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Versprechen und Verantwortung der Medizin


Kaum ein anderer Beruf ist so komplex in die zwischenmenschlichen Beziehungen involviert wie der des Arztes. Neben der Wissenschaftlichkeit und Menschlichkeit spielen auch künstlerische Komponenten eine wesentliche Rolle.1 Durch die Begegnung zweier Individuen bei Gesprächen und Untersuchungsprozeduren ist eine Standardisierung äußerst kompliziert. Erschwerend kommt hinzu, dass unser Wissen explosionsartig zunimmt und vom Einzelnen gar nicht mehr beherrscht werden kann.


Jeder Arzt ist in zweierlei Hinsicht mit dem Versprechen befasst: Erstens auf der Grundlage von mehr oder weniger wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen für den weiteren Fortgang von Diagnostik und Therapie und zweitens im Sinne von ›Notlügen‹, um den Patienten in vermeintlich hoffnungs­losen Situationen zu trösten und ihm Mut zuzusprechen, immer aber unter der Voraussetzung, verantwortungsvoll zu handeln – ein schwieriger Spagat. Um es nochmals zu verdeutlichen, es muss dem Arzt gelingen, in gewissen Situatio­nen dem Patienten die Angst zu nehmen und dessen Last mittragen zu helfen. Mitunter besteht aber der Trost auch in dem Ratschlag, den bevorstehenden Tod anzunehmen und zu respektieren und diesen Prozess ärztlich zu begleiten. Es hilft den betroffenen Patienten sehr, wenn man ihnen aufzeigen kann, was sie in ihrem Leben alles Sinnvolles im Hinblick auf Familie und berufliche Erfolge geleistet und eben auch zu einem guten Ende geführt haben, sodass sie loslassen können.


Nicht besprochen werden sollen hier allgemeingültige Grundsätze der Versprechen seitens der Wissenschaftsdisziplin Medizin – erstens – im Rahmen von Forschungsanträgen im Wettbewerb um forschungsrelevante Ressourcen zur Lösung von speziellen Fragestellungen sowie – zweitens – die allgemeinen gesellschaftsrelevanten Versprechen zwecks prinzipieller Verbesserungen gesundheitlicher Probleme wie Lebensverlängerung, Eliminierung von Krankheiten, Vermeidung von Infektionen oder auch die Optimierung sozial­medizinischer Gegebenheiten wie beispielsweise innerhalb der geriatrischen Betreuung. Die Gefahr des Spekulativen oder Verantwortungslosen ist hier groß, insbesondere, wenn die Versprechen nicht fundiert genug sind, wobei die Fragen von Glaubwürdigkeit, Haftung und eben Verantwortungslosigkeit ins Spiel kommen.2 Am Beispiel der Eliminierung der Tuberkulose, eine Zielstellung aus dem Jahre 1911, wird 100 Jahre danach im Lancet resümiert, dass trotz der Entdeckung der Anti-Tuberkulosa seit Ende der 30er Jahre noch andere Komponenten wie Soziales, Ethnisches, Wirtschaftliches (Bezahlbarkeit) und Politisches eine entscheidende Rolle spielen, d. h. dass das machbare Versprechen der Medizin nicht eingelöst werden konnte.3 Immerhin sind nach WHO-Angaben 2013 noch weltweit 
1,5 Millionen Menschen an der Tuberkulose gestorben.


Die berufsständigen Fragestellungen werden im Allgemeinen durch die Bundes/Landesärztekammern, den Marburger Bund, die wissenschaftlichen Fachgesellschaften, die Berufsverbände der Niedergelassenen, Vertreter der Krankenhausärzte und die Krankenkassenärztliche Vereinigung sowie Ethikkommissionen verschiedener Provenienz geregelt.


Das Umfeld, in dem der Arzt agiert, weist viele determinierende Faktoren auf:


  1. neue naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse wie molekularbiologische Diagnostik, Gentechnologie, Biotechnologie, embryonale Stammzellforschung, Transplantationsmedizin, genetisches Enhancement, Neuroendokrinologie, Fortschritte der Bildgebung und Gesundheitstechnologie und vieles andere mehr,
  2. mangelnde Zeit für persönliche Beratung,
  3. medizinethische Reflexionen, wie zum Beispiel Konflikte am Beginn (Insemination, Embryotransfer, adulte Stammzelltransplantation, Präimplantationsdiagnostik) oder am Ende des Lebens (Pflegeprobleme, Sterbehilfe),
  4. hoher Druck der Begrenztheit der ökonomischen Mittel.

Zunächst möchte ich auf das historisch gewachsene und im Laufe der Geschichte mehrfach gewandelte Arzt-Patient-Verhältnis eingehen, das bei jeder praktischen Interaktion zwischen Patienten und Arzt eine herausragende Rolle spielt und von dem so viel für den Erfolg des weiteren Krankheitsverlaufes des Patienten abhängt.


Arzt-Patient-Verhältnis


Das Arzt-Patient-Verhältnis bezieht sich in der Mikroebene auf Einzelentscheidungen am Patienten und bildet sich summarisch auf der Makroebene im Gesundheitssystem unserer Gesellschaft ab, die wiederum die Ausstattung und Ausgestaltung der Medizin determiniert. Daher werden hier auch medizinsoziologische, -historische und -psychologische Dimensionen berührt.


Seit dem Altertum wurde über die Arzt-Patient-Beziehung nachgedacht. Noch heute spielt der Hippokratische Eid eine Vorbildrolle. Seine moralischen Verpflichtungen beziehen sich auf das Wohl der Patienten, die Schadensvermeidung (primum non nocere) und die Verschwiegenheit. Es fehlen aber die Wahrhaftigkeit (Information), Achtung der Autonomie des Patienten sowie professionelle und menschliche Verantwortung. Infolge des gesellschaftlichen Wandels ist dieser Eid jedoch mehrfach modifiziert worden, so unter anderem in der Europäischen Patientenrechts-Charta im Jahre 2002 als derzeit gültiges Denkmodell. Auch mythologische, philosophische und klösterliche Einflüsse hatten früher einen gewissen Stellenwert.


Anfangs spielte der sogenannte Paternalismus eine dominante Rolle. Hierbei bestimmte der Arzt das diagnostische und therapeutische Vorgehen aufgrund seines Expertenwissens in Ausübung einer gewissen ›Machtposition‹ und ließ kaum Diskussionen zu. Die Information ging vom Arzt zum Patienten. Er wusste, was für den Patienten gut ist. Dies bedeutet einen medizinrechtlichen Minimalstandard. Später setzte sich die Autonomie des Patienten im Sinne von Recht auf Selbstbestimmung durch, was einen immensen Vertrauens- und Verantwortungszuwachs bedeutete. Informierte Zustimmung (informed consent), care-Ethik, evidenzbasierte Patientenentscheidung und »shared decision making« respektieren liberale Prinzipien, Nöte und Abhängigkeiten kranker Menschen, die unterschiedlich mit Wissen ausgestattet sind. Dadurch werden zentrale ethische Prinzipien wie Wohltun, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit verwirklicht und Vertrauen, Aufrichtigkeit und Empathie aufgebaut. Mehrere Stufen des Patientenwillens werden heute akzeptiert: 


Gemäß des Grades der Interaktion werden bestimmte Arzt-Patient-Modelle unterschieden.4

Hippokratisches Modell (paternalistisches Modell)


Es wurde bereits oben beschrieben und gilt heute als schwaches Modell des tugendhaften Arztes (›Halbgott in Weiß‹), das in erster Linie nur noch in Notsituationen Anwendung findet.


Informationsmodell 


Der Patient agiert als rationaler Akteur, der die alleinige Verantwortung zur Entscheidung über einzuleitende Maßnahmen treffen will, nachdem er eigene Informationen gemäß persönlicher Präferenzen eingeholt hat. Entscheidungshilfen (decision aids) können entweder vom Patienten verarbeitet oder auch vom Arzt ergänzend dargeboten werden, sodass ein risikoarmes standardisiertes Vorgehen angestrebt wird. Im Internet ist das Deutsche Netzwerk evidenzbasierte Medizin sehr hilfreich.5 Letztendlich entscheidet der Patient allein, nachdem er ggf. auch seine Familie und Freunde konsultiert hat. Selten werden transaktionale Entscheidungshilfen durch Arzt und Patient berücksichtigt. Diese ›obligatorische Autonomie‹ lässt den Patienten allein und missachtet die Professionalität der medizinischen Berufe!


Kundenmodell (Vertragsmodell)


Der Patient ist hier völlig autonom und wird als Konsument auf dem freien Markt angesehen. Er kauft als Kunde Dienstleistungen seitens der Ärzte als Ware, gleichgültig, ob er hinreichend informiert ist oder nicht, er besitzt also die größtmögliche Entscheidungsbefugnis. Der Arzt ist seiner Mitverantwortung weitgehend enthoben, ist aber haftungsrechtlich zur Sicherungsaufklärung verpflichtet, auf den Heilungserfolg bestimmter Maßnahmen hinzuweisen. Leider gilt dieses Modell in den meisten Fällen. Die Vertragsleistung kann über die üblichen Ziele hinausgehen. Das Modell nimmt Werte des Patienten als Tatsachen und vernachlässigt den sozialen Kontext sowie das Fürsorgeprinzip, indem nur eine minimalistische Beziehung aufgebaut 
wird.


Modell der patientenzentrierten und partizipativen Entscheidungsfindung (Partnerschaftsmodell)


Hierbei geht es nach Sammlung ausführlicher Informationen um das Verstehen der Patientenperspektive (patientenzentriert) und um ›shared decision making‹, d. h. um eine abschließende Behandlungsentscheidung, in die natürlich auch ärztliche Empfehlungen einfließen. Das Modell zeichnet sich durch hohe Flexibilität aus und überträgt die (Mit)Verantwortung nach ausführlicher Aufklärung auf beide Partner in dem Maße, wie der Patient dies wünscht. Nach guter Dokumentation ist die Zustimmung des Patienten erreicht (informed consent). Die ›uneingeschränkte‹ Autonomie des Patienten wird dadurch relativiert, dass er eben kein Fachmann ist. Zudem könnten unbotmäßige Patientenwünsche die Ressourcen des Gesundheitssystems für nicht evidenzbasierte Entscheidungen/Maßnahmen zu sehr strapazieren. Dieses Modell gilt eher im Falle längerfristigen Kontaktes.


Reale Interaktionsmuster


Ein idealtypisches Muster lässt sich selten realisieren. Patientenautonomie kann im Falle von Hilflosigkeit oder lebensbedrohlichen Situationen nicht garantiert werden, vielmehr kommt in diesen Fällen das paternalistische Handeln zum Tragen. Seitens der Ärzte wird in Abhängigkeit vom Fachgebiet und den anstehenden Entscheidungen ein unterschiedliches Maß an Mitbestimmung seitens des Patienten zugelassen. Andererseits ist das Bedürfnis nach Mitbestimmung je nach Alter, Geschlecht, Erkrankungszustand, Bildungsgrad, Schichtzugehörigkeit und Ethnizität der Patienten differenziert ausgeprägt.


Schließlich bestehen Defizite in der Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten der jungen Ärzte und zeitliche Zwänge in der Praxis. Die Ärzte schätzen das Partizipationsbedürfnis der Patienten oft nur mangelhaft ein, unterbrechen das Gespräch relativ kurzfristig und versuchen die Gesprächsführung zeitsparend zu dominieren. Standardisierte schriftliche Aufklärungsbögen, die sehr zahlreich verwendet werden, finden oft nicht genügend aufklärende Erörterungen. Deutliche Unterschiede bestehen auch zwischen Privat- und Kassenpatienten. Diesbezüglich bleibt noch viel zu tun.


Die Auswirkungen von Entscheidungshilfen bei den Arzt-Patient-Gesprächen werden seit 1999 in einem Cochrane Review kontinuierlich verfolgt.6 Evidenzbasierte Aufklärungsbögen, die im ärztlichen Gespräch vertieft wurden, haben sich positiv ausgewirkt. Das Gleiche trifft auf die autonomiefördernde, patientenzentriert-deliberative gegenüber der paternalistischen Gesprächsführung zu. Auswirkungen auf die ökonomischen Folgen sind sehr komplex zu beurteilen. Bezüglich der unterschiedlichen kulturell-ethnischen Konstellationen ist wenig bekannt.


Schlussfolgerungen


Zur Verbesserung der Strategien im Arzt-Patient-Verhältnis wurde in letzter Zeit vieles erforscht. Der interdisziplinäre Diskurs ist notwendig und hält an. Sicher ist das deliberative (überlegende, beratschlagende) Arzt-Patient-Beziehungsmodell zu favorisieren, das genügend Spielraum für Patientenautonomie, Mitspracherecht, gemeinsame Verantwortung in flexibler, konsensueller, empathischer Gestaltung unter Berücksichtigung eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses zulässt. Standardisierte evidenzbasierte Aufklärungs­bögen sind hilfreich, vielleicht aber nicht für alle Patientengruppen zuträglich. Zu beachten sind aber auch engagierte Selbsthilfegruppen, wenn sie von Pharmaunternehmen unter Umgehung der Ärzteschaft nach dem Kundenmodell beworben werden, woraus nicht evidenzbasierte Therapievorschläge und Forderungen resultieren können. Es existieren aber auch zahlreiche positive Beispiele von Selbsthilfegruppen mit eigenen klinischen Beiräten. Schließlich sind die Patien­ten in den parlamentarischen Gremien nicht ausreichend vertreten und ohne Stimmrecht. 


Daraus ergibt sich, dass noch manches zu tun bleibt, um das Versprechen der Medizin gegenüber der Gesellschaft im Großen und gegenüber den Patien­ten im Einzelnen, eine optimale Gesundheitsbetreuung zu erreichen, einzulösen.


Anforderungen zur ärztlichen Berufsausübung 


Ärzte und Patienten erleben die Veränderungen im Gesundheitswesen oft als enttäuschend. Die Notwendigkeit einer berufsethischen Reformierung des Gesundheitswesens soll vor allem die Bemühungen der Ärzteschaft sicherstellen, dem Wohle des Patienten in sozialer Gerechtigkeit unter unterschiedlichen Kulturen und politischen Systemen zu dienen. Dies wird durch sich wandelnde Marktgegebenheiten und eine explosionsartige technologische Entwicklung ­determiniert. Die 2002 formulierte europäische Charta baut gewissermaßen auf dem Hippokratischen Eid auf, der noch heute ganz wesentliche ethische Prinzipien enthält.


Grundprinzipien sind:


  1. der Vorrang des Patientenwohls durch Hingabe und Vertrauensbildung seitens des Arztes,

  2. die Respektierung der Autonomie des Patienten und

  3. die Förderung der sozialen Gerechtigkeit wie gerechte Verteilung der verfügbaren Ressourcen und Vermeidung von Diskriminierungen bezüglich Rasse, Geschlecht, Religion, ethnischer Herkunft und sozioökonomischem Status.7

Die beruflichen Verpflichtungen bzw. Versprechen und Verantwortlichkeiten beziehen sich auf:


  1. fachliche Kompetenz, die auf lebenslangem Lernen beruht und eine hohe Versorgungsqualität garantieren soll,

  2. Ehrlichkeit gegenüber Patienten mit vollständiger kritischer Information einschließlich der Einräumung von Behandlungsfehlern,

  3. Schweigepflicht zum Schutz der Patientendaten auch angesichts elektronischer Patientendaten und genetischer Informationen, es sei denn, dass vom Patienten ernsthafte Gefährdungen ausgehen (Vorrang des öffent­lichen Interesses),

  4. Einhaltung angemessener Arzt-Patient-Beziehungen, insbesondere des Missbrauches sexueller Vorteile oder der persönlichen finanziellen Bereicherung,

  5. Verbesserung der Versorgungsqualität wie Vermeidung von Behandlungsfehlern, Erhöhung der Patientensicherheit und Anwendung von Qualitätsmaßstäben,

  6. Verbesserung des Zugangs zur Versorgung, unter anderem durch Förderung der öffentlichen Gesundheit und der medizinischen Vorsorge,

  7. gerechte Verteilung begrenzter Ressourcen durch kosteneffiziente Verwaltung, Vermeidung überflüssiger Untersuchungen (elektronische Gesundheitskarte!),

  8. wissenschaftliche Fachkenntnis durch Anwendung von Standards der evidenzbasierten Medizin,

  9. Wahrung des Vertrauens durch Bewältigung von Interessenkonflikten mit Herstellern von Geräten, Pharmaunternehmen, Versicherungsgesellschaften, Beteiligung an klinischen Studien,

  10. berufliche Verantwortung hinsichtlich optimaler Patientenversorgung, respektvollen Umgangs miteinander, Beteiligung an Selbstregulierungsprozessen bei der Einhaltung der Berufsnormen (Abhilfe- und Disziplinar­maßnahmen).8

Kaum in einer anderen Berufsgruppe sind die fachlichen und menschlichen Anforderungen so hoch wie beim Ärztestand. Es gilt, die wachsenden Widersprüche zwischen den legitimen Bedürfnissen des Patienten und den verfügbaren Ressourcen zu bewältigen. Die vorliegende Charta stellt eine Neu-Orien­tierung bei der Durchsetzung des Aktionsprogramms des Berufsstandes der Ärzte dar und soll bei der Durchsetzung der Ziele: ›Versprechen und Verantwortung‹ helfen.

Ökonomische Probleme


Die Medizin befindet sich nicht auf einer Insel der Seligen, sondern ist in die ökonomischen Zwänge unserer Gesellschaft eingebunden. Aus einer humanen sozialen Praxis soll sie in einen Gesundheitsmarkt mit Management-Denken verwandelt werden. Das Vordringen der Märkte bzw. des marktorientierten Denkens in Dimensionen des menschlichen Körpers, die traditionell außerhalb der Märkte standen, ist eine der fragwürdigsten Entwicklungen unserer Zeit. Der Arzt hat in seinen ureigensten Tätigkeitsfeldern zunehmend fiskalpolitische und verfahrenstechnische Vorschriften zu respektieren.


Dem Diktat der Zeitökonomie und der Ökonomie des Marktes mit der Notwendigkeit zur Effizienzsteigerung fällt die Zeit für die Gesprächsführung zum Opfer. Hier wird durch Reduzierung der Zuwendung die entscheidende Weichenstellung des weiteren ärztlichen Handelns vernachlässigt. Die sinnstiftende menschliche Beziehung wird formal durch ökonomisch-verwaltungstechnische Vorgaben normiert. Die Ökonomie als eigentliche Dienerin der Medizin wird zum Dominator über die Medizin. Ideal wäre es, wenn beide Seiten – Medizin und Ökonomie – als Partner vernünftig interagieren mit der Priorität medizinischer Argumente im Dienste des Patienten. Es besteht die Gefