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Das Weihnachtswunder in Halberstadt


Alle Jahre wieder feiert die Christenheit das Wunder der Geburt Gottes auf Erden in Gestalt von Jesus Christus. Alljährlich wird zu diesem Hochfest auch Maria geehrt, die nach dem Glaubenssatz der christlichen Kirchen Jungfrau und Mutter war.1 Davon berichten uns das Neue Testament sowie eine Unzahl theologischer Schriften und daran erinnern uns manchmal auch Inschriften an den unterschiedlichsten Trägern, nicht zu vergessen die stets wiederkehrende, in kommerzieller Absicht aufgepumpte Weihnachtsindustrie. Dazu gehören auch riesige Mengen an Tonträgern, die jedes Jahr den Markt überschwemmen, die Medien usurpieren und mit Weihnachtsliedern unser Gehör strapazieren. Eines dieser Lieder ist zum Gemeingut geworden, man hört es und singt es in jedem Jahr. In einer Form, die wir seit dem Ende des 16. Jahrhunderts kennen, schildert es uns in anmutiger Weise die Weihnachtsgeschichte. Wo und wann dieses Lied entstanden ist, darüber streitet die Gelehrtenwelt nach wie vor. Zwei Zeilen des Textes jedoch kommen losgelöst davon schon in einer Inschrift des Jahres 1475 an einem Standleuchter der Liebfrauenkirche in Halberstadt vor.2

Abb. 1: Standleuchter in der Liebfrauenkirche in Halberstadt. 
Foto: Markus Scholz. Abb. 1: Standleuchter in der Liebfrauenkirche in Halberstadt. 
Foto: Markus Scholz.

Dieser dreiarmige, metallene Standleuchter ist ca. drei Meter hoch, sein Standfuß hat einen Durchmesser von 69 Zentimetern. Er stand ehemals zu Häupten des Grabmals von Bischof Rudolph von Halberstadt (1136–1149), des Erneuerers der Halberstädter Liebfrauenkirche, und steht auch heute noch im Chor.3 Der Leuchter hat die Form eines Baumes mit drei Ästen. Von einem mehrfach profilierten Standfuß, der von drei Löwen getragen wird, geht er 
sich verjüngend in den Schaft über, der durch sieben Wirtel gegliedert ist. Oberhalb des fünften Schaftringes zweigen die beiden Leuchterarme ab, die selbst wieder von je drei Schaftringen mit Blattansätzen unterteilt sind. Über dem jeweils letzten Wirtel erhebt sich je eine Tropfschale mit einem Dorn in der Mitte. Unterhalb der Verzweigung sind eine gekrönte Madonna mit 
Kind – beide halten eine Frucht in Händen – sowie ein Wappen graviert. Unter diesem wiederum sieht man eine weitere Madonnendarstellung; hier hält ­Maria das Kind mit beiden Händen. Darunter befindet sich ein Meisterzeichen4 und nach unten abschließend folgt der mit Blattranken verzierte Standfuß. An dessen Rand läuft in gotischer Minuskel der paraphrasierte Liedvers oder die Gebetszeile um. Am Schaftansatz darüber ist ein Wappen mit einem Meisterzeichen zu sehen.


Abb. 2: Umlaufender Wirtel mit Jahreszahl, gekrönte Madonna mit Kind und Gießerzeichen. 
Foto: Markus Scholz. Abb. 2: Umlaufender Wirtel mit Jahreszahl, gekrönte Madonna mit Kind und Gießerzeichen. 
Foto: Markus Scholz.

Einer der Schaftringe trägt eine gravierte Inschrift mit dem Herstellungsjahr. Dieser Wirtel wurde aber bei einer Restaurierung, nachdem man ihn abgelöst und in Einzelteile zerlegt hatte, falsch wieder montiert.5

Die Inschrift daran heißt: »Anno · d(omi)ni · Mo · cccco · lxxv ·« (›Im Jahr des Herrn 1475‹). Die Teile des Lied- oder Gebetstextes, die auf der Oberseite des Standfußes in mittelniederdeutschen Worten umlaufen, lauten: 
»· maria · du · geberes · eyn · son · vnde · bleuest · ey(n) · rei(n) · mat · maria · alle · dyn · leuent« (›Maria, du gebärst einen Sohn und bleibst eine reine Magd, Maria, dein ganzes Leben‹).


