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Europäische Metropolen der Moderne (1850–1900)1

Fragt man nach den Kennzeichen der Metropole der Moderne, so gehört zu den wichtigsten ihr unbedingter Wille, modern zu sein. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Weltausstellungen das wichtigste Medium der Selbstverständigung über diese Modernität. Denn hier wurden die Standards moderner Urbanität verhandelt, wie sie über Europas Grenzen hinaus zunehmend als verbindlich betrachtet wurden. Jürgen Osterhammel hat von »Selbstverwestlichung« gesprochen.2 Dabei fand eine »Selbstverwestlichung« oder Europäisierung auch in Europa selbst statt: Elias Canetti berichtet für das frühe 20. Jahrhundert aus seiner Heimatstadt, dem bulgarischen Rustschuk, »wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa«.3 Und diese Differenzerfahrung machte sich nicht zuletzt an Standards von Urbanität fest, an Gebäudehöhen oder gepflasterten bzw. unbefestigten Straßen. Zu diesem Zeitpunkt war die von Canetti implizierte Gleichsetzung von Europäizität und Modernität aber nicht mehr unumstritten, beanspruchten doch längst nordamerikanische Großstädte eine weltweite Vorbildfunktion. Auch hier kann man sich an den Weltausstellungen orientieren. Die 1853 in New York veranstaltete World’s Fair wurde noch so wenig beachtet, dass sie in den meisten Darstellungen zur Geschichte der Weltausstellungen gar nicht berücksichtigt wird. Das war 1876 bei der Bicentennial Exposition in Philadelphia schon anders, aber erst gegen Ende des Jahrhunderts ging die Führungsrolle an die USA über. Schon im Vorfeld der World’s Columbian Exposition von 1893 in Chicago hatte es geheißen, mit Blick darauf werde der Pariser Vorläufer wie »ein bloßer Dorfmarkt neben einer kolossalen Ausstellung« erscheinen.4 Das mochte übertrieben sein, doch ist unübersehbar, dass die Hauptattraktionen der Pariser Weltausstellung von 1900 – der Palais d’Electricité und das den Besuchern als Transportmittel angebotene Laufband – 
Neuheiten waren, die schon in Chicago zu sehen gewesen waren.

Eine solche chronologisch angelegte Skizze darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das, was die Metropole und ihre Modernität ausmachte, durchaus umstritten war. Lobredner des Parvenues unter Europas Metropolen, Berlin, erklärten gerne die amerikanischen Großstädte zu Vorbildern, konnte das etwa von Walter Rathenau gepriesene ›Chicago an der Spree‹ in Sachen Technik doch gut mithalten, während hinsichtlich der Geschichte und Monumentalität ihrer Architektur Paris und London unerreichbar schienen. Gegenpol zu Berlin, später auch ›Elektropolis‹ genannt, war in mehr als einer Hinsicht Wien, von Zeitgenossen wie Werner Sombart dafür gefeiert, dass es sich der Moderne widersetzte. Diese Einschätzung blieb umstritten, während eine andere Beobachtung des berühmten Nationalökonomen und Mitbegründers der Soziologie in Deutschland kaum zu bestreiten war: »Und es schien fast«, so meinte er 1908 rückblickend, »als habe schon 1889 die Ausstellung in jeder Form ihr Ende erreicht, als in Paris das Wahrzeichen der modernen Kultur: der Eiffelturm aufgepflanzt und in der Tat eine unerreicht glänzende Veranstaltung in der Jubiläumsausstellung verwirklicht worden war.«5 Sombart hatte zu diesem Zeitpunkt selbst schon die Weltausstellung von 1904 in St. Louis besucht, sah in den amerikanischen Ausstellungen aber offensichtlich kein Indiz für eine anhaltende Konjunktur des Mediums. Und in der Tat bildet die Jahrhundertwende in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur: Zwar traten für Teilbereiche bald funktionale Äquivalente wie die modernen Olympischen Spiele hervor. Aber über die Standards moderner Urbanität wurde doch anderenorts gestritten, nicht zuletzt auf den internationalen Kongressen von Gesundheitsexperten und Städteplanern, die sich im späten 19. Jahrhundert aus ihrem Ursprungskontext der Weltausstellungen gelöst hatten.

