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Humbug!


Ein Zwischenruf zu Wissenschaft, Forschung und Lehre


Jeder Sprecher unserer Sprache weiß, was Humbug ist. Humbug ist Unsinn, leeres Versprechen, auch Taschenspielerei. Erst bei genauerem Nachdenken bemerkt man, dass es sich um ein englisches Wort handelt, das schon im England des 18. Jahrhundert und erst recht im viktorianischen 19. Jahrhundert etwa bei Dickens kolloquial geradezu ›in‹ gewesen, im Deutschen aber längst heimisch geworden ist und inzwischen für törichten Blödsinn steht. Über die wirk­liche etymologische Herkunft des Wortes Humbug gibt es nur Spekulationen. Nicht allzu fern liegt aber der Gedanke, dass konnotativ angespielt wird auf den Unterschied des Brummens eines Käfers von einer sinnvollen Rede. Das Summen (humming) von Ungeziefer (bug) ist ja sogar Anzeichen, uns von der Sache sozusagen fernzuhalten. Ein anderes Wort, das kolloquiale und ebenfalls leicht aggressive ›Bullshit‹, ist gerade auf dem besten Weg, sich ebenfalls in unseren Sprachschatz einzufügen und zum Beispiel das leicht veraltet klingende Wort ›Mumpitz‹ zu verdrängen. Der entsprechende Eintrag in Wikipedia ist ein Zeichen dafür, dass die bezeichnete Sache solche Wörter offenbar nötig macht. Denn die Sache kommt allenthalben vor. Das erklärt auch den Riesenerfolg des kleinen Büchleins Bullshit (dt.) / On Bullshit (engl.) des Philosophen Harry G. Frankfurt.1 Humbug und Bullshit sind ja auch sonst Geschwister: Bullshit ist geredeter Humbug. Humbug ist getaner Bullshit. Beide geben bloß vor, etwas anderes zu sein, als sie sind. Dabei sind sie bloßes Gerede und – Betrug. In der Tat ist im englischen Ausdruck ›humbug‹ das Vorspielen und Vorgeben, die Angabe und der Betrug (pretense, fraud, hoax, deception, deluding trick) noch hör­barer als im Deutschen, das stärker dem englischen Zweitsinn, dem ›nonsense‹ entspricht. Allerdings hört man weder im Englischen noch im Deutschen heute noch aus dem Wort ›Sinn‹ heraus, dass seine Verneinung den Verlust von Orien­tierung bedeutet, dass also Unsinn Desorientierung ist und in einer allzu großen Abweichung von der richtigen Richtung im Urteilen und Handeln 
besteht.


Warum aber könnten solche Erwägungen zur linguistischen und vielleicht auch philosophischen Semantik von Schimpfworten wie ›Bullshit‹ und das inzwischen weit vornehmere ›Humbug‹ interessant sein? Nun, es geht darum, paradigmatische Fälle, welche völlig zu Recht verdienen, mit dem Wort belegt zu werden, als solche namhaft zu machen. Die Wörter fungieren dann als Warnschilder, aufgestellt um ganze Regionen der Desorientierung und der Sinnfreiheit herum, deren Grenzen freilich nicht immer leicht zu bestimmen sind. 


So, wie ich Philosophie verstehe, nämlich als Sinnkritik, ist sie unterscheidende Kritik aller Überschreitungen des Sinnvollen oder Richtungsrichtigen. Man gelangt dabei, oft ohne Absicht, also mit ehrlichster Gesinnung, in ein Gelände der Täuschung, der Illusionen und Desorientierungen, also des Humbugs. Nach dieser allgemeinen Vorklärung, der es nur darum geht, deutlich zu machen, wie die Warntafel ›Humbug‹ funktioniert, können wir einige Beispiele betrachten, die, wie im Untertitel versprochen, aus dem akademischen Bereich stammen. Dabei ist dies eben der Bereich, der, wie schon Platon, der Stammvater jeder Philosophie und Wissenschaft, klar weiß, sogar der bevorzugte Ort von sophistischem Humbug ist. Ich kann hier freilich die einschlägigen Gegenden bloß kurz skizzieren.