Abb. 3: Teil der am Fuß umlaufenden Inschrift mit einem Textausschnitt. Foto: Markus Scholz. Abb. 3: Teil der am Fuß umlaufenden Inschrift mit einem Textausschnitt. Foto: Markus Scholz.

Den Leuchter hatte der spätere Dekan von Liebfrauen, Dietrich Block 
(† 1494), noch als Scholaster gestiftet.6 Block stammte aus der Mindener ­Diözese und hatte sich schon in den späten 40er und frühen 50er Jahren des 15. Jahrhunderts Anwartschaften auf Kanonikate an Kirchen in Halberstadt, Staßfurt, Zerbst und Jüterbog gesichert.7 Damals besaß er schon Benefizien in Helmstedt und in Quedlinburg. Lange Jahre nach dem Tod des Dekans von Liebfrauen, Dietrich von Mahrenholtz (1403–1438), erlangte er 1464 dessen Pfründe in Liebfrauen.8 Damals war er schon Dekan des Stiftes St. Paul in Halberstadt und besaß weitere Kanonikate und Altarlehen in Halberstadt, in Gunsleben im Bördekreis, in Hausneindorf im Harzkreis sowie in Staßfurt, Helmstedt und anderen Orten. Im Jahr 1466 wurde er dann Scholaster des Liebfrauenstiftes.9 Nach dem Tod des Dekans Jordan Heynen 1492 folgte er diesem im Amt. Sein Dekanatsamt hatte er dann jedoch bis zu seinem Tod nur noch zwei Jahre inne. Schon 1481 war ihm als Thesaurar vom Papst die Erlaubnis gegeben worden, einen Tragaltar zu benutzen.10

Die Zeile, die den Leuchter schmückt, gehört, wie aus dem Text ersichtlich wird, zu dem Vorläufer eines Kirchenlieds, das 1587/88 zuerst aufgezeichnet, im Jahr 1599 im Speyerischen Gesangbuch erschienen war.11 Seit 1609 ist es, nachdem es textlich in protestantischem Sinne abgeändert worden war, mit der innigen Melodie von Michael Praetorius (1571–1621) verbunden, in etlichen Varianten Allgemeingut. Es handelt sich bei den Worten auf dem Leuchter in der Liebfrauenkirche um einen Teil der zweiten Strophe des Weihnachtsliedes »Es ist ein Ros entsprungen« in einer niederdeutschen Textfas
sung.12 Er geht zurück auf die Bibelstellen Isaias 11,1 und Lucas 1,28–38. Schon seit dem 12. Jahrhundert war der Gedanke in der deutschen Dichtung in Form von Gebeten und Liedern wiedergegeben worden.13 Praetorius, seit 1595 Organist in Lüneburg, war Kammersekretär des bischöflichen Administrators von Halberstadt, Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg, seit 1604 dessen Hofkapellmeister und bis zu dessen Tod 1613 Hoforganist in der bischöflichen Residenz in Gröningen nahe Halberstadt.14 Er verstarb in Wolfenbüttel im Jahr 1621. Da er in bischöflichen Diensten oft in Halberstadt gewesen sein wird, möglicherweise sogar zeitweise dort gelebt hatte und eine Halberstädterin heiratete, kann er natürlich den Leuchter und seine Inschrift gekannt 
haben.


Das Lied »Es ist ein Ros entsprungen« in seiner katholischen Fassung war zunächst nicht für den gottesdienstlichen, sondern den häuslichen Gebrauch gedacht.15 Das zeigt sein Druck in einem Gebetbuch, und auch die ältesten Gesangbücher »haben einen außerliturgischen, häuslichen Gebrauch im Sinn«. Erst die Kurzfassung nach Michael Praetorius eignet sich für einen liturgischen Zweck. »Seinen eigentlichen Ort hat das Lied in der Christmette« und bei 
»einer Fülle von Gelegenheiten, zu denen dieses innige, gehaltvolle Christlied unsere Weihnachtsgottesdienste bereichern kann«. Ob der Leuchter ursprünglich eine auf das Weihnachtsfest bezogene Funktion hatte, weiß man nicht. Die Frage, wer der »noch immer namenlose Dichter unseres Liedes« ist, können wir nicht beantworten, höchstens komplizieren, indem wir auf eine mögliche niederdeutsche Fassung aus dem 15. Jahrhundert als Gebet oder Lied weisen.