Der zeitliche Rahmen unserer Betrachtung ist also nicht willkürlich gewählt: Zu dessen Beginn war selbst London – die größte Stadt der Welt – eine walking city, die kaum über einen Kreis mit einem Radius von drei Meilen um Charing Cross hinausreichte. Die dort 1851 stattfindende Great Exhibition of Works of Industry of All Nations knüpfte in vielerlei Hinsicht an frühere Gewerbe- und auch Kunstausstellungen an, unterschied sich aber schon durch den globalen Anspruch grundlegend: »In ihr«, so urteilten die Zeitgenossen Marx und Engels, berufe die englische Bourgeoisie 


ihre sämtlichen Vasallen von Frankreich bis China zu einem großen Examen zusammen, auf dem sie nachweisen sollen, wie sie ihre Zeit benutzt haben […]. Die Bourgeoisie der Welt errichtet durch diese Ausstellung im modernen Rom ihr Pantheon, worin sie ihre Götter, die sie sich selbst gemacht, mit stolzer Selbst­zufriedenheit ausstellt.6

In London unterstrich 1851 schon das bald Crystal Palace getaufte und vom Architekten Joseph Paxton entworfene Ausstellungsgebäude diese Aussage. Geradezu futuristisch wirkte die 563 Meter lange, 124 Meter breite und bis zu 
33 Meter hohe Metall-Glas-Konstruktion. Zudem schien der Bau das Versprechen zu verkörpern, dass das heranbrechende Industriezeitalter nicht zwangsläufig den Niedergang älterer ästhetischer Standards bewirken müsse, sondern vielmehr eine neue, moderne Ästhetik hervorbringen könne. Eisen und Glas waren zur Jahrhundertmitte noch wenig verbreitete Materialien und zuvor vor allem in der gleichfalls symbolträchtigen Bahnhofsarchitektur der Metropolen verwandt worden. Vor allem aber unterstrich die Architektur den flüchtigen, transitorischen Charakter des Gebäudes und verkörperte so die Beschleunigung als Grundprinzip der Moderne. Georg Simmel schrieb 1896 der Ausstellungsarchitektur »den Charakter einer Schöpfung für die Vergänglichkeit« zu, betonte aber zugleich: »weil ihnen dieser unmissverständlich aufgeprägt ist, wirken sie absolut nicht unsolid«.7

Die Architektur machte sicherlich einen Teil der Anziehungskraft der ersten Weltausstellung aus, die zugleich den Beginn des modernen Massentourismus und damit eines zentralen Elementes moderner Massen- und Metropolenkultur markierte. Für viele der sechs Millionen Besucher der Great Exhibition dürfte es sich zugleich um ihre erste Reise nach London gehandelt haben und nicht nur für sie waren die Attraktionen der ›world city‹ kaum weniger wichtig als die Weltausstellung selbst.8 Schon innerhalb des Ausstellungsgeländes im Hyde Park konkurrierten Vergnügungsangebote mit den erzieherischen und aufklärerischen Absichten der Organisatoren. Das galt umso mehr vom übrigen Kultur- und Unterhaltungsangebot der Stadt, das sich rasch auf den massenhaften Zustrom einstellte. Das British Museum verlängerte seine Öffnungszeiten, die National Gallery verschob die Sommerferien, und auch Madame Tussaud’s, der Zoo, die Theater und die ersten music halls profitierten von den zahlreichen Besuchern. Welches Gewicht Konsum und Unterhaltung besaßen, die damit in neuer Weise zu Markenzeichen moderner Metropolen wurden, zeigte sich, als nach Schließung der Ausstellung über die Zukunft des Ausstellungsgebäudes gestritten wurde. Ein Konsortium an der Organisation der Weltausstellung maßgeblich Beteiligter erwarb schließlich das Gebäude und baute es im weiter südöstlich gelegenen Sydenham wieder auf. Dort wurde es rasch zu einem beliebten kommerziellen Vergnügungszentrum, das in den ersten dreißig Jahren nach seiner Einweihung durch Königin Victoria im Juni 1854 durchschnittlich zwei Millionen Besucher im Jahr anzog. Dass es rasch den Namen People’s Palace annahm, zeigt den Stellenwert an, den dieses frühe Symbol einer kommerzialisierten Massenkultur für die Londoner Arbeiterschaft besaß.


