagnostiziert in Fischer-Elferts Rekonstruktion seine eigenen ›seelischen‹ Zustände, wie z. B. solche ahnungsvoller Angst (bei Sinuhes Flucht) oder angstvoller Ehrfurcht (bei seiner Rückkehr und Audienz beim Pharao).
Noch deutlicher wird die ›dialektische‹ Spannung der Methode der Wissenschaft zwischen geduldiger eigener Forschung, genialischen Hypothesen und Entwürfen, sorgfältig-kritischen Prüfungen und polemischer Kritik, also zwischen antagonistischem Wettbewerb und kooperativer Zusammenarbeit in Peter Dils’ wunderbarer Geschichte der Übersetzung der Lehre für Kagemni und der Darstellung der Probleme der allgemeinen und kurzen Normierung von ›Wortbedeutungen‹ im üblichen Format des ›Wörterbuches‹ oder ›Lexikons‹. Genialische Protagonisten der Entwicklung der Wissenschaft werden dabei aus dem Blick des besseren Wissens späterer Zeit oft polemisch erinnert. Das mag immer auch ungerecht sein – wie die gar nicht feine Verballhornung von Johannes Dümichen als dem »Dümmlichen« auch noch in einem Pseudo-Zitat bei Adolf Erman (S. 51) zeigt. In jedem Fall aber ist gerade die Lockerung des Hartnäckigen, die Sänftigung des Lebhaften, das Widersprechen und Ertragen von Widerspruch das, was Wissenschaft voranbringt, wie die (auf S. 58) zitierte Anekdote aus Ermans und Grapows Wörterbuch der ägyptischen Sprache schön vorführt.
In seinem Beitrag zur Kontroverse zeigt auch Tonio Sebastian Richter, wie ›stabil‹ sich die altägyptische Sprache im Koptischen erhalten hat und wie sich dies zu bestimmten Theorien der ›Ursachen‹ des Sprachwandels verhält. Wir sehen daran, erstens, dass gerade für die Wissenschaftsentwicklung Kontroversen und Hypothesen interessant sind, dass sie, zweitens, selten so sind, dass eine Partei einfach ›Recht‹ hat oder behält, und, drittens, warum Blicke über den Tellerrand in andere Disziplinen häufig oder immer hilfreich sind. Insgesamt präsentieren die drei Texte die beeindruckenden Projekte der Ägyptologie in Leipzig in Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Dass Musik nicht im leeren Raum entsteht, zeigen die Beiträge zu den musikwissenschaftlichen Projekten unserer Akademie. Christian Martin Schmidt erarbeitet die bewussten Strategien zur innovativen Überschreitung allzu enger Gattungsgrenzen durch Felix Mendelssohn Bartholdy, die dieser u. a. bei der Komposition seiner Oratorien verfolgt. Ralf Wehner analysiert auf höchst interessante und amüsante Weise Mendelssohns distanziertes Verhältnis zu Männerchorkompositionen – in einer Zeit, in welcher dieses Genre einen Boom erlebt. Dass Robert Schumanns ›Märchenbilder‹ nicht, wie man vermuten könnte, etwas mit Grimms Märchen zu tun haben, ist bloß der Ausgangspunkt einer spannenden Geschichte um einen jungen Mann namens Louis du Rieux. Dieser glühende Verehrer Schumanns schickt ihm ein formal ganz braves, nicht sehr inspiriertes Gedicht über eine unglückliche Romanze, das der gleichnamigen Komposition Schumanns zugrunde liegt. Die Lebensgeschichte des Louis du Rieux, als ewiger Student und Dichteranwärter, die Klaus Martin Kopitz und Torsten Oltrogge erzählen, ist dann aber auch für das sechste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts höchst aufschlussreich, nicht zuletzt wegen der Beziehungen unseres ›Helden‹ zu Fontane und der Zensurbehörde bzw. Zeitungsaufsicht in Preußen. Gerade Mitarbeiter einer solchen Behörde, weil sie besonders gut informiert sind, fällen auch besonders weitsichtige politische Urteile etwa zur Leibeigenschaft in Russland und Sklaverei in Amerika. Der Verdacht, dass gerade Inquisitoren und Zensoren ›liberal‹ werden können, ist wohl selten ganz unbegründet.