  1. 1Martin Luther, Der Große und der Kleine Katechismus, ausgewählt und bearb. von Kurt Aland und Hermann Kunst. Mit einem Geleitwort von Karlheinz Stoll und einer Einführung von Horst Reller, Göttingen ²1985, S. 8.

  2. 2Die Inschriften der Stadt Halberstadt, gesammelt und bearb. von Hans Fuhrmann (Die Deutschen Inschriften, Bd. 86), Wiesbaden 2014, Nr. 47.
  3. 3Conrad Matthias Haber, Kurtze jedoch zureichende Beschreibung der Ober-Collegiat-Stifts-Kirchen B. M. V. in Halberstadt, Halberstadt 1737, S. 8; [Ludwig] F. Niemann, Die Stadt Halberstadt und die Umgegend derselben. Versuch eines topographischen Handbuchs für Einheimische und Reisende. Mit einem Plan der Stadt, Halberstadt 1824, S. 50; Fr[iedrich] Lucanus, Die Liebfrauenkirche zu Halberstadt deren Geschichte, Architektur, Kunstwerke u. Denkmale beschrieben als Andenken an die Restauration und die 
feierliche Einweihung derselben am Pfingstfest 1848, Halberstadt [1848], S. 21; Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Kreise Halberstadt Land und Stadt, bearb. von Oscar Doering (Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenk­mäler der Provinz Sachsen, Heft 23), Halle 1902, S. 345; erwähnt bei Hermann Lüer und Max Creutz, Geschichte der Metallkunst, Bd. 1: Geschichte der unedlen Metalle, Stuttgart 1904, S. 370.

  4. 4DI 86 (Fn. 2), Tafel 62, Nr. 3.

  5. 5Die Jahresangabe ist in vier Teile zerschnitten und in falscher Reihenfolge angebracht. Der erste Teil bis zumn des Wortes domini kopfstehend. Dann folgen die drei weiteren Teile in umgekehrter Reihenfolge, die letzten Teile der Zehnerziffern wieder kopfständig. Das zweite x durch den trennenden Schnitt beschädigt. Zuerst bemerkt von Karl Scheffer, Inschriften und Legenden Halberstädter Bauten. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt aus den letzten vier Jahrhunderten. Mit lithographischen Abbildungen, Halberstadt 1864, S. 49.
  6. 6Sein Wappen zeigt einen schräggestellten, doppelt gestummelten Ast, oben und unten je ein Eichenblatt; die genaue Herkunft Blocks lässt sich nicht feststellen. Zwar gibt es einige ähnliche Wappenfiguren gleichnamiger adeliger Familien, die jedoch erst im 18. Jahrhundert zu diesem Titel gelangten und somit nicht infrage kommen; das Wappen einer gleichnamigen preußischen Familie mit ähnlicher Wappenfigur, für die Belege aus dem 14. Jahrhundert vorliegen, dürfte ebenfalls nicht auf Verwandtschaft hinweisen; vgl. Siebmacher’sche Wappenbücher, Nürnberg 1605–1961, Bd. 7, Abt. 3b, Nachdr. Neustadt a. d. Aisch 1978, S. 4 mit Taf. 2. Eine bürgerliche Abkunft scheint wahrscheinlicher. Das Wappen eines gleichnamigen Dr. artium et medicinae bürgerlicher Herkunft, der Zeitgenosse war, aber ein wenig länger lebte, zeigt ein Wappen mit einer motivisch ähnlichen, jedoch nicht identischen Wappenfigur; siehe zu letzterem ebd., Bd. 5, Abt. 8, Nachdr. Neustadt a. d. Aisch 1975, S. 20 mit Taf. 22; Die Inschriften des Doms zu Halberstadt, gesammelt und bearbeitet von Hans Fuhrmann unter Nutzung der Vorarbeiten von Karin Iffert und Peter Ramm. Geleitwort von Ernst Schubert (Die Deutschen Inschriften, Bd. 75), Nr. 114, Fn. 10. Ob eine Verwandtschaft zwischen beiden bestand, ist ungewiss.

  7. 7DI 86 (Fn. 2), Nr. 57 † auch für das Folgende. Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten Nikolaus’ V. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1447–1455, bearb. von Josef Friedrich Abert (Repertorium Germanicum, Bd. 6), Berlin 1985/1989, Nr. 5352.