Die Symbol- und Ausstrahlungskraft des Crystal Palace ist kaum zu überschätzen. Schon bald gab es Nachbauten nicht nur in New York, München und Paris, sondern auch in kleineren Städten wie Groningen. Auch spätere Weltausstellungen wurden mit architektonischen Ikonen der Moderne identifiziert, so etwa die wegen des Ausbruchs der Gründerkrise und einer Choleraepidemie unter keinem guten Stern stehende Wiener Ausstellung des Jahres 1873 mit der im Volksmund als ›Guglhopf‹ bezeichneten Rotunde. Aber wichtiger als einzelne architektonische Ikonen, die zu Wahrzeichen einer Metropole wurden, war der Umbau einer solchen Metropole, wie ihn die Besucher der Pariser Weltausstellungen der 1850er und 1860er Jahre miterleben konnten. Louis-Napoléon Bonaparte hatte noch als Präsident der Zweiten Republik die französische Teilnahme an der Great Exhibition forciert. Nach seinem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 und mit dem im Jahr darauf plebiszitär begründeten Kaisertum des autoritären Herrschers rückte die ausländische Anerkennung ins Zentrum seines Interesses. Insofern wurde die geringere Besucherzahl und das finanzielle Defizit der für das Jahr 1855 anberaumten Weltausstellung in Paris allein durch den Besuch der Königin Victoria kompensiert, die ihrerseits zufrieden in ihrem Tagebuch notierte: »England and the colonies make a very fine show«.9 Von ihrem englischen Vorbild unterschied sich die Ausstellung zum einen durch die systematische Einbeziehung der bildenden Künste, zum andern durch die Wahl eines dauerhaft errichteten Gebäudes als Veranstaltungsort. Der Palais de l’industrie wirkte gegenüber dem Crystal Palace aber schon deshalb weniger zukunftsweisend, weil seine Eisen- und Glaskonstruktion »allseitig mit massiven Kalksteinmauern in Art von Palastfassaden verbrämt« wurde.10 Gleichwohl verband die Wahl des Ausstellungsgeländes an den Champs-Élysées die Weltausstellung mit dem zukunftsweisenden Programm des Umbaus von Paris, das Napoléon III. mit seinem Präfekten Georges-­Eugène Haussmann vorantrieb.


Neben dem nicht immer erfolgreichen Ringen um klare Sichtachsen und der Schaffung großer Plätze war es die erzwungene Gleichförmigkeit der Gebäude hinsichtlich der Höhe und Geschosszahl, der Ausführung oder der Fensterzahl, welche einen einheitlichen horizontalen Eindruck schuf und die optische Wirkung des neuen Paris ausmachte. Die große Ost-West-Achse wurde durch die Verbindung der Rue de Rivoli mit der Rue Saint-Antoine ebenso fertiggestellt wie die Anbindung der Gare de Lyon, der Gare Saint-Lazare und der Gare de l’Est durch großzügige Boulevards und die völlige Umgestaltung der Île de la Cité zum Gerichts- und Behördenzentrum. Die neuen Straßen mit ihrer Breite von etwa dreißig Metern, ihrem Baumbestand, ihrer Gasbeleuchtung und ihrem Makadam-Belag hatten wenig mit den alten Gassen der Stadt gemein und trennten erstmals sorgsam Fußgänger und Straßenverkehr. Mindestens ebenso wichtig waren andere Neuerungen im Bereich der städtischen Infrastruktur, oberhalb wie unterhalb der Erde. Unterirdisch wäre etwa an das von Eugène Belgrand konzipierte und zentral für Gesamtparis ausgelegte Kanalisationssystem zu denken. Es fungierte als reines Abwassersystem, neben dem die Leerung der Sinkgruben bis in die 1890er Jahre fortbestand. Der zeitgenössischen Begeisterung des In- und Auslands tat dies keinen Abbruch. Mit der Weltausstellung von 1867 begann die Stadt, Rundfahrten durch das städtische Kanalisationssystem anzubieten – ein Angebot, das von Zar Alexander II. 
ebenso wie von Wilhelm I. und zahllosen weniger prominenten Besuchern genutzt wurde. Oberirdisch wären unter anderem die Parks zu nennen: Als ›grüne Lungen‹ der Stadt angelegt, wurden sie bei späteren Weltausstellungen in das erweiterte Ausstellungsgeschehen einbezogen. Dass 1900 im Bois de Vincennes auch die zweiten Olympischen Spiele der Moderne stattfanden, unterstreicht nur die enge Verwandtschaft dieser Großveranstaltungen. Diese Bezüge zwischen den Weltausstellungen (oder Olympischen Spielen) und großstädtischer Infrastrukturentwicklung, wie sie auch bei kleineren Weltausstellungen wie der von 1888 in Barcelona zutage traten, wurden im Pariser Kontext 1867 noch sehr viel offensichtlicher. Neben einigen neuen Pferdebuslinien nahmen auch die Touristenboote auf der Seine ihren Betrieb auf, ganz so wie um 1900 die wichtige Metrolinie 1 von der Porte Maillot zur Porte Vincennes.

Der mit dem Namen Haussmann verbundene Umbau von Paris setzte städte­bauliche Maßstäbe und war doch zugleich die große Ausnahme in der euro­päischen Städtebaugeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn nur mit den ihm verliehenen und bis an die Grenze ausgereizten Sonderrechten des Seine-Präfekten – insbesondere der Enteignung – sowie mit einer extrem kreativen Kreditschöpfung waren der radikale Abriss enger Altstadtgassen und die Neuerrichtung großzügiger Boulevards überhaupt erst denkbar. Allenfalls die Wiener Ringstraße konnte sich mit der Neugestaltung von Paris messen, und das auch nur weil Kaiser Franz Joseph die zur Neubebauung freigegebenen Befestigungsanlagen als seinen Besitz reklamierte. Neoabsolutistische oder bonapartistische Herrschaft plus Eigentum oder Enteignungsrecht, so könnte man die sonst nirgends gegebenen Vorrausetzungen großzügiger Stadtplanung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammenfassen. Das sollte man bedenken, bevor man in den Chor der Kritiker einstimmt, die James Hobrechts Bebauungsplan des Jahres 1862 für die weite Teile Berlins prägende dichte Hinterhof-Bebauung verantwortlich machen. Hobrecht war davon ausgegangen, dass die tiefen Baugrundstücke, die aus der von ihm geplanten Straßenführung hervorgingen, nur am Rande bebaut und ansonsten von Gärten und Schmuckhöfen gefüllt würden. Er hatte indessen ebenso wenig eine Handhabe, dies durchzusetzen, wie der unter Stadtplanungshistorikern besser beleumundete Ildefonso Cerdá seinen eindrucksvollen Grundriss des Stadterweiterungsgebiets von Barcelona. Auch dort wurden viele Grundstücke höher und dichter bebaut, als von ihm geplant. Andere waren noch am Vorabend des Bürgerkriegs unbebaut und wurden von der Bevölkerung als Gemüsegärten genutzt.


Stadtplanung, so könnte man leicht vergröbernd resümieren, war vor 1900 Fluchtlinienplanung von Stadterweiterungsgebieten unter der Maßgabe eines weitgehenden Eigentumsschutzes. Ambitionierte Pläne schloss das nicht aus, zumal sich die Zunft der Städtebauer im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zunehmend professionalisierte und internationalisierte. Eine Welle von Konferenzen und Großplanungen um 1910 dokumentiert dies, doch wurden die dort diskutierten Pläne für ein Groß-Berlin oder ein Groß-Rom, die nun allesamt unter dem Primat der Verkehrsplanung standen, vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr realisiert.