1. Überschreitungen disziplinaren Wissens und Moden in den Wissenschaften

Als erste Hinführung zu dem, was Humbug in den Wissenschaften ist, ­betrachten wir die Verlautbarungen aus einem zur Zeit finanziell besonders ­geförderten Bereich der Forschung, der Hirnforschung. Dabei ist von besonderer Bedeutung, genau zu bestimmen, für welchen Teilbereich das Warnschild gilt. Es wäre ja völlig anmaßend und falsch zu sagen, dieser Forschungsbereich sei insgesamt Unsinn. Das Problem betrifft die Überschreitung der Grenzen des Sinns. Solche Überschreitungen geschehen zum Beispiel überall dort, wo in einer Art Neurodidaktik behauptet wird, die Untersuchung des Gehirns hätte gezeigt, welche Art von Pädagogik die richtige ist, wie zum Beispiel: »Die Grunderkenntnis der modernen Neurobiologie heißt: Kinder, und zwar alle Kinder kommen mit ­einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt«.2 Das freilich wusste, wer überhaupt etwas wusste, immer schon. Die schöne neue Wissenschaft suggeriert dagegen, dass man es erst jetzt weiß. Man malt dabei unter ein traditionelles Alltagswissen ein hirnphysiologisches Fundament – ein klares Beispiel für wissenschaftlichen Humbug.3 Noch toller wird das dort, wo Hirnforscher praktisch dieselben Predigten wie andere Seelsorger zu Themen wie Gelassenheit und Freundschaft, Liebe und Geborgenheit oder allgemein zu Spiritualität halten, jetzt aber vermeintlich ›wissenschaftlich gestützt‹,4 oder gar in einer Neurotheologie die Areale im Gehirn vermessen, in welchen der Glaube an Gott seinen Ort hat. Im Vergleich dazu ist jede traditionelle Theologie eine absolut strenge Wissenschaft. Der Humbug besteht hier darin, dass der Schuster nicht bei seinem Leisten bleibt. 


Damit sehen wir auch die Gefahr der möglichen Überschätzung und falschen Bevorzugung von Interdisziplinarität. Denn wo diese dazu verführt, den vertrauten und bekannten Bereich des Wissens und Könnens der eigenen Schusterwerkstatt zu verlassen, ist das Ergebnis am Ende mit allzu großer Wahrscheinlichkeit – Humbug. Vielleicht gilt, was Schiller zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Transzendentalphilosophie in den Xenien gesagt hat, gerade auch für das Verhältnis von Interdisziplinarität und den ­etablierten Disziplinen: »Feindschaft sei zwischen euch, noch kommt das Bündnis zu frühe. Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.« Dazu freilich wäre die Rolle der Disziplinen-Bildung und das immer nur disziplinär erreichbare Ziel der Kanonisierung von nachhaltig-allgemeinem Wissen zu begreifen. Denn nur in Disziplinen gibt es eine kanonische Forschungs­matrix und ein kanonisiertes grundlegendes und aufbauendes Lehrwissen. Das Problem betrifft besonders die nicht auf direkte technische Anwendungen abzielenden Grundlagenwissenschaften. Damit ist nichts dazu gesagt, wie der Bereich sinnvoller Interdisziplinarität in anwendungsorientierter Forschung von einem Bereich verfrühter Interdisziplinarität und fachhochschulnaher Lehre zu unterscheiden ist. Wohl aber wird davor gewarnt, den Bereich nachhaltig funktionierender sach- und zielbestimmter disziplinärer Forschung und Lehre zu vernachlässigen. 


Dass allerlei Moden in gewissen Epochen eine Art Wissenschaftskonformismus bis hinunter zu den Lehrplänen bestimmen, zeigt sogar die exakteste aller Wissenschaften, die Mathematik. Nach einer bis heute noch allzu weit verbreiteten Vorstellung untersucht man in der Mathematik bloß relative Beweise aus so genannten Axiomen in rein deduktiven Strukturen. Unter der Deck­autorschaft »Nicolas Bourbaki« hat eine einflussreiche Gruppe von französischen Mathematikern dieses Programm systematisch verfochten. Eine axiomatische Mengentheorie wird dabei als vermeintliche Grundlage der Mathematik aufgefasst. Als Folge hat sich eine interessante, weil gröblich vereinfachte, Reform des Schulunterrichts in den 60er und 70er Jahren ergeben. Man malte Eulersche Diagramme mit überlappenden Kreisen in der Grundschule und meinte, mit einem Rückgang zu einer primitiven Logik aristotelischer ­Mereologie – und das unter dem Titel ›Mengenlehre‹! – eine bessere Grundlage für das Rechnen und das mathematische Verständnis zu legen als mit dem Lernen des Kleinen und Großen Einmaleins und anderen schematischen Rechen­regeln. Die Differenz zwischen einer axiomatischen Mengentheorie mit deduktiven Logikkalkülen und einer allgemeinen und doch rein mathematischen Logik von Relationen, Funktionen und Abstraktionen in mathematischen Gegenstandsbereichen wird dabei noch nicht einmal heute von allen Experten begriffen.


Es gibt auch andere Moden. Besonders beeindruckend sind die Systeme automatischer Sprach- und Informationsverarbeitung in Computer- und Robotermodellen. In großartigen Metaphern werden sie in eine kognitive Theorie der Verarbeitungen im Gehirn übertragen, und zwar selbst dort noch, wo die Differenz der Funktionsweisen von Synapsen und von ›festen Verdrahtungen‹ in Turing- bzw. von Neumann-Rechnern schon bekannt und anerkannt ist. Die Gefahr der Überschätzung der Leistungsstärke einer zunächst sehr guten Idee liegt hier mehr als nahe. Noam Chomskys Computerlinguistik verwandelt sich auf eben diese analogische Weise in eine kognitive Linguistik.


2. Staatliche Wissenschaftsplanung


Ein ganzer Kontinent des Humbugs tut sich auf, wenn wir die Systeme betrachten, mit denen man in unserem Staat und unseren Ländern wissenschaftliche Forschungsergebnisse planen möchte. Die Illusionen und Desorientierungen ergeben sich hier aus der Tatsache, dass das Finden von Ergebnissen immer noch weitgehend kontingent ist, also vom Zufall abhängt. Der Erfolg ist, wo er eintritt, also zumeist nicht durch ein von Anfang an zielorientiertes Handeln hervorgebracht. Er kann eben daher auch nicht vorab versprochen werden. Politiker aber und die Öffentlichkeit denken, es ließen sich hier Erfolge als Ergebnisse der Forschung direkt planen, so wie man Projekte planen könnte, wenn man das denn könnte. Denn an der Projektplankompetenz in diesem Land bestehen grundsätzliche Zweifel. Noch mehr zu zweifeln aber ist am Realitätssinn. Denn es ist pure Selbstüberschätzung zu meinen, man könnte heute schon wissen, was man morgen alles weiß und kann. Wir wissen noch nicht einmal, was man wissen und können könnte, wenn man denn heute vernünftig genug entschieden und geplant hätte. Wie dem auch sei, die große Landschaft des leeren Versprechens ist noch weitgehend unerforscht. Möglicherweise würde eine solche Forschung viel Geld sparen. 


Es ist also sowohl Humbug zu meinen, es ließe sich gute Wissenschaft eng auf eine erwünschtes Ziel hin planen, als auch, es sei von jeder Projektplanung zugunsten eines rein evolutionären Zufalls und der Durchsetzungskraft von Mehrheitsmeinungen Abstand zu nehmen. Im Vergleich zu dem, was Politik und Öffentlichkeit zu diesen Dingen zu wissen glauben, wissen wir zugleich mehr über gute Wissenschaftsplanung und -förderung als auch weniger. Das bessere Wissen stammt aus der Kenntnis der Geschichte der Entwicklung des Wissens der Menschen. Es lehrt uns Bescheidenheit. Es lehrt zugleich, welche Entscheidungen mit einiger Sicherheit in falsche Richtungen führen. Es besteht insbesondere darin, dass man wissenschaftliche Grundlagen-Forschung als das versteht, was sie immer wesentlich ist: Sie ist bloße Vorbereitung und Ermöglichung des kontingenten Findens von Lösungen, die man am Anfang gerade nicht kannte, ja möglicherweise nicht einmal erträumen konnte. Eine Gesellschaft, welche nicht mehr in der Lage ist, zwischen dem Sinn einer Suche nach möglicher Neuorientierung und der bloßen Verfolgung alter Wegzeichen zu unterscheiden, ist schon weitgehend aus echter Forschung mit ihrem offenen Risiko ausgestiegen. Der vormalige Präsident der Deutschen Forschungs­gemeinschaft (DFG) und jetzige Präsident der Leibniz Gemeinschaft, Matthias Kleiner, hat dies mit gutem Recht betont.


