Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit
Band 3: 1689. Herausgegeben von Udo Sträter und Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde, Mohr Siebeck, Tübingen 2013, XXXVI + 662 Seiten, Festeinband
Die Edition der Briefe des lutherischen Theologen und ›Vaters des Pietismus‹ Philipp Jakob Spener (1635–1705) ist um den nunmehr neunten Band erweitert worden. Damit liegen drei von vier Bänden für das Editionsmodul vor, das die Briefe aus seiner Zeit als Oberhofprediger in Dresden (1686–1691) beinhaltet. Im neuen Band werden insgesamt 140 Briefe aus dem Jahr 1689 ediert. Wie schon bei den vorherigen Bänden erweist sich der Theologe als ein vielseitig informierter Gesprächspartner, in dessen Epistolarium sich eine große Bandbreite des gesellschaftlichen Diskurses seiner Zeit spiegelt. Weit über die eigentlichen theologischen, kirchenpolitischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Fragen hinausgehend, zeigt er sich informiert über die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem französischen König Ludwig XIV. und dem Alten Reich und bietet, gleichsam als Vordenker in seiner Kirche, eine theologische und heilsgeschichtliche Deutung der Ereignisse. Speners Briefwechsel erweist sich jedoch nicht nur als überregionales, ja sogar internationales ›Informationsmedium‹ für die Zeitereignisse, dem er seine eigene Deutung mit unterlegt, sondern er zeigt auch, wie der Dresdner Oberhofprediger selbst Akteur ist. Ganz konkret zeigt sich dies in der Behandlung der Bitte des Rates der Reichsstadt Rothenburg o. d. T. um finanzielle Unterstützung für Kriegsopfer im – genannten – deutsch-französischen Krieg 1688 ff. Hier geht es um die Vermittlung einer in der sächsischen Kirche durchgeführten Kollekte. Aber Spener setzt sich auch ganz persönlich und – gewissermaßen privat – für die Opfer des Krieges ein. Wenn nicht er selbst, so hatten doch Familienangehörige schon seit Jahren unter den Expansionsbestrebungen Frankreichs (realisiert unter dem Namen ›Reunion‹) zu leiden, deren eine Folge der Versuch der Zurückdrängung des lutherischen Glaubens in den von Frankreich beeinflussten Gebieten war. Über seine Frankfurter Korrespondenzpartnerin Anna Elisabeth Kißner vermittelte er finanzielle Unterstützungen durch sich selbst und seinen sächsischen Freundeskreis für Bekannte im gesamten Südwesten Deutschlands.
Ein für die sozialgeschichtliche Forschung interessantes ›Kleinod‹ sind die wenigen, aber ausführlichen Briefe, die Spener an eine seiner Töchter schrieb – zu Beginn ihrer Ehe mit dem Superintendenten Christian Gotthelf Birn baum, und an seinen Sohn Johann Jacob, der sich im Studium mit medizinischen und physikalischen Fragen beschäftigte (und u. a. mehrfach den sächsischen Forscher Ehrenfried Walther von Tschirnhaus besuchte).
Den Themenschwerpunkt bilden freilich Fragen von Theologie, Kirche und Frömmigkeit, die Spener mit seinen Korrespondenzpartnern intensiv bespricht. Dabei ist das hier abgebildete Jahr 1689 von großer Bedeutung, weil in diesem Jahr die von Spener ausgehende Art von Frömmigkeit ihren Namen erhält: ›Pietismus‹ bzw. personalisiert ›Pietisten‹. August Hermann Francke, der später der wirkmächtigste der Schüler Speners werden sollte, begann in diesem Jahr in Leipzig Studenten und bald auch Bürger in eigenen Collegia zu sammeln, die – in unterschiedlicher Weise durchgeführt – einen Bibellektürekreis darstellten. Nicht nur die eingespielten Abläufe und Verhaltensweisen der Universität, sondern auch die Lebensweise in der Stadt, die mit klaren Abgrenzungen der einzelnen sozialen Schichten operierte, wurde damit – wenn auch nicht gezielt – infrage gestellt. Spener, der seit dem Frühjahr 1689 beim sächsischen Kurfürsten in Ungnade gefallen war (auch dies wird ausführlich in den nun vorliegenden Briefen beschrieben), versuchte als Oberhofprediger und Mitglied des sächsischen Oberkonsistoriums beruhigend einzuwirken, freilich nur mit mäßigem Erfolg. Flankiert wurden diese ›soziopolitischen‹ Ereignisse durch theologische Fragestellungen, die im Umfeld von Menschen, die Spener mehr oder weniger nahe standen, aufgeworfen wurden: Welche Bedeutung haben die sogenannten ›guten Werke‹ für das Leben eines evangelischen Christen? Kann es so etwas wie ›Wachstum‹ im Glaubensleben geben, das sich auch interpersonell zeigt? Ist so etwas nötig, um die – von vielen beklagten – kirchlichen Miss-Stände zu beheben? Oder ist auf ein besonderes und unverfügbares Eingreifen Gottes zu warten, das mit einer bestimmten Form chiliastischer Hoffnung auf ein ›Tausendjähriges Reich‹ verbunden wird? Spener, der in seiner Programmschrift Pia Desideria oder Fromme Wünsche zur Besserung der evangelischen Kirche schon im Jahr 1675 Fragen dieser Art aufgeworfen hatte, muss erleben, wie sie von solchen, auf deren Unterstützung er in seinem Anliegen hofft, teilweise missverstanden werden und gelegentlich heterodox oder wenigstens mit einer inhärenten oder offensichtlichen Separation von der Kirche, der er dienen will, gedeutet und realisiert werden. Dies alles wird im Jahr 1689 in größerem Stil deutlich, sodass manche Forscher die Geschichte des Pietismus erst zu diesem Zeitpunkt beginnen lassen.
Die Briefe des vorliegenden Bandes bieten einen bislang noch nicht erreichten Einblick in die Entwicklung dieser Phase des Pietismus aus der Sicht des Mentors der neuen Frömmigkeitsbewegung. Ergänzt um ausführliche Regesten, die vor allem bei den lateinischen Briefen eine gute Hilfe darstellen, einen textkritischen Apparat und eine historische Kommentierung, die die vorgelegten Texte so weit wie möglich in ihre Zeit einlesen, bildet der vorgelegte Band einen wichtigen Baustein der gesamten Spenerbriefedition, der der – interdisziplinär arbeitenden – Frühneuzeitforschung nützlich sein wird.