Eine moderne europäische Metropole musste gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem gesund sein. Diesem Zweck dienten neben den bereits am Pariser Beispiel angesprochenen Kanalisationssystemen und den Parks Verbesserungen der Wasserversorgung, der Abfallbeseitigung sowie der Zentralisierung von Schlachthöfen und Friedhöfen – Maßnahmen, die in der Summe nicht nur zur Hygienisierung, sondern auch zur Desodorisierung der Städte beitrugen. Aber auch das städtebauliche Leitbild ›Mehr Licht – mehr Luft‹ hatte mehr als nur einen hygienischen Kern. Denn es ging bei der Besonnung und Durchlüftung der engen und überbelegten Wohnungen nicht nur der Arbeiterviertel in erster Linie darum, den ›Miasmen‹, den schädlichen Ausdünstungen, in denen die Zeitgenossen alle Ansteckungsgefahren verorteten, den Garaus zu machen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts erreichten die Einsichten Louis Pasteurs und Robert Kochs größere Verbreitung, und die Ziele der Wohnungsreformer verschoben sich in Richtung familiengerechter Wohnungen, womit in erster Linie Wohnungen gemeint waren, in denen Familienfremde keine Aufnahme fanden und auch sonst keine sexuellen Gefährdungen ihren Platz hatten. Noch lange aber war die Angst vor Epidemien – insbesondere der Cholera –, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein immer wieder Tausende von Hamburgern, Mailändern oder Neapolitanern dahinrafften, ein starker Antrieb des Handelns, eine konkrete Epidemie nicht selten der unmittelbare Anlass. Den Maßstab von Scheitern oder Erfolg bildete der innereuropäische Vergleich. In Dublin etwa war die städtische Öffentlichkeit entsetzt, als festgestellt wurde, dass die lokale Mortalitätsrate sich nicht mit London oder Edinburgh vergleichen ließ, sondern allenfalls mit St. Petersburg, der ungesündesten Großstadt Europas. Auch die in den Städten lange höher als auf dem Lande liegende Sterberate war ein Stachel im Fleisch der Kommunalpolitiker. Erich Kästner spielte noch in der Zwischenkriegszeit mit diesem Motiv, das nun aber die Realität ver
zeichnete: 


53.000 Berliner sterben im Jahr


Und nur 43.000 kommen zur Welt.


Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,


weil sie 60.000 Berliner durch Zuzug erhält.


Hurra!11

Die moderne Metropole war aber nicht nur gesund und geruchsfrei, sondern auch hell, schnell und – mit den angesprochenen Einschränkungen – gut geplant. Schon die Einführung der Gasbeleuchtung hatte in den 1820er Jahren nicht nur die Berliner begeistert. Das gegen Ende des Jahrhunderts selbstverständlich werdende elektrische Licht bedeutete einen weiteren qualitativen Sprung. Sein systematischer Einsatz zur nächtlichen Schaufensterbeleuchtung oder auch im Stadtmarketing – etwa im Rahmen von Lichterwochen – hatte seinen zeitlichen Schwerpunkt allerdings erst in der Zwischenkriegszeit. Bis dahin war der Hauptverwendungszweck der neuen Energie der Antrieb der Straßenbahnen, wie er sich seit den 1890er Jahren von Barcelona bis Kiew durchsetzte. Zuvor hatten Pferde die Bahnen gezogen wie schon die frühen Omnibusse. Und schließlich waren die Metropolen des 19. Jahrhunderts auch in unterschiedlichem, aber durchweg zunehmendem Maße fürsorglich und sozial. Der Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts hatte einen zentralen Ursprung in den Kommunen, die sich nicht zuletzt in der Säuglings- und Jugendfürsorge engagierten und dabei erste Schritte zur Einbeziehung lediger Mütter und zu Unterstützungsleistungen ohne Bedürftigkeitsprüfung unternahmen. Ohne hier auf die Fülle weiterer Neuerungen eingehen zu können, welche die europäischen Metropolen des späten 19. Jahrhunderts prägten, lässt sich als Quintessenz doch festhalten, dass die Akteure überzeugt davon waren, die Probleme der rasant wachsenden Großstädte lösen zu können.


Viele der Großstädte der zweiten Jahrhunderthälfte waren überdies imperiale Metropolen. Einen bequemen Zugang bietet auch hier der Blick auf die Weltausstellungen der Zeit, die seit 1855 eine koloniale Sektion aufwiesen. Dabei empfiehlt sich zunächst der Gebrauch des allgemeineren Begriffs ›nicht-westlich‹ gegenüber dem Begriff ›kolonial‹. Denn noch auf der Weltausstellung von 1900 wies die in diesem Rahmen stattfindende Exposition coloniale Ländern wie Ägypten, China und selbst der Kolonialmacht Japan hier ihren Platz zu. Elf Jahre zuvor hatte das zeitlich weiter zurückreichende Interesse an der nicht-westlichen Welt erstmals einen größeren Bereich im Rahmen einer Weltausstellung eingenommen. Schon räumlich war die Kolonialausstellung auf der Esplanade des Invalides vom Kern des Ausstellungsgeländes auf dem Marsfeld geschieden. Zu hoch gewichten sollte man diesen Umstand indessen nicht, präsentierte doch einerseits der Gastgeber, der die Hälfte des Platzes für seine Kolonien beanspruchte, diese durchaus mit großem Stolz, und fand andererseits entlang des Quai d’Orsay gleichzeitig eine Ausstellung zur Architektur aller Kulturen und Zeiten ihren Platz. Gleichwohl spricht Beat Wyss zu Recht von »Leistungsschauen der Kolonial­mächte, die neben den Errungenschaften des technischen Fortschritts als Kontrast die kolonisierten Untertanen in landesüblichen Behausungen beim Maisstampfen, Holzschnitzen und Tanzen vorführten. Der Eiffelturm«, so Wyss weiter, »bot ein Sinnbild für die Überlegenheit Europas über die schäbigen Negerhütten der Kanaken und Senegalesen, die bei der Esplanade des
Invalides aufgebaut waren.«12 Dass die Porträts der einzelnen Kolonien ganz unterschiedlich ausfielen, entsprach dabei dem rassistischen und evolutionistischen Denken, das auch der bereits erwähnten Ausstellung L’habitation humaine zugrunde lag. Diese unterschied synchron vier Rassen, gestand aber diachron nur der weißen Rasse eine Geschichte der Architektur zu.


Nichts von alledem ist zu beschönigen und es wird auch durch die Beobachtung nicht besser, dass außereuropäische Länder wie Mexiko ganz ähnlich vorgingen, wenn sie hinter der Fassade des Azteken-Pavillons, welche das präkolumbianische Erbe feierte, eine anthropologische Ausstellung präsentierten, die »die Minderwertigkeit der Indios« belegen sollte.13 Gleichwohl waren die in Paris anwesenden Vertreter der Kolonien mehr als nur hilf- und wehrlos zur Schau gestellte Opfer. Im senegalesischen Dorf, eins von fünf ethnografischen Dörfern der französischen Hälfte der Kolonialausstellung, hielt König Dinah-Salifou mit einem kleinen Teil seiner Familie und seines Personals selbstbewusst Hof. Der Umzug der Kolonialländer Frankreichs, zu dem sich »die Eingeborenen in typischer Tracht zu musikalischer Begleitung« versammelten, war gleichfalls keine Verbeugung vor den Kolonialherrn, sondern eine Form der selbstinszenierten Fremdheit, »die ausländische Händler und Schausteller« den Ausstellungsorganisatoren abgetrotzt hatten.14 Und schließlich waren solche Formen der Selbstinszenierung und Selbstexotisierung kein Privileg der ›Fremden‹. Die Pariser Weltausstellung von 1900 umfasste z. B. ein Village 
Suisse:


ein illuminiertes Alpenpanorama, eingebaut in einer riesigen Gebirgskonstruktion aus Pappmaché. Über 300 Schweizerinnen und Schweizer in landesüblicher Tracht trieben das Vieh auf die Alm, jodelten, bliesen Alphorn, reihten sich zur Fronleichnamsprozession und veranstalteten Winzerfeste mit Tanz. In den Pausen gingen die folkloristisch kostümierten Akteure herum und boten den Besuchern heimatliche Produkte zum Kauf an.15