Die problematische Vorstellung, man könnte Effizienz direkt rein geldökonomisch steuern, schlägt durch bis zu den politischen Reformen der Gehaltsordnung für Hochschullehrer. Die gesamte Idee der Reform im W-System (wie ›Weniger‹ im Vergleich zu den C4- und C3-Professuren) ist Folge eines entsprechenden Humbugs. Man meint, durch ein System monetärer Anreize die Personen zum effektiveren, auf vorab nennbare Ziele und Anwendungen gerichteten Forschen und Lehren motivieren zu können. Die wahre Folge ist aber, wie der jetzige DFG-Präsident Peter Strohschneider in einer Grundsatzrede zum deutschen Forschungssystem in der Leopoldina am 25. Februar 2014 dies glasklar auf den Punkt gebracht hat: Früher wurden Mittel beantragt, um Ideen für Forschungen zu finanzieren, die im Laufe der Tätigkeit im akademischen Bereich und damit in der Interaktion von Lehre und Forschung entwickelt wurden. Heute suchen W-Professuren händeringend nach einem Vorwand, Drittmittel zu beantragen. Das ist die Folge von ›Zielvereinbarungen‹ mit der Universität. Das Wort ist der wunderbare Spross der ›Lernzielbestimmungen‹ der Pädagogik der 70er Jahre. Die ›Leistungszulagen‹ zur W-Besoldung werden so zu einem systematischen Bestandteil einer ›Politik‹ der Universitäten, die latente Unterfinanzierung wenigstens ein wenig auszugleichen. Kein Wunder, dass die ›Drittmittelgeber‹, besonders die DFG, trotz des gut funktionierenden Pakts für Forschung mit den entsprechenden Zuwächsen der Finanzierung durch den Bund, dem rasant wachsenden Volumen von Anträgen nicht nachkommen können. Die Bewilligungsquoten sind gerade dabei, unter 20 % zu fallen. Die Verwandlung von Forschern in Organisatoren, Formulierer und Gutachter von Anträgen ist in vollem Gange. Das hat natürlich auch Folgen für die Art der Beurteilung der Anträge. Es steigt die Bewilligung von ›Gutklang‹ – und damit immer auch von konservativer Konformität. Und alle Wertungswörter und Notengebungen erleiden in rasantem Tempo ein sowohl aus der Geschichte des Wertes des Geldes als auch des Wertes von lobenden Worten bekanntes Schicksal, das ihrer Inflation: Was nicht als superduperexzellent beurteilt wird, hat keine Chance auf Bewilligung. Alle echte Wissenschaft ist jedoch in der Realität des Alltags eher mühselig und unsicher. Institutionelle Regelungen, die das nicht berücksichtigen, besonders aber quantitative Kennziffern, welche auf die überzogenen Professionalitätsversprechen eines Publikationssystems im blind-referee-Verfahren vertrauen, die eine vermeintliche Objektivität und sogar Exaktheit der Kriterien vorgaukeln, sind reiner Humbug.


3. Pädagogisierung


Nicht nur im Bereich der Forschung, gerade auch in der Lehre weiten sich die Territorien des Humbugs aus. Dabei ist kaum zu sagen, wie dramatisch die Folgen sein werden, zumal sich wenig so schwer beurteilen lässt wie die Differenz zwischen einer möglichen guten Zukunft als Folge richtungsrichtiger institutioneller Entscheidungen und der faktischen Zukunft, die sich aus den Desorientierungen gegenwärtigen Humbugs ergibt. 


Nun ist gerade die Philosophie an der paideia, an der Bildung von Personen interessiert. Doch Pädagogik und Didaktik überschreiten ihren begrenzten Sinn, wo sie ihre dienende Rolle verlassen und die Herrschaft der Ausbildung, gerade auch von Lehrern, übernommen haben. Dabei gibt es kaum eine größere Gefahr für Bildung in unserer Gesellschaft als diese Herrschaft der Didaktik über Wissenschaft und Lehre in einer bloß vermittlungstechnischen Ausbildung. Es entstehen so auf allen Ebenen bloße Ausbilder (von Ausbildern). Dabei denke ich nicht nur an den Humbug einer Hochschuldidaktik, wie sie erst möglich wird, nachdem man nicht mehr versteht, dass das Hochschulstudium früher einmal nicht anders als jede Form der Gesellenausbildung als Einführung in eine gemeinsame Tätigkeit von Forschern und Studierenden gedacht und organisiert war, wie das in den Arbeitsgruppen der Natur- und Technikwissenschaften ja noch sehr gut funktioniert. Ich denke eher daran, dass Didaktiker zu typischen Medienwissenschaftlern mutieren, welche sich generell bloß an der Vermittlung von reproduzierbarem ›Wissen‹ in der Form von Satzsystemen orientieren – als ob jemand gebildet wäre und etwas wüsste, wenn er nur das jeweils vermeintlich Richtige und Gute sagen oder schreiben kann. 


Das Hauptproblem der Lehrerausbildung in Deutschland besteht darin, dass die auszubildenden Lehrer zeitgleich mit der Einführung in die Disziplin, sei diese Mathematik, Physik, deutsche Sprache, Literatur, Religion oder Ethik, gleich die didaktische Vermittlung der noch kaum oder nicht durchdrungenen Sache in der Schule ›lernen‹ sollen. Dabei hätte gerade die Bologna-Reform die Möglichkeit eröffnet, hier endlich einmal institutionell die richtigen Weichen zu stellen. So gab es nicht nur in Leipzig Ansätze zu einem sogenannten 
Y-Modell der Hochschulausbildung, das vorsah, die Standards anderer Länder zu übernehmen, nach denen die Entscheidung, ob man Lehrer an einer (höheren) Schule werden will, erst nach einem ersten Examen, also nach dem Grundstudium mit dem Examen des Bachelor oder ›Gesellen‹ fällt. Das würde verlangen, dass man das Grundstudium nicht mit einer verfrühten Fachdidaktik überfrachtet – wobei man die Grundschullehrer immer noch besonders behandeln könnte, in angemessener Adaption der klassischen Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen in sechs bis acht Semestern. In Sachsen wurde diese nötige Reform der Lehrerausbildung auf doppelte Weise gestoppt. Erstens wurde in Dresden die nötige Strukturreform der sächsischen Hochschulausbildung, die Konzentration der Lehrerausbildung in Leipzig, einfach unterlaufen. Zweitens entschied das Schulministerium, dass für die Lehrerausbildung insgesamt das alte System des Staatsexamens wieder eingeführt wird. Damit wird natürlich die gesamte Bologna-Reform ad absurdum geführt. Wenn das nicht orientierungsloser Humbug ist, dann gibt es keinen. So sieht das auch jeder Kenner der Dinge außerhalb Sachsens, was aber keineswegs heißt, dass dort die Dinge nicht ähnlich verquer laufen. Die Folge ist, dass die Lehrerstudenten praktisch überall ab dem ersten Semester eine Art Monopol besitzen, also sich nicht mehr mit den in den Disziplinen fachlich besser gebildeten Studierenden messen müssen. 


So wie es vorkommen soll, dass sich in Japan Frauen während der Schwangerschaft Bücher auf den Bauch legen, um die Lesefähigkeit ihres Nachwuchses zu verbessern, werden jetzt also embryonale Lehramtsstudierende schon in der Vermittlung eines nicht vorhandenen Wissens geübt – nachdem sie aus dem Kindergarten der Schule in eine pädagogisierte Lehrerausbildung gefallen sind. Als Kinder wollen sie natürlich ›Anleitungen‹ haben, wie denn der ›Lehrplan‹ zu vermitteln ist. Die sogenannten Erziehungswissenschaften kommen dieser Bitte gerne nach und suggerieren, das gute Lehren sei eine bloße Technik. Welcher Typ von Lehrern aus einer solchen ›Ausbildung‹ erwächst, ist nicht schwer vorherzusagen. Nur wird sich in 20 Jahren niemand je an die Warnung erinnern. Daher wird man glücklicherweise auch nicht nach den Ursachen der dann eingetretenen Folgen forschen.


