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Wissen versprechen, Hilfe vermarkten


Über den Umgang der Medizin mit dem Scheintod


Nietzsche hat den Menschen als jenes Wesen bezeichnet, das versprechen darf. Zieht man Max Weber zu Rate, dann sind Wissenschaftler ganz besondere Menschen, solche nämlich, die versprechen müssen. Was und wem? Kurz ­gesagt: heiligen Eifer, dem Gegenstand ihrer Wahl. Darauf läuft es jedenfalls hinaus, wenn ihnen das Wissen etwas wert ist – anders als dem »Impresario« in eigener Sache, den pure Eitelkeit antreibt.1

Daneben setzt sich freilich noch eine weitere Spezies in Szene. Sie will weder die Wissenschaft noch sich selbst voranbringen, sondern der Menschheit, en gros und en détail, helfen. Auf dieses Versprechen haben viele gewartet: Kranke brauchen ein bestimmtes Serum, Alte möchten noch älter werden, das Land erhofft sich Wirtschaftswachstum, Politiker sind auf ihre Sympathiewerte erpicht, allesamt benötigen wir ein besseres Klima und so weiter und so fort.


Manchmal passiert es aber, dass forschende Wohltäter jene Not erst (er-)finden, aus der sie uns helfen wollen. Dann mutiert die versprechende zur unternehmenden Wissenschaft und aus dem Forscher wird ein Entrepreneur. Wie z. B. beim Scheintod, jenem überraschend frühen, gewissermaßen ›vorzeitigen‹ Fall, dessen Geschichte manche Denkwürdigkeiten bereit hält.


1. Ein Problem wird geboren


Unterstellt, dass Fakten, um als solche gelten zu können, ans Licht der Öffentlichkeit kommen müssen, kann man die Sache kurz machen: Den Scheintod gibt es erst seit 1740. Davor galt überall, was danach noch auf dem flachen – bildungsfernen – Land zu beobachten war: Fehlende Lebenszeichen sind völlig ›unwissenschaftlich‹ behandelt worden. Merklich schockiert berichtet Christoph Wilhelm Hufeland, zu dieser Zeit (1791) Weimarer Hofmedicus, später einmal Charité-Direktor, was ihm zu Ohren gekommen ist. Da habe es jene Frau gegeben, die »einige Zeit nach dem Tode eines Mannes, den sie eingekleidet hatte, äusserte, es werde wahrscheinlich bald noch eins von der Familie nachsterben, denn der Verstorbene habe im Sarge ein Auge aufgethan, und sie habe dieß schon öfter als ein üble Vorbedeutung bemerkt. – Eine so wichtige Lebensäusserung«, merkt Hufeland an, »ist also für diese Menschen nichts als Nahrung des Aberglaubens, und nun zweifle man noch länger, daß unzählige lebendig begraben werden.« Noch bunter hat es eine andere Totenfrau getrieben, die »sich rühmte, es habe einst eine Leiche, bey der sie wachte, des Nachts sich aufgerichtet, aber sie habe sie mit den Worten wieder niedergedrückt: ›Ey was willst du unter den Lebendigen? Nieder mit dir! du gehörst nicht mehr zu uns[‹]; und die Leiche habe sich nicht weiter geregt. – Hat man sich«, fragt der konsternierte Hufeland, je »einen solchen Grad von Aberglauben möglich gedacht, und dürfen wir mit gutem Gewissen unsere Leichen in solchen Händen lassen?«2

Was haben sich diese Frauen bloß gedacht? In einer Hinsicht etwas, das sie mit ihrem wissenschaftlichen Kritiker teilen, nämlich die Vorliebe für klare Verhältnisse: ›tertium non datur‹. Wer tot ist, ist nicht mehr lebendig, und wenn jemand diese Regel verletzt, muss der Fall wieder in Ordnung gebracht werden, so (›sterben lassen‹) oder so (›sterben machen‹). In Hirnen solchen Zuschnitts sind nur Scheinlebendige vorgekommen. Freilich konnten Ärzte mit Ambivalenz ebenso wenig anfangen, nur dass sie genau anders herum dachten: Aus ihrer Sicht kompromittiert nicht das Leben den Tod, sondern der Tod versucht, sich etwas zu holen, was ihm (noch) nicht zusteht.3 Wer ihn dabei unterstützt, muss von Sinnen sein und schleunigst ausrangiert werden. Dass diese Verrücktheit passiert und jene ›Leichenweiber‹ die tödliche Option wählen, hat mit ihrer Bigotterie zu tun – sie sehen, so Hufeland, im Lebenszeichen zur Unzeit einen »sträflichen Eingriff in die Ordnung der Dinge«.4 Der Mediziner hingegen, das ist seine déformation professionelle, entscheidet sich grundsätzlich fürs Dableiben (›leben machen‹).


Wie gesagt: Diese Einstellung kam nach 1740 zur Welt. Ihr Geburtshelfer war der französische (aus Dänemark stammende) Anatom Jacques-Bénigne Winslow, dessen Schrift über die mortis incertaesigna das Thema hoffähig ­machen sollte. Seine These: Gängige Anzeichen des Todes sind unzuverlässig, weshalb es passieren kann, dass Menschen lebend begraben werden.5 Wenn gar »unzählige« (Hufeland) davon betroffen sind, dann ist das Drama komplett. Dennoch wäre der Aufschwung, den die Sache erleben sollte, wohl ausgeblieben, hätte sich nicht ein anderer des Gegenstands angenommen. Zu Hilfe eilte Jacques-Jean Bruhier. Dieser umtriebige Mediziner auf der Suche nach seiner Karriere hat den dürren und lateinischen Originaltext auf Französisch wirkungsmächtig aufgeblasen: mit wahren Begebenheiten, deren Horror niemanden kalt lassen konnte. Ohne Verweis auf seine Pioniertat würde nach ihm praktisch niemand mehr auskommen.6

Auf Bruhier hat sich auch die deutsche Scheintod-Koryphäe gestützt, der schon erwähnte Hufeland, dem wir zwei Klassiker zum Thema verdanken: 1791 den (schon erwähnten) Band Ueber die Ungewißheit des Todes, mit dem Ziel, das Lebendigbegraben unmöglich zu machen; und 1808 eine alphabetisch angeordnete Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen über den Scheintod.7 In seinem Schatten publizierten zahlreiche andere, darunter auch der Görlitzer Arzt Christian August Struve, dessen hauptsächliches Verdienst darin besteht, unter dem Titel Abhandlungen der Londoner Königlichen Gesellschaft zur Rettung Scheintoter und Verunglückter das englische Standardwerk dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu haben.8

William Hawes, der diese Schrift verfasst und jene Gesellschaft (mit-)begründet hat, war allerdings auf etwas ganz Anderes aus. Nicht irgendwelchen Scheintoten (wie Struves Übersetzung glauben machen will) galt sein Interesse, am Herzen lagen ihm vor allem »the apparently drowned«9 – die in deutschen (oder auch französischen) Traktaten wiederum keine nennenswerte Rolle 
spielen.


Was hier eher beiläufig zur Sprache kommt, ist eine Weichenstellung mit Folgen. Der Scheintod hatte sich gewissermaßen verdoppelt, aus einem einzigen Sachverhalt waren deren zwei geworden: lebendig begraben vs. scheinbar ertrunken.10 Die Profession entschied sich, ihr Produkt ganz unterschiedlich zu vermarkten.


2. Hufelands Horror


Selbst der honorige Hufeland hat, um gehörige Resonanz im Lande bemüht, als Geschichtenerzähler den Horror unbemerkter Lebendbegräbnisse in kräftigen Farben und jeder Schattierung präsentiert. Seinem Fundus entstammt auch dieses (allerdings von Bruhier entlehnte) Schauerstück: 


Zu Basingstocke in England war eine vornehme Frau begraben worden, die man für todt hielt. Ueber der Gruft, worin man sie beigesetzt hatte, befand sich eine Schule. Schon den ersten Tag nach der Beerdigung hörten die Kinder ein Geräusch in der Gruft. Der Schullehrer kam erst auf wiederholtes Bitten darauf, die Sache zu untersuchen. Die Gruft ward geöffnet, und man fand die traurigen Spuren des verzweifelten Kampfs der Unglücklichen und des Unvermögens, sich los zu machen. In den letzten Zügen lag sie da, hatte sich die Hände und das Gesicht zerkratzt, und den Kopf zertrümmert.11

Andere in seiner Nachfolge taten es ihm gleich oder übertrumpften ihn sogar. Als besonders eifriger Sammler erwies sich der Coburger Bürgermeister und respektierte Dilettant Georg August Donndorff, dessen Traktat Fall auf Fall häuft und erst bei der Nummer 66 genug hat. Sein 44. Beispiel, ebenfalls aus Bruhiers reichhaltiger Requisitenkammer, handelt von einem Trompeter in Paris, an dessen Grabstätte Kinder gespielt und dabei ein Getöse gehört haben. Worauf er wieder ausgegraben wurde: »Als man den Sarg öffnete, fand man den armen Menschen auf dem Bauche liegen, und in seinem Blute schwimmen, weil seine Schultern durch die vielen Nägelspitzen ganz zerrissen waren. Er holte noch Athem, starb aber eine Viertelstunde nachher, wirklich.«12 Die Nummer 17 führt uns in eine ganz andere Region (Neuburg an der Donau): »Im Jahr 1791 starb der Pfarrer zu Jassorff,13 und man eilte, ihn zu begraben, ohne die gehörige Zeit abzuwarten. Verschiedene Personen, die seinem Grabe nahe kamen, glaubten[,] ein Getöse darin zu hören, und meldeten es.« Was aber als Einbildung abgetan und nicht weiter verfolgt wurde. Nachdem aber »wiederholte Nachrichten von der Fortdauer des Getöses einliefen«, entschied man sich doch zu graben und fand »zwar den Leichnam todt, aber ganz auf dem Bauche liegend, zum sichern Beweise, daß er wieder lebendig geworden, und wahrscheinlich, durch die Anstrengung, seinem fürchterlichen Gefängnisse zu entfliehen, in diese ungewöhnliche Lage gekommen war.«


So »ist und bleibt es unbegreiflich, wie man vernünftige Geschöpfe Gottes bisher der schrecklichsten Gefahr des Wiedererwachens im Grabe […] habe preis geben können«, räsonniert rückblickend der bayerische Cantonsarzt Camill Meuth.14 Man kann, angesichts solcher Begebenheiten, sein Staunen verstehen, zumal wir das Jahr 1822 schreiben, also weitere Jahrzehnte vergangen sind, ohne dass der erhoffte Ruck durchs Land gegangen ist.


3. Hawes’ Hoffnung


Englands Fixierung auf die »apparent drowned« hätte überhaupt keinen Sinn ergeben, hätten englische Phantasien gleichfalls am Sargtrauma geklebt. Doch es ist einfach wie weggeblasen.15 Statt seiner regiert das Happy End, und ›Glück im Unglück‹ dient den allermeisten Berichten als Leitmotiv. Kurzum, eine ganz andere Form der Betroffenheit kann beobachtet werden. 


Zum Beispiel fiel eines schönen Tages R. Stanley »aus einem Boot in die Themse, wurde von W. Davis herausgezogen u. ohne sichtbare Lebenszeichen. Nach einer halben Stunde lebte mein Kranker, während der Anwendung gewöhnlicher Mittel, wieder auf; indessen blieb er sich lange unbewußt, bekam starkes Erbrechen, und in wenigen Stunden kam er zu sich.«16 Dies weiß 
Dr. Egerton zu berichten. Dr. Phippson, ein Societäts-Arzt, berichtet von seinem Erlebnis: er habe »eine grosse Menge Volks ans Wasser rennen« sehen und gehört, »James Higgins sey von einem Boot in die Themse gefallen.« Hilfreiche Hände zogen ihn in ein Boot; nach einigen Komplikationen erinnert sich Phippson einer Wiederbelebungsmethode, die er von Willam Hawes erfahren hat, das patente Mittel wirkt und der Totgeglaubte erwachte.17 Schließlich ein Vorkommnis, das der Wundarzt John Blount meldet: 


Anne Pearson, eine junge Frau von zwanzig Jahren, die mit einem Kinde hochschwanger ging, fiel durch Zufall in die Themse. Sie hatte ohngefähr drei Minuten unterm Wasser gelegen. Es war kein Puls bemerkbar, wir konnten keinen Athem gewahr werden. Die von der Societät gegebene Rettungsanleitung wurde ein halbe Stunde lang angewendet. 