  8. 8Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Pauls II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte […] 1464–1471, bearb. von Hubert Höing, Heiko Leerhoff und Michael Reimann (Repertorium Germanicum, Bd. 9), Teil 1, Tübingen 2000, Nr. 5719, 836, 1933, 3591; Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten Pius’ II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte […] 1458–1464, bearb. von Dieter Brosius und Ulrich Scheschkewitz (Repertorium Germanicum, Bd. 8), Berlin 1993, Nr. 5444; Verzeichnis der in den päpstlichen Registern und Kameralakten Calixts III. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte […] 1455–1468, bearb. von Ernst Pitz, 2 Teilbde. (Repertorium Germanicum, Bd. 7), Berlin 1989, Nr. 2664.

  9. 9Repertorium Germanicum 9 (Fn. 8), Nr. 5719.

  10. 10Bau- und Kunstdenkmäler Halberstadt (Fn. 3), S. 348.

  11. 11Siehe zur Provenienzgeschichte Andreas Heinz, »›Es ist ein Ros entsprungen‹. Zur Provenienz und Textgeschichte eines ökumenischen Weihnachtsliedes«, in Trierer Theologische Zeitschrift 95 (1986), S. 253–281, hier S. 253–257. Die eigentlich zweite, hier die vierte Strophe einer älteren Fassung lautet: »Das roslein, das ich meine / Als vns Jesaias sagt, / das ist Maria die reine / die uns das blumlein hat bracht / der Engel gab den rath / sie solt ein kindlein gebirn / vnd bleiben eine reine magt«; Josef Kehrein, Katholische Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen, aus den ältesten deutschen Gesang- und Gebetbüchern, I–III: Die ältesten katholischen Gesangbücher von Vehe, Leisentritt, Corner und anderen, Würzburg 1859–1863. Nachdr. Hildesheim 1965, hier Bd. 2, Nr. 717, S. 690 f., siehe weiter ebd., Bd. 1, Nr. 118, S. 260; Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, 5 Bde., Leipzig 1864–1877, Nachdr. Hildesheim / Zürich / New York 1990, hier Bd. 2, Nr. 1153, S. 925; Georg von Gynz-Rekowski, Der Festkreis des Jahres, Berlin 1981, S. 34 f.; siehe auch die nur leicht abweichende Fassung der Niederschrift des Trierer Kartäuserfraters Conrad bei Heinz, Provenienz, S. 264, Fn. 42.

  12. 12Die Fassung der Strophe bei Praetorius lautet dann: »Das Röeßlein das ich meine /darvon Esaias sagt / hat vns gebracht alleine / Mary die reine Magd / aus Gottes ewgem raht / 
hat die ein Kind gebohren / (wol zu der halben Nacht)«; nach Musae Sioniae VI, Wolfenbüttel 1609, Nr. 53, hier zitiert nach Heinz, Provenienz (Fn. 11), S. 264.

  13. 13Vgl. z. B. das Arnsteiner Mariengebet von um 1150: »Sint du daz kint gebere / bit alle du were / luter unde reine / van manes gemeine«; Heinrich von Laufenberg (~1390–1460): »Es stot ein Lind in Himmelreich: Gegruosset siest maria / ein kron ob allen wiben / 
du solt ein kind geberen ja / und solt doch magt beliben«; Wackernagel, Kirchenlied 2 (Fn. 8), Nr. 789, S. 606; Eberhard Haufe (Hg.), Deutsche Mariendichtung aus neun Jahrhunderten, Berlin 1960, S. 26 f., 172 f. Siehe zur Geschichte des Liedes Hansjakob Becker u. a. (Hg.), Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, S. 135–145. Zu den biblischen Quellen und den liturgischen Grundlagen siehe Heinz, Provenienz (Fn. 11), S. 266–269, 280 f.

  14. 14Robert Eitner, Art. »Praetorius, Michael«, in Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, Leipzig 1888, S. 530–533; Bernhold Schmid, Art. »Praetorius, Michael«, in Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, Berlin 2001, S. 668–670. Zuletzt Siegfried Vogelsänger, Michael Prae­torius 1571–1621, Hofkapellmeister und Komponist zwischen Renaissance und Barock. Eine Einführung in sein Leben und Werk, Wolfenbüttel 2008.

  15. 15Heinz, Provenienz (Fn. 11), S. 280 f. auch für das Folgende und sämtliche Zitate.
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Heft 13 (2014)
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