Die Präsentation der nichtwestlichen Völker auf den Weltausstellungen des ­ausgehenden 19. Jahrhunderts fügte sich von daher in gewohnte Wahrnehmungsmuster ein: Zum einen stand sie in der Tradition populärer Völkerschauen, wie sie etwa Carl Hagenbeck in den 1870er Jahren in London, Paris oder Wien veranstaltete, wobei die oft parallele Zurschaustellung wilder Tiere und ›wilder‹ Menschen – wie etwa der besonders populären Nubier – die Distanz zwischen europäischen Besuchern und kolonialisierten Fremden zementierte. Zum andern berührte sie sich mit anderen kommerziellen Präsentationen von Fremdheit, denen es nicht weiter wichtig war, ob der vom Publikum offensichtlich goutierte Fremdheitseffekt durch eine virtuelle Reise in der Zeit oder im Raum erzeugt wurde. In der Raumdimension war insbesondere die 1878 in Paris erstmals präsentierte Straße von Kairo erfolgreich, die von der ägyptischen Regierung materiell und finanziell unterstützt wurde und in der Folgezeit weder in Paris noch in Chicago, London oder Berlin fehlen durfte. Nun sollten 1889 »die meist aus Ägypten stammenden 250 Mitarbeiter«, darunter die besonders beliebten Eseltreiber, sicherlich den Anschein von Authentizität erwecken, doch machte schon die Aufnahme eines javanischen Dorfes deutlich, dass dies nicht der Hauptzweck der mit der Darbietung von Kunsthandwerk aus dem Königreich Siam endenden Straße war.16 Für eine Gruppe ägyptischer Gelehrter, die auf dem Weg zum Stockholmer Orientalistenkongress 1889 die Weltausstellung besuchte, war dies eine mehr als irritierende Erfahrung.


Ein solcher Vergnügungs- und Konsumpark durfte auch auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung von 1896 nicht fehlen, an deren Ende Alfred Kerr angesichts anhaltender monarchischer Widerstände allzu optimistisch ausrief: »Die Gewerbeausstellung ist tot: es lebe die Weltausstellung.«17 Und so bot sie denn nicht nur eine Straße von Kairo, sondern auch eine Zeitreise nach Alt-Berlin. Das mag angesichts der zeitgenössisch von Jules Huret bis Mark Twain reichenden Vergleiche Berlins mit Chicago als einer gleichfalls geschichts­losen Metropole verblüffen, war aber im ausgehenden 19. Jahrhundert ebenso internationaler Standard wie eine Straße von Kairo. Menschen als Exponate bevölkerten das alte Berlin wie das exotische Fremde, doch war in Alt-Berlin (oder Vieux Paris) die lokale Anpassung der durch die Metropolenkonkurrenz vorangetriebenen Globalisierung des Konsum- und Unterhaltungsangebotes stärker ausgeprägt. Roland Robertson spricht von ›Glokalisierung‹.18 Dieses hochmoderne Element der Standardisierung kommt in der ansonsten sehr anregenden zeitgenössischen Deutung Georg Simmels ein wenig zu kurz, dem es 
schien, 


als ob der moderne Mensch für die Einseitigkeit und Einförmigkeit seiner arbeitstheiligen Leistung sich nach der Seite des Aufnehmens und Genießens hin durch die wachsende Zusammendrängung heterogener Eindrücke, durch immer rascheren und bunteren Wechsel der Erregungen entschädigen wolle.19

Die europäischen Metropolen der Moderne primär als die Geburtsstätten ­einer heute noch modern anmutenden Massenkultur und des immer wichtiger gewordenen Städtetourismus zu präsentieren, wäre indessen einseitig. Und der Blick auf die Weltausstellungen darf nicht zu der Fehleinschätzung führen, um die Moderne und insbesondere um die Modernität der Metropole sei allein im friedlichen Wettstreit zwischen den Nationen und den sie repräsentierenden Hauptstädten gerungen worden. Denn dort und nicht nur dort wurden auch die Risse sichtbar, welche die städtischen Gesellschaften und die Nationen insgesamt durchzogen. Selbst dafür bieten wiederum die Weltausstellungen ein anschauliches Beispiel, wie ein abschließender Blick auf den zeitgenössisch durchaus umstrittenen Eiffelturm zeigt. Der 300 Meter hohe Turm galt als Triumph der Ingenieurskunst und Symbol des Industriezeitalters. Im Kontext der gleichzeitigen Feiern des 100-jährigen Revolutionsjubiläums, wegen dessen Großbritannien, Russland und das Deutsche Reich der Weltausstellung von 1889 fernblieben, erfuhr diese bauliche Manifestation des Fortschritts aber zugleich eine enorme politische Aufladung. Sie verkörperte geradezu die angesichts der boulangistischen Herausforderung gefährdet erscheinende Republik. Das provozierte sehr unterschiedliche Bewertungen: Frantz Jourdain setzte der gallischen Fröhlichkeit des von ihm mitkonstruierten Eiffelturms die unsäg­liche Traurigkeit der Sacré Cœur-Basilika entgegen, während umgekehrt die La Semaine Religieuse de Rennes das Weiß der Basilika gegen das furchtbare, phallische Skelett des neuen Turms von Babel ausspielte. Diese Zuspitzungen waren angesichts des Entstehungskontextes der Basilika im Gefolge der Niederschlagung der Commune verständlich. Hier, im Bereich der Politik, aber fand die ansonsten weitreichende Konvergenz der Problemlösungsversuche euro­päischer Metropolen ihre Grenze. Selbst der Munizipalsozialismus, dessen Kern die Kommunalisierung der städtischen Wasser- und Energieversorgung sowie der Verkehrsbetriebe bildete, war politisch ganz unterschiedlich aufgeladen: liberal in Birmingham, sozialistisch in Marseille und antisemitisch in Wien. Das deutet bereits an, dass die verbreitete Vorstellung von den Metropolen des späten 19. Jahrhunderts als ›Laboratorien der Moderne‹ zu kurz greift.


  1. 1Der Beitrag geht auf einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltung »Metropolen und Megastädte – einst und jetzt« zurück, welche die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften am 12.9.2012 in Berlin durchgeführt hat, und fasst Ergebnisse zusammen, die inzwischen ganz ähnlich in dem Aufsatz »Metropolenkonkurrenz. Die Weltausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, inJournal of Modern European History 11/3 (2013), S. 329–350 und dem – reich illustrierten – Buch Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013 veröffentlicht sind. Deshalb sind im Folgenden nur wörtliche Zitate nachgewiesen.

  2. 2Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, München 2009, S. 424.

  3. 3Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Frankfurt a. M. ³³2005, S. 11.

  4. 4Zit. nach Arnold Lewis, An early encounter with tomorrow: Europeans, Chicago’s Loop, and the World’s Columbian Exposition, Urbana, IL 2001, S. 168.

  5. 5Werner Sombart, »Die Ausstellung«, inMorgen. Wochenschrift für deutsche Kultur, 28.2.1908, S. 249–256, hier S. 254.

  6. 6Karl Marx und Friedrich Engels, »Revue. Mai bis Oktober [1850]«, inMarx-Engels-Werke (MEW), Bd. 7, Berlin 1960, S. 421–463, hier S. 430 f.

  7. 7Georg Simmel, »Berliner Gewerbe-Ausstellung [25.7.1896]«, in ders., Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918; Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920, bearbeitet und hg. von Klaus Christian Köhnke (Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 17), Frankfurt a. M. 2004, S. 33–38, hier S. 36.

  8. 8Asa Briggs, »London, the World City«, in ders., Victorian Cities, Harmondsworth 1968, S. 311–360.

  9. 9Zit. nach Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, S. 333.

  10. 10Petra Kutisch, Aus aller Herren Länder. Weltausstellungen seit 1851, Nürnberg 2001, S. 26.

  11. 11Erich Kästner, »Berlin in Zahlen«, in Waltraud Wende (Hg.), Großstadtlyrik, Stuttgart 1999, S. 150.

  12. 12Beat Wyss, Bilder von einer Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010, S. 43/52.

  13. 13Ebd., S. 133.

  14. 14Ebd., S. 52.

  15. 15Ebd., S. 99.

  16. 16Ebd., S. 190.

  17. 17Alfred Kerr, Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900, hg. von Günther Rühle, Berlin 1997, S. 215.

  18. 18Vgl. Roland Robertson, »Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit«, in Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220.

  19. 19Simmel, Berliner Gewerbe-Ausstellung (Fn. 7), S. 34.
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Heft 12 (2014)
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