Danach rührte sich etwas, die Verunglückte tat »einen tiefen Seufzer« und war einige Zeit später so erholt, »daß sie von jemanden unterstützt in ihres Freundes Haus gehen konnte.«18

Das englische Auge sieht etwas Anderes: Statt des Schreckens versehentlich Eingesargter gerät ein ums andere Mal die glückliche Wendung am Ort des Geschehens – weit vor den Toren des Friedhofs – in sein Blickfeld. Und es erkennt keine Toten, die vielleicht noch ein bisschen lebendig sind, sondern bemerkt zunächst einmal Leben, das mit etwas Geschick dem Tod entrissen werden kann. Wer sich die Sache so zurechtlegt, zielt auf einen anderen Effekt ab: Nicht ums Erschrecken über den Schrecken ist es ihm zu tun, das Publikum soll sich am freudigen Ereignis erfreuen.


4. Kulturen der Betroffenheit


Die unterschiedlichen Schwerpunkte des Versprechens und Vermarktens lassen sich systematisieren. Deutsche Erzählungen verarbeiten alle möglichen Schicksale, auch solche, deren Ende höchstens gedankliche Spuren hinterlässt, weil diese Menschen schon zu Lebzeiten ›abkömmlich‹ waren – wie Damen, Trompeter oder Pfarrer. Meist geht es um Kranke oder Alte, Leute mit »gänzlich erschöpfter Lebenskraft« (Camill Meuth), die im Bett (scheinbar) gestorben sind und am besten ein bekannt schreckliches Ende genommen haben (Maximierung des Grauens). Wo diese Unglücklichen leben, spielt keine Rolle: Basingstoke, Paris, bayerische Provinz – jede Lokalität passt, denn was alle eint, ist ausschließlich das traurige Schicksal. Ebenso wenig kommt es darauf an, wann eine Begebenheit stattgefunden hat, Horror bleibt Horror, auch wenn er weit zurück liegt. Schließlich ist jede passende Geschichte eine gute Geschichte, der Zweck heiligt selbst die Anekdote.


Deswegen muss man auch keineswegs Mediziner sein, um sich des Prob­lems publizistisch annehmen zu können: »Was ich gesagt habe«, so leitet Donndorff, der Bürgermeister, seinen Beitrag ein, »kann jeder, ohne in die Geheimnisse des Äskulaps eingeweiht zu seyn, wenn nur Liebe für Wahrheit, und Gefühl für Menschheit und Menschlichkeit ihn leiten, dem Publico eben so wol an’s Herz legen, als ein Arzt.« Jeder kann nicht nur, sondern soll auch, denn die Sache »ist für das Ganze, und für jedes Individuum, von der äußersten Wichtigkeit.«19 Ein Appell ans gute Herz, dessen Sorge grenzenlos ist.


Hart kontrastiert damit das englische Narrativ. Gewöhnlich präsentiert es Menschen, die mitten aus dem (re-)produktiven Leben gerissen werden; ihre Vitalität erweist sich dadurch, dass sie meist beim Baden vom (Schein-)Tod erwischt werden. Der herbeieilende Mediziner rettet (ein freudiges Ereignis) Einwohner, auf deren Dienste die Allgemeinheit zählt: Männer, die arbeiten, Frauen, die gebären (ein nützlicher Beitrag). Vor diesem Hintergrund zählen nur aktuelle Fälle mit einheimischen Opfern. Und es müssen nachweisbare Ereignisse sein, Anekdotenhaftes hat da keinen Platz, weswegen sich ärztliche Berichte wie amtliche Protokolle lesen. 


Pastor Harrison, anlässlich des 25. Jahrestags der Society-Gründung mit der Predigt beauftragt, erklärt den tieferen Sinn des Ganzen: »To preserve the life of the lower classes«, so klärt er die Unwissenden unter seinen Zuhörern auf, »must ever be most politic and useful; for it is a received opinion, that the riches of a nation always bear a certain proportion to the number of its artificers and laborious members; and that a decrease of them causes a decrease of its wealth and power.«20 Auch William Hawes’ Societäts-Report hält mit dem materialistischen Kalkül nicht hinterm Berg: »In Handlungsangelegenheiten«, so wird Adam Smith zitiert, »vervielfacht sich jedes Capital, oder bringt eine Zahl neuer Einheiten hervor, so daß der Verlust oder Zuwachs des Capitals zu dem allgemeinen Stamm, als Verlust oder Zuwachs der Mittel neue Capitale zu machen anzusehen ist. Dieser Satz ist gleich anwendbar für die Bevölkerung als für das Handlungswesen«.21

Das universelle Mitleid wird durch die nationale Wertschöpfung abgelöst – Trompeter, Pastoren oder Damen kommen, weil sie den Einsatz schuldig bleiben, in der englischen Rechnung nicht vor.


5. Staatsversagen


Zwar war das Versprechen identisch: Dem Scheintod würde der Stachel gezogen. Doch die Vermarktung hat auf unterschiedliche Effekte gesetzt, mal wurde Grauen geschürt, mal vom Nutzen gesprochen. Entsprechend grundverschieden ging man zu Werke: Deutsche (und französische) Ärzte wollten verhindern, dass jemand versehentlich im Sarg bleibt, ihren englischen Kollegen ging es darum, dass niemand dort vorschnell hineinkommt.


Soweit hat alles seine (relative) Richtigkeit. Die Probleme beginnen, als es der Profession einfällt, für ihr Produkt Geld zu verlangen, Geld vom Staat ­natürlich. Gerechterweise sollte man hinzufügen, dass beide Lager auch um ­›zivilgesellschaftliche‹ Finanzierungsquellen bemüht waren und dabei durchaus Erfolge vorweisen konnten: Hufeland sammelt eine erkleckliche Summe bei den Gutbetuchten Weimars ein, Hawes kann von der Großspende Londoner Fischhändler berichten (deren Geschäfte naturgemäß wasserleichensen­sibel waren). Aber aufs Ganze gesehen haben Privatleute hier wie da zu wenig in den Scheintod investiert. Was auch daran lag, dass die aufzubringenden Summen von den erwarteten Wirkungen offenkundig nicht gedeckt waren.


Den Preis der Medizin hat, unschwer erkennbar, ihr Eigeninteresse diktiert: Um im Geschäft zu bleiben, musste sie einen exklusiven und damit teuren Standard kunstgerechter Scheintod-Behandlung durchsetzen. So ist auch zu erklären, dass die Protagonisten, ihrer differierenden Philosophien ungeachtet, bei nahezu identischen Projekten gelandet sind.


Hufeland und Co. waren emsige Befürworter des sogenannten ›Leichenhauses‹. Diese Immobilie schafft Platz für etliche Särge sowie die »Stube für die Wächter, mit einem Glasfenster in der Thür, um die Leichen beständig im Auge zu haben: und eine Küche zur Bereitung der nöthigen Hülfsmittel, Bäder und dergleichen, bey wieder kehrenden Lebenszeichen.«22 Der eigentliche Clou kommt aber noch – ein Hilfsmittel, das den Wächter für jene eingesargte Restvitalität sensibilisieren soll, die sich selbst aufmerksamen Augen entzieht: »In dieser Absicht«, schlägt Hufeland vor, »werden die beweglichen Theile, Hände und Füße, mit Fäden in Verbindung gesezt, deren geringste Erschütterung sich durch eine damit zusammenhängende Schelle hörbar machen 
wird.«23 Soweit Hufeland, der seine Vorstellungen in einem Prototyp auch umgesetzt hat (Weimar, 1792).


Wäre es dabei geblieben, hätte die Scheintod-Medizin schon vom allerersten Augenblick an ausgedient gehabt, denn fürs Strippenziehen und Schellengeläut bedarf es keiner hippokratischen Eide oder Künste. Daher kommt zur Grundausstattung ein kostspieliges Extra, der Experte in Gestalt des eigens dazu bestellten, einsichtsvollen und beeidigten Arztes.24 Der Einsatz spezialisierter Ärzte wurde allenthalben gefordert und einsichtig begründet, dennoch hat sich keine Regierung auf Dauer diesen teuren Ernst geleistet, noch war irgendeine Kommune, die besser gestellten Residenzstädte eingeschlossen, bereit, den riskanten Weg ins Grab medizinisch vollwertig begleiten zu lassen. Überall war man knapp bei Kasse. Ansässige Mediziner wurden zwar ermächtigt, ihren vormaligen Patienten den Tod zu bescheinigen, doch stand schließlich mehr auf dem Spiel als eine bürokratische Formalität. Und selbst diese wurde häufig genug an Dilettanten delegiert: »brodlose Afterärzte«, »invalide Chirurgen«, aber auch ganz ordinäre Sargschreiner oder sogar »Leichensäger«.25 Richter und Pfarrer durften auf dieser Liste nicht fehlen. Kurzum: Die Medizin musste am Ende zur Kenntnis nehmen, dass ›Obrigkeiten und Volksregierer‹ kaum mehr als Lippenbekenntnisse zustande brachten.


In England waren sich William Hawes und seine Mitstreiter ihrer Sache sicher – Relevanz musste in Resonanz umschlagen: »Der Lehrer der Arzneikunde, so wie der ausübende Arzt« findet, bestärkt man sich selbst, »einen neuen Weg zu Ruf, Ehre und Glück«.26 Voraussetzung dafür war aber eine Infrastruktur, die es den Ärzten erlauben würde, ins Rettungsgeschäft erst einmal eingreifen zu können. Bisher war das häufig unmöglich, weil zu viel Zeit verstrich, bis einer von ihnen am Ort des Geschehens eintraf. Wegen »ihrer entfernten Wohnung«, klagt Hawes, bleiben »Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Humanität« des ärztlichen Standes allzu häufig ungenutzt.27

Eine Chance, standesgemäß eingesetzt zu werden, bot den Medizinern das eigens ersonnene Rettungshaus (›receiving-house‹) Sie verstanden darunter Erste-Hilfe-Etablissements, deren medizinische Ausstattung dem Interieur des deutschen Pendants zum Verwechseln ähnlich sieht, naturgemäß. An stark frequentierten Uferabschnitten sollten sie dafür sorgen, dass scheinbar Ertrunkene fachkundig ins blühende Leben zurückgeholt würden. Der Prototyp wurde 1794 im Londoner Hyde-Park gebaut. Alles Nötige war vorhanden: ein Warteraum, ein Raum für den medizinischen Betreuer, zwei Einbett-Stationen mit den notwendigen Utensilien, um Verunglückte, getrennt nach Geschlecht, betreuen zu können, sowie eine Dienstwohnung für den vorgesehenen jungen Arzt, der den »medzinischen Cursus gemacht hat, und auf die Kunst Scheintodte zu leben besondere Aufmerksamkeit verwendet.«28

In einer »Addresse an den König und an das Parlament von Großbritannien, über die Lebensrettung der Einwohner« macht William Hawes klar, was ihm am Herzen liegt und, weil es ums große Ganze geht, staatliche Förderung erheischt: »Daher thut der Verfasser«, schließt die Petition, 


die unterthänige Vorstellung, daß unter der Authorität des Parlaments, in jedem Kirchspiel ein allgemeines Rettungshaus (a General Receiving-House) errichtet werden möchte, oder, wenn das zu kostbar wäre, die Ausgaben dazu von jeder einzelnen Gemeinde getragen werden könnten, da die Summe sehr unbeträchtlich seyn würde. Sollte besonders das leztere erwählt werden, so wird man hoffentlich darauf sehen, dass die Oekonomie der Gemeinheit nicht dem öffentlichen Nutzen schade.29

Hawes sollte sich umsonst verausgabt haben – den staatlichen Instanzen war diese Sache, die doch so wenig kosten sollte, immer noch zu teuer. Also blieb es dabei: Ärzte kamen zu spät – wer gerettet wurde, hatte es häufig nicht ihrer Hilfe zu verdanken, und wessen Leben darüber hinaus hätte erhalten werden können, ist naturgemäß unbekannt geblieben.


6. Helden und Tüftler


Unter solchen Umständen sollte eine andere Figur von der Scheintod-Kam­pagne profitieren: Ins Rampenlicht rückten statt kundiger Mediziner englische Helden, deren riskanter Wassersprung dafür gesorgt hat, dass Scheintote überhaupt ausfindig gemacht werden konnten. Hawes’ Society kam nicht umhin, auf diese Gewichtsverlagerung zu reagieren. Ihre Praxis, für besonders bemerkenswerte Rettungstaten kundige Ärzte auszuzeichnen, wurde schon früh auf ­mutige Menschen ausgedehnt – deren Anteil mit der Zeit immer stärker an
wuchs.30

Heute haben Helden das Feld der Ehre und Ehrung für sich alleine: »Have you witnessed an act of bravery? Anyone can nominate someone for an award«, fragt die ›Royal Humane Society‹ (wie sie sich inzwischen nennt) auf ihrer Homepage.31 Unter denen, deren Heroismus für preiswürdig gehalten wird, befindet sich der ›Dockmaster‹ George Reeder aus Watchet Harbour, dessen Fall für viele steht. Er sah am 27. Januar 2013 um 8.15 Uhr (mit gewohnter Präzision festgehalten), wie ein Kinderwagen vom Wind ins Wasser geweht wurde, „leaving the baby face down in the water and sinking. George, who was on the other side of the harbour, cycled straight to where she was. There were, by this time, more people present. The sea was choppy, with a tidal swell, and about twelve feet deep. George jumped straight into the sea« – und sorgt für einen glücklichen Ausgang des Dramas.32

Nota bene: Auf der Startseite der Homepage wird eigens darauf verwiesen, dass sich Heldentum und Berufsausübung wechselseitig ausschließen – wer »professionally trained« ist, kann für professionelle Hilfe keinen Preis erhalten. Die Medizin hatte ihre Schuldigkeit getan, die Medizin konnte gehen.


Dem deutschen Scheintod-Projekt sollte kein gnädigeres Schicksal beschieden sein. Nur, dass seine Erben keine Helden, sondern Tüftler waren: Spezialisten in Sachen Sargbau. Anders als Helden werden sie aber nicht ›geboren‹, sodass den Medizinern Zeit für Gegenwehr blieb.


Anfänglich haben es die Sargtechnologien ihren Kritikern leicht gemacht. Da war z. B. Hieronymus Gottfried von Müller, seines Zeichens Reichsquartiermeister unter Franz II. Sein Vorschlag: tönerne Sargdeckel, »die nicht gar zu dick gemacht werden.« Denn dann muss »der zu sich kommende Mensch« einen »solchen Deckel nur durchstoßen, welches er ja leicht im Stande ist. Um aber zu einem solchen Durchstoßen ganz gerichtet zu seyn, so wird künftig dem im Sarge liegenden Menschen ein spitziger Hammer mitgegeben, und derselbe neben ihm in den Sarg gethan.« Mit diesem könne »der wieder zu sich kommende Mensch den thönernen Deckel durchschlagen, und sodann ganz bequem aus dem Sarge aufstehen und herauskommen.« Hufeland kanzelt das, was Wunder, als »unreife, ja läppische« Angelegenheit ab.33

Genauso wenig Gnade findet Benjamin Georg Peßler, ein zeitgenössischer Pfarrer im Braunschweigischen, der am Erfinden offenbar Vergnügen hatte (um patente Butterfässer und Dreschmaschinen war er ebenfalls besorgt). Peßler überlegt sich, welcher »wohlfeile« Mechanismus, genannt »Wecker«, Bewegungen des Scheintoten an die Kirchturmglocke weiterleiten würde, sodass deren »Sturmläuten« für lebenssichernde Aufmerksamkeit sorgen könnte. Da das in keinem Falle ohne lange Kette funktioniert, liegen Hufelands Einwände auf der Hand: 


Nur Ein oder ein Paarmal darf ein starker Windstoß, oder eine gegen die Kette stoßende Nachteule, oder gar eine muthwillige Hand, den Wecker abdrücken, und das Dorf vielleicht um Mitternacht, vielleicht bey übler Witterung, spukhaft und fruchtlos beunruhigen: so wird die ganze wohlthätige Absicht verfehlt [und] die Sache selbst gewinnt den Anstrich des Lächerlichen.34

Das waren Narreteien. Mit der Zeit aber haben sich raffiniertere Geister ans Werk gemacht und technisch hochgerüstete Produkte entwickelt, denen mit gesundem Menschenverstand nicht mehr beizukommen war. Spätestens seitdem es dabei etwas zu patentieren gab, also pekuniäre Gewinne möglich schienen, entstanden ›Rettungsapparate für Scheintodbegrabene‹, die mit technischen Innovationen geradezu vollgepfropft wurden.35 Da verstummten die Ärzte. Ein Markt für Sicherheitssärge hat sich dennoch nicht entwickelt – Verbraucher waren genau so schwer zu überzeugen wie Behörden.


7. Die Leere des Versprechens


Sicherheitssärge sind schon längst vergessen, und die Statistik des englischen Heroismus weist aus, dass Heldentaten kaum noch im Wasser stattfinden (das Gros lebensrettender Hilfeleistungen wird an Land erbracht). Der Lauf der Dinge? Dann hätte eben jedes Ding seine Zeit, und ›in the long run‹ wäre auch alles Wissen tot. Doch ganz so einfach ist es nicht. Widrige Umstände sind hinzugekommen, speziell knauserige »Obrigkeiten und Volksregierer« (Struve), deren Gleichgültigkeit sich als unerschütterlich erwies. Vor allem aber litten Projekte daran, dass ihre Versprechen in gewisser Hinsicht leer waren.


Sobald eine Wissenschaft auf den Markt geht und anderen etwas verspricht, sollte sie als erstes sicherstellen, dass das Angebot reell, ihr Wissen also hinreichend und notwendig ist. Wie sieht es damit aus? Zur Erinnerung: Hufeland offeriert medizinische Hilfe gegen das Grauen. Sein Anschauungsmaterial handelt, da wo es besonders attraktiv, also schrecklich, ist, von vergleichsweise vitalen Scheintoten, deren verzweifelter Überlebenskampf sicht- und hörbare Spuren hinterlässt. Ganz offenkundig hätte es, um dem grausamen Spiel ein glückliches Ende zu bereiten, keiner ärztlichen Kunst bedurft. In Basingstoke wäre es Sache des schwerhörigen Lehrers gewesen, den Hinweisen seiner aufmerksamen Schüler nachzugehen; auch der Pariser Trompeter wurde einfach überhört – so wie Pfarrer Jassorff, dessen Schicksal besiegelt war, als niemand seine Lebenszeichen wahrgenommen hat.


Auf der englischen Seite sieht es ähnlich aus: 


Ein Arzt, Hodson, verordnete, den Knaben in warme Decken zu hüllen, mit Salz zu reiben, es wurden Flaschen mit warmen Wasser unter die Achseln gelegt etc. Innerhalb 25 Minuten bemerkte man, daß er warm wurde; man gab ihm etwas verdünnten Wein, welcher einen Husten erregte. Durch diese Behandlung wurde er innerhalb anderthalben Stunden wieder hergestellt.36

Hier wie in vielen anderen Fällen reduziert sich die ärztliche Kunst auf eine routinierte Anwendung eingängiger Hausrezepte aus dem Standardrepertoire gewöhnlicher Mütter, weshalb tatsächlich alles davon abhängt, ob ein Notfall seinen Helden findet, der ihn zeitig aus dem Wasser zieht.


So oder so – wenn es darauf ankam, ist die professionelle Medizin häufig nicht der erste Anlaufpunkt gewesen. Verstärkt hat sich dadurch ein allgemeines Manko: die geringe Nachfrage.


Gewiss war nur die Bedeutung dessen, was auf dem Spiel stand: »Der Gegenstand, den ich hier zu bearbeiten unternommen, und den ich mit der größten Theilnahme für die Menschheit bearbeitet habe«, verkündet etwa Donndorff, »ist für das Ganze, und für jedes Individuum von größter Wichtigkeit«.37 Nachfragen müssten demnach alle Menschen – vorausgesetzt, die Botschaft jagt ihnen gehörig Angst ein. Aber warum sollte sie? Es gibt halt, Bruhiers Kärrnerarbeit ungeachtet, nur zwei-, dreihundert Fälle, den großen (?) Rest schluckt spurlos eine unbekannte Dunkelziffer. Gerade Hufeland ist sich des Handicaps durchaus bewusst, er sucht nach argumentativem Ersatz und findet ihn: Panikmache soll die Überzeugungslücke schließen, den Menschen müssen Schreckensvisionen und Gewissensbisse plagen. Wer versucht, »sich auf sein Todbette hinzudenken«, wird unweigerlich die »Möglichkeit« (des Scheintods) als »Wahrscheinlichkeit« verstehen, mithin durch Hysterie wettmachen, was an Empirie fehlt. Wo es aber um Andere geht, suchen, ginge es nach Hufeland, moralische Albträume das Gehirn heim: Müsste ich mir vorwerfen, mit einem (vielleicht) nur scheinbar Toten nachlässig umgegangen sein, bestände also die Chance, dass jemand meinetwegen (endgültig) gestorben ist, wäre mir »wegen dieses von mir verübten Menschenmordes« wohl keine ruhige Minute mehr beschieden.38

Diese Rechnung macht man allerdings ohne den wichtigen Wirt, die Regierung(en). Denn deren ›Betroffenheit‹ ist bestenfalls ritueller Natur, für Sentimentalitäten per se haben sie nichts übrig.39 Was nicht bedeutet, dass am Scheintod gar kein politisches Interesse bestanden hätte – wie ein missgünstiger Hufeland, auf seine Zielgruppe, die Bettlägerigen, fixiert, selbst notiert: »Freylich«, klagt er, »veranlaßt Ein Ertrunkener mehr ärztliche Untersuchung, ob der Tod scheinbar oder wirklich erfolgt sey, als hundert Menschen, die in ihren Betten gestorben zu seyn scheinen.«40 Also doch das englische Vermarktungsmodell mit seiner Vorliebe für Ertrunkene (Verunglückte), deren endgültiger Ausfall sich in Wertschöpfungsstatistiken negativ niederschlägt? 


Freilich, dass auch diese Wendung keinen geldwerten Vorteile einbringen würde, konnte man am Schicksal der englischen Kollegen ablesen. In ihrer Not ist Hawes’ Sozietät gar so weit gegangen, ausgerechnet das ›deutsche‹ Motiv zu adaptieren. Nation und Nutzen machen Welt und Weihe Platz: »As this institution«, so lobt sich nach ihrer Bekehrung die ›Humane Society‹ selbst, »is constituted and conducted on the largest basis of universal humanity, it carries its own testimony with it, and needs no arguments to prove its excellence nor any artificial excellence to recommend its design. It speaks to the heart, it speaks to the feeling of every human being.«41 Doch ans Ohr von Regenten dringt die frohe Botschaft nicht. Das war auch – überhaupt und nach den Erfahrungen mit deutschen Amtskollegen sowieso – nicht erwartbar. Die Wendigkeit hat keine Wunder bewirkt.


8. Das Problem wird beerdigt


Die Scheintoten sind kein Thema mehr,42 ihre Helfer von der Bildfläche verschwunden. Nach den Ärzten haben auch Helden und Tüftler das Feld verlassen, wiewohl aus unterschiedlichen Gründen.


Dass Englands Heroen nicht überlebt haben, liegt an einer simplen Prob­lemverschiebung: Wenn Leute ertrinken, mag es auch daran liegen, dass sie nicht schwimmen können. Also muss man diese Fertigkeit unters Volk bringen. Schnell haben sich neue Propheten profiliert, allen voran Archibald Sinclair und William Henry, deren Standardwerk Swimming den Entwicklungsstand Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert.43

Seinen Themen ist abzulesen, wie weit die Schwimmerei zu dieser Zeit schon gediehen war: Von der ›Kunst des Schwimmens‹ ist die Rede, auch davon, dass Schwimmlehrer ihren Unterricht verwissenschaftlichen müssten; dann werden bereits verschiedene Schwimmstile samt deren Eigenheiten vorgestellt; verschiedene Tauch-, Sprung- und Gleittechniken sind aufgeführt, sogar ›scientific swimming‹ steht auf der Agenda. Selbstverständlich spielt das riskante Baden in Naturgewässern eine prominente Rolle, in diesem Kontext zollt man auch der Royal Society großzügig Anerkennung – allerdings nur, um sie im selben Atemzug vollends auszurangieren, würde doch die neue Zeit nicht mannhaft agierenden Wasserhelden, sondern militärisch gedrillten Rettungsschwimmern gehören: »As in the land exercises, rescue practice in the water is carried out by means of a drill, and when a number of squads take part in it the sight is both pretty and instructive.«44 Schwimmer retten Schwimmer, nötigenfalls. Den ›gallant fellows‹ war so dasselbe Schicksal beschieden wie ›geschickten Ärzten‹ vor ihnen.


Schwimmen kann trainiert, Sterben aber nicht abtrainiert werden. Wenn diese Differenz für die deutschen Anbieter keinen Unterschied gemacht hat, dann lag das freilich nicht allein an ihren ›Ladenhütern‹ (Leichenhallen, Techno-Särgen); auch dem Ärztestand musste daran gelegen sein, den Scheintod auszurangieren, war er doch eine laufende Erinnerung daran, dass sein Wissen nicht ausgereicht hat, um für klare Verhältnisse zu sorgen. 


Anders gesagt: Wenn die Medizin den Tod unter Kontrolle behalten wollte, dann musste der Scheintod verschwinden.45 Dass dieser überhaupt eine dermaßen prominente Rolle spielen konnte, rührte von den Schwierigkeiten her, Anzeichen des sicheren Endes, mortis certae signa (um Winslow zu paraphrasieren) zu finden. Nach dem zeitgenössischen Kenntnisstand kam dafür nur ein Indiz in Frage, nämlich die beginnende Fäulnis – deren Eintritt aber unverträglich lange auf sich warten ließ. Beerdigungen vor diesem Zeitpunkt mussten daher grundsätzlich riskant erscheinen: der Stoff für ernste Sorgen und blühende Phantasien.


Damit aufgeräumt hat, fast genau hundert Jahre, nachdem Jacques-Jean Bruhier die Lawine losgetreten hatte, sein Landsmann (und Kollege) Eugène Bouchut. Dessen Traktat über die signes de la mort dreht, mit dem Segen des Institut de France, den Spieß einfach um: Statt weiterhin Zeichen des unsicheren Todes abzuhandeln, offeriert es das stillstehende Herz als Beweis fürs sichere Sterben. Die ›Asystolie‹ sortiert trennscharf, verlässlich und vor allem fix, sodass, anders als beim Fäulnis-Test, keine Karenzzeit anfällt: »Man hörte noch das Herz, unregelmäßig, alle 4 oder 5 Sekunden, endlich verschwindet alles.«46 Punkt. 


Im Ende des Menschen triumphiert das Wissen der Medizin. Von nun an durfte die Wissenschaft versprechen, konnte aber nichts mehr unternehmen.47

  1. 1Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, S. 11 ff.
  2. 2Christoph Wilhelm Hufeland, Über die Ungewißheit des Todes […], Weimar 1791, S. 21 und 34.
  3. 3Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 122009, S. 514.

  4. 4Hufeland, Ungewißheit (Fn. 2), S. 34.

  5. 5Jacques-Bénigne Winslow, Quaestio Medico-Chirurgica. An mortis incerta signa […], Paris 1740.

  6. 6In deutscher Übersetzung (des Leipziger ›Arzneiwissenschaftlers‹ Johann Gottfried Jancke) erschienen unter dem TitelAbhandlung von der Ungewißheit der Kennzeichen des Todes […], Leipzig/Kopenhagen 1754.
  7. 7Hufeland, Ungewißheit (Fn. 2), ders., Der Scheintod oder Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen darüber […], Berlin 1808.

  8. 8Auch die Staatswissenschaft hat sich des Themas angenommen: Robert v. Mohl (Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Bd. 1, Tübingen 1832, S. 220–224) geht darauf ein, und Johann Peter Frank, System einer vollständigen medizinischen Polizey, Bd. 5, Tübingen 1813 widmet dem Problem gar 500 Seiten. Alles in allem kommt der emeritierte Medizinprofessor und Goethe-Freund Johann Gottlob Bernstein in Rückblick (Medicinisch-chirurgische Bibliothek […]. Von 1750 bis mit Einschluss 1828, Frankfurt a. M. 1829) auf rund 70 einschlägige Titel, die literarischen, journalistischen und anders laienhaften nicht eingerechnet. Auch danach war die Scheintod-Frage alles andere als passé.
  9. 9William Hawes (Hg.), Abhandlungen der Londoner Königlichen Gesellschaft zur Rettung Verunglückter und Scheintoter (dt. Übersetzung von Christian August Struve), Breslau/Hirschberg/Lissa 1798. Die Gesellschaft existierte seit 1774, ihre Jahresberichte trugen den Titel Reports of the Humane Society for the Recovery of Persons Apparently Drowned. ›Königlich‹ durfte sie sich seit 1787 nennen.

  10. 10Die spärlichen Analysen späterer Tage verlieren diese Spaltung völlig aus den ­Augen. Vgl. etwa Martina Kessel, »Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert«, in Thomas Schlich und Claudia Wiedemann (Hg.), Hirntod, Frankfurt a. M. 2001, S. 133–166.

  11. 11Hufeland, Scheintod (Fn. 7), S. 8.
  12. 12Johann August Donndorff, Ueber Tod, Scheintod und zu frühe Beerdigung […], Leipzig/Quedlinburg 1820, S. 89.

  13. 13Ebd., S. 71 f. Hier zeichnet sich eine gewisse Nonchalance im Umgang mit dem Material ab: ›Jassorff‹ ist der Name des Pfarrers und nicht seiner Gemeinde. Doch darauf kommt es wohl nicht an – hier so wenig bei wie anderen Autoren (Hufeland ausgenommen). Es geht um den Eindruck und nicht die Einzelheit. Zeigen wird sich noch, dass englische Berichte auf Präzision und Zuverlässigkeit mehr Wert legen (müssen).

  14. 14Camill Meuth, Aufruf an Menschlichkeit und Vernunft zur Abwehr des schrecklichsten Todes nach dem Tode, Diss. München 1822, S. 6.

  15. 15Was nicht bedeutet, dass es zu dieser Zeit überhaupt keine englischen Sarg-Stories gegeben hätte – eine unwahrscheinliche Lücke angesichts der internationalen Verflechtung des Genres. Vgl. etwa John Snart, Thesaurus of Horror; or, the Charnel-House Explored!! […], London 1817, dem das unergründliche Schicksal sogar einen Neudruck beschert hat (Whitefish, MT 2009).

  16. 16Hawes, Abhandlungen (Fn. 9), S. 145

  17. 17Ebd., S. 158.

  18. 18Ebd., S. 67.

  19. 19Donndorff, Tod (Fn. 12), S. IX f.

  20. 20Benjamin Harrison, The Anniversary Sermon of the Royal Humane Society, Preached at Grosvenor Chapel on Sunday, April 16, 1799 […], London 1799, S. 14.

  21. 21Hawes, Abhandlungen (Fn. 9), S. 5.
  22. 22Hufeland, Ungewißheit (Fn. 2), S. 44.

  23. 23Ebd., S. 45.

  24. 24Gegebenenfalls mit der Verantwortung für mehrere (kleinere) Leichenhäuser. Vgl. Johann Georg Taberger, Der Scheintod in seinen Beziehungen auf das Erwachen […], Hannover 1829, S. 41. Der Königlich Hannoversche Hofmedicus und Großbritannische Stabsarzt sprach damit seiner Zunft aus der Seele.

  25. 25[Anonym], »Leichenhäuser oder keine?«, in Deutsche Vierteljahrsschrift 2/2 (1839), S. 80–99, hier S. 85; Ernst Gottlieb Steudel, Altbau und Neubau des Medicinal-Wesens in Württemberg […], Esslingen 1849.

  26. 26Hawes, Abhandlungen (Fn. 9), S. 155 f.

  27. 27Ebd., S. 167.

  28. 28Ebd., S. 168.
  29. 29Ebd., S. 167 f.
  30. 30ImAnnual Report von 1846 ist beispielsweise eine Statistik neuerer Fälle ab­gedruckt, der zufolge 22 Rettungstaten auf Erste-Hilfe-Maßnahmen zurückzuführen sind, während 83 Mal physische Anstrengungen (Springen, Tauchen, Rudern o. ä.) den Ausschlag geben. Dieses Verhältnis spiegelt sich wider in der Liste der Ausgezeichneten: 1 fähiger Arzt, 4 mutige Männer. Vgl. Royal Society, The Seventy-Second Annual Report […], London 1846, S. 47–58. Idealerweise hätte es genau umgekehrt sein müssen.

  31. 31www.royalhumanesociety.org.uk (23. 9. 2014).

  32. 32Royal Humane Society, Annual Report 2013, S. 14, http://www.royalhumanesociety.org.uk/annual_reports/AnnualReport2013.pdf (23. 9. 2014).

  33. 33Hufeland, Scheintod (Fn. 7), S. 230 f.
  34. 34Ebd., S. 193 f. Umgekehrt wird natürlich auch ein Schuh daraus: Daran, dass solche oder ähnlich dilettantische Patente ans Licht der Öffentlichkeit gelangt sind, lässt sich ablesen, wie unattraktiv das hufelandsche Leichenhaus-Projekt gewesen sein muss.
  35. 35Beispiele, dokumentiert in den Akten des Reichspatentamts, präsentieren: Ernst Burkel, Über die Verhütung des Scheintods, Diss. München 1984; sowie Helmuth Schmid, Historische Analyse des Scheintodes und der möglichen Verfahren, ein Lebendigbegraben zu verhindern, Diss. München 1986.

  36. 36Hawes, Abhandlungen (Fn. 9), S. 29.

  37. 37Donndorff, Tod (Fn. 12), S. X.

  38. 38Hufeland, Scheintod (Fn. 7) S. 154 und 322.
  39. 39Zumal dort, wo – wie in Württemberg – die Scheintod-Sache ernster genommen wurde, keinerlei »Funde«, geschweige denn sensationelle, gemacht worden sind. So notiert der als Amtsarzt tätige Steudel, es sei bei rund einer Million Beerdigungen in zwanzig Jahren niemand ins Leben zurückgeholt worden. Vgl. ders., Altbau (Fn. 25), S. 43.

  40. 40Hufeland, Scheintod (Fn. 7), S. 3. Eine Schieflage, die sich vor allem in einer langen Reihe staatlicher Edikte (darunter das Friedrichs des Großen) niederschlägt, welche gewährte Hilfeleistung bescheiden entlohnen und unterlassene fühlbar bestrafen. Deren Durchschlagskraft dürfte allerdings eher begrenzt gewesen sein, wie der einen oder anderen amtlichen Erinnerung (an eine Erinnerung) an die seit langem geltende Rechtslage abzulesen ist. 

  41. 41William Hawes, The Annual Report 1797, London 1797, S. 2. Nota bene: Die Dinge sind nicht so übersichtlich, dass ein Motiv (Rationalität) vom anderen (Humanität) einfach abgelöst würde. Schließlich hat Pastor Harrison zwei Jahre später wieder das hohe Lied der politischen Ökonomie gesungen. 

  42. 42Die aktuelle Hirntod-Debatte setzt sachlich dort ein, wo das Scheintod-Problem einmal zu den Akten gelegt werden sollte: bei der damals umstrittenen Behauptung, man müsse den (vielleicht) Toten nicht verfaulen lassen, um zu wissen, dass er (sicher) tot ist.

  43. 43Archibald Sinclair und William Henry, Swimming, London 81916.
  44. 44Ebd., S. 229.

  45. 45Was nicht impliziert, dass der einzelne Arzt erpicht darauf sein müsste, sich mit Toten zu beschäftigen – deren Fall ja immer auch das Ende seiner Kunst dokumentiert. Vgl. Ariès, Geschichte des Todes (Fn. 3), S. 511.

  46. 46Eugène Bouchut, Die Todeszeichen und die Mittel, vorzeitige Beerdigungen zu verhüten, Erlangen 1850 (frz. 1849), S. 62.

  47. 47Bouchut war auch insofern wegweisend, als er ausgebildete Ärzte in die ›Beerdigungs-Polizei‹ integrieren will; er schlägt vor, sie in amtlicher Funktion als (Todes-)Administratoren – ›inspecteurs‹, ›vérificateurs‹ – einzusetzen, was in Frankreich und darüber hinaus zur Regel werden sollte. Bouchuts Schlüsselstellung erschließt sich indessen erst im Rückblick. Aufs Ganze gesehen war man damals noch nicht so weit, seine Idee goutieren zu können. So hat einige Jahre später Gustav Le Bon – auch er unter dem Beifall führender Mediziner – die Fäulnis als exklusives Todeszeichen rehabilitiert und eine Leichenwache wie ›chez les Tartares‹ als einfachste Lösung empfohlen (De la mort apparente et des inhumations prématurées, Paris ²1866, S. 195–198).
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Heft 13 (2014)
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