Dass Humbug Folge von Täuschung ist, sieht man hier dennoch heute schon. Getäuscht werden sozusagen alle, sogar die, welche für die Täuschung verantwortlich sind, wie zum Beispiel die Ministerien für Wissenschaft und für Schule. Sie heißen daher ›Selbsttäuscher‹. In unserem Land zum Beispiel wird der Finanzminister getäuscht. Denn die für Sachsen nötigen Strukturentscheidungen und Schwerpunktbildungen in Forschung und Lehre werden nicht umgesetzt. Es wird die Öffentlichkeit getäuscht, etwa wenn der Wohlklang der frühen ›Didaktik‹-Ausbildung der Lehrer über die Tatsache hinwegtäuscht, dass falsche Incentives die falschen Personen in den Lehrerberuf locken. Es werden die Studierenden getäuscht und später dann enttäuscht, wenn sie jetzt meinen, die Vermittlung des ›Lehrplanes‹ reiche aus, um ein Leben als Lehrer durchzustehen. Und es werden ganz besonders die Schüler in den Schulen enttäuscht, und zwar sowohl die, welche nur wenig Anleitung zur Selbstbildung brauchen, als auch die, welche mit Lernschwächen aus sozialen Ursachen zu kämpfen ­haben. Denn jede ›Didaktik‹ zum Beispiel der Mathematik taugt nicht, wenn man nicht begreift, welche Techniken in welcher Reihenfolge zu vermitteln sind. Dazu muss man in unserem Beispielfall weit mehr Mathematik verstehen, als die angehenden Lehrer in ihrer frischen Naivität von der Schule her und die Allgemeindidaktiker von ihrer Profession her je wissen können.


4. Hochschulpolitik und Forschungsförderung 


Während eine regionale Politik für Schule und Hochschule eine der wenigen guten Gründe sein könnte, warum sich ein im Vergleich mit ernst zu nehmenden anderen Staaten so kleines Land wie Deutschland 16 Bundesländer leistet, tendieren die Regionalpolitiker der Länder nicht anders als ihre Vorgänger, die Duodezfürsten im regional zersplitterten Deutschland, zu einer Sonnenkönigpolitik mit Mitterand-Effekt. Das heißt, man möchte sich ein Denkmal setzen, nach Art der Pyramide im Louvre oder dem Centre Pompidou – wobei hierzulande weniger Gebäude entstehen als eine ›regionale Wirtschaftsförderung‹, die der viel nötigeren Bildungspolitik den Rang abläuft. Möglicherweise sind daher die Länder gar nicht steuerlich unterfinanziert, sondern in den falschen Bereichen überambitioniert und dort auf falsche Weise aktiv. Denn auch die Entwicklung der Wirtschaft lässt sich nicht direkt planen, vorhersagen oder versprechen. Hier wirken steuerliche Anreize zusammen mit Sonderhilfen für zufällig in Not geratene Unternehmen im Nachhinein möglicherweise weit besser als vorab groß geplante Investitionen. Der Humbug der eigenen Landesbanken und der in ihnen versenkten Milliarden in praktisch allen Bundesländern spricht hier Bände. Aber auch aus den problematischen Landesförderungen 
zum Beispiel der Solar- und Halbleitertechnik werden kaum Lehren gezogen. Könnte es sein, dass die Vernachlässigung der Geisteswissenschaften das hochintelligente Ziel verfolgte, die Erinnerung an Fehlentscheidungen früherer Politik zu verhindern?


Immerhin sind die Finanznöte der Länder ernst zu nehmen. Dabei löst allerdings die Forderung nach einer Aufhebung des Kooperationsverbots von Bund und Ländern das Problem der Landesfinanzierung der Hochschulen nicht. Denn eine zentralstaatlich geplante Hochschullandschaft ist mit einiger Sicherheit noch schlechter als der Wettbewerb der chronisch unterfinanzierten Universitäten der verschiedenen Länder Deutschlands.


Jetzt ist es sicher ein unverzeihlicher Tabu-Bruch, wenn auch nach den tollen Erfolgen der Exzellenzinitiative Zweifel angemeldet werden. Angesichts des bis dato recht gut funktionierenden Wettbewerbs der Hochschulen sowohl in den Ländern, wie etwa Tübingen, Freiburg, Konstanz und Heidelberg in Baden-Württemberg, als auch zwischen den Ländern, man denke nur an Sachsen und Berlin, ist das Ziel, nationale Leuchttürme mit internationaler Leuchtkraft zu produzieren, möglicherweise gerade deswegen Humbug, weil die herzustellenden Monopole dem Wettbewerb langfristig Schaden zufügen werden. Man fällt hier ganz offenbar auf Metaphern herein – diese verführende Macht der Worte kennen am Ende doch Geisteswissenschaftler besser als Politiker und Techniker. Falsche Analogien sind zum Beispiel die zu den beiden Traditionsuniversi­täten Oxford und Cambridge oder zu Harvard, Stanford und Princeton. Die Lage in Deutschland ist anders, in manchem vielleicht besser als in den Vergleichsländern, wenn man sie zu analysieren verstünde. Stattdessen kniet man vor teils selbst ernannten, teils nicht sehr aussagekräftigen Rankings aus Shanghai nieder.


Nun hat die Initiative die Universitäten aufgefordert, Cluster zu bilden. Es hat sich also tatsächlich viel bewegt. Wer aber sagt uns, dass die Liebe der Deutschen zu Bewegungen aller Art kein Humbug ist? Schon das Wort ›Cluster‹ klingt ja bei offenem Ohr unverkennbar nach Bullshit. Man bedenke außerdem Goethes Wort aus den Zahmen Xenien: »Je mehr man kennt, je mehr man weiß, erkennt man: alles geht im Kreis«. Man kann ohnehin getrost abwarten, ob sich aus den ›Ergebnissen‹ überhaupt ein nachhaltiges Wissen ergibt. Denn die Exzellenzinitiative war und ist, was immer sie sonst auch sein mag, eine ­gigantische Maschine der Produktion von Post-Docs. Leider wird man aber auch später nicht lernen, wenn die Ergebnisse gegenwärtiger Clusterforschung am Ende weitgehend ephemer bleiben sollten. Nichts vergisst sich so leicht wie ein bloß vermeintlicher Wissenszuwachs. Denn ein solcher weist sich gerade darin als scheinbar aus, dass er dem Vergessen anheim gegeben wird.


Das Wort ep’hemera stammt von Pindar, der die Eintagsfliege des Ruhms von Olympioniken kennt, wenn dieser nicht nachhaltig gemacht wird – etwa durch ihn selbst, den Dichter und Sänger des Gedächtnisses der Ehre. Genauer auszuführen, wie wichtig eine solche nichtmonetäre Ökonomie der Ehre für das Funktionieren von Wissenschaft, Forschung und Lehre, aber auch von Politik und Gesellschaft ist, womit wir die Bedeutung der historischen Geisteswissenschaften als Gedächtnis der Institutionen immerhin schon erahnen könnten, würde freilich den Rahmen dieser Überlegungen sprengen. Zu erwähnen aber ist der Punkt, und zwar weil es kaum einen größeren Humbug gibt als die kurzsichtige Verachtung der Geisteswissenschaften und Philosophie sowohl bei Politikern als auch in manchen technischen und naturwissenschaftlichen Denkprovinzen. 


Die Gefahr des bloß Ephemeren der Ergebnisse der Deutschen Forschungsförderung von Graduierungen (DFG) liegt dann natürlich gerade auch am systemischen Umfeld und der zum Teil schon angeschnittenen Probleme der Antrags- und Bewilligungspraxis: Die zwei bis drei Jahre dauernden Projekte der Einzelförderung können ja schon von ihrer Form her bestenfalls der Nachwuchsausbildung dienen. Denn eine Karriere als Forscher, der sich über eine Folge von Projekten finanziert, ist in unserem Land aufgrund des Arbeitsrechts unmöglich. Wenn man schon weiß, dass die angegebenen Forschungsziele ­ohnehin mehr versprechen müssen, als man halten kann, dann kann man sich außerdem ja damit beruhigen, dass wenigstens gute Promovenden und Post-Docs gefördert werden. Doch betrügen wir so nicht gerade diejenigen, die den impliziten Versprechen des Systems vertrauen? Das Überangebot im Bereich des akademischen Nachwuchses ist ja eine unleugbare statistische Tatsache, ebenso wie das zu große Risiko und die zu lange durchschnittliche Verweildauer im akademischen Bereich vor Erwerb einer ›Dauerstelle‹.


Eine echte qualitative Evaluation sowohl der Versprechen als auch der Ergebnisse von Forschung ist allerdings, wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, keineswegs einfach. Und dennoch müssen wir, vielleicht in einer Art dauernd umstrittenen streitbaren Diskurs, vernünftige Erwartungen von unvernünftigen abheben, glaubwürdige Versprechungen von unglaubwürdigen, also vermutbar richtungsrichtige Orientierungen von Humbug, obwohl man, wie gesehen, nicht einmal im Nachhinein klar und sicher oder gar quantitativ die Erfolge messen kann. Und wir können insgesamt ganz gut urteilen, jedenfalls in einem gewissen Ausmaß und Kernbereich. Es wäre offenbarer Humbug zu behaupten, dass wir nicht zwischen Gelb und Grün unterscheiden können. Das Kontinuum der Welt verbietet hier und oft auch sonst Versprechungen ­exakter Differenzierungen und verlangt einen Umgang mit unklaren Übergängen in kontextsensitiver Erfahrung. Daher können wir auch oft vorweg sagen, was sinnvoll oder richtungsrichtig, was sinnfrei oder desorientierend ist, das aber nie rein nach schematischen Regeln. 


Es wäre also pure Sehschwäche oder Legasthenie, wenn wir nicht mehr zwischen ernst zu nehmenden Planungen, richtungsrichtigen institutionellen Entscheidungen und leeren Versprechen im Wissenschaftssystem unterscheiden würden. Wir würden dann die Infrastrukturvorteile des ererbten Wissenschafts- und Forschungssystems in unserem Land höchstwahrscheinlich verspielen. Zentrale Schwachstellen sind dabei, wie Peter Strohschneider völlig klar erkennt, tatsächlich die Universitäten – aber auch allerlei Spin-Doktoren, die sie heilen möchten, und allerlei Geldgeber, die sie nicht aus allgemeinem Geldmangel, sondern aufgrund einer falschen Politik verhungern lassen.


  1. 1Vgl. Harry G. Frankfurt, On Bullshit, Frankfurt a. M. 2006, Erstveröffentlichung 1986 in Raritan Quarterly Review, als Buch 2005 bei Princeton University Press. Vgl. aber auch Max Black, The Prevalence of Humbug, Ithaca, NY 1985 oder http://www.ditext.com/black/humbug.html (7.3.2014).

  2. 2Vgl. Gerald Hüther, »Auf die Atmosphäre kommt es an – Erkenntnisse und Konsequenzen für das Gelingen von Bildungsprozessen aus der Hirnforschung«, in Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (Hg.), under construction. art as a learning environment. Dokumentation zum internationalen Symposium am 23. und 24. September 2009 in Bonn, S. 20–25, hier S. 21, http://www.montag-stiftungen.de/fileadmin/Redaktion/Jugend_und_Gesellschaft/PDF/Projekte/under_construction/Under_Construction_Dokumentation_web.pdf (7.3.2014).

  3. 3Vgl. Gerhard Roth, Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Stuttgart 2011; ders., Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich zu ändern, Stuttgart 2013. Gerald Hüther, Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 1999; ders. und Karl Gebauer, Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung, Düsseldorf 2001.

  4. 4Vgl. Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld 2012.
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Heft 12 (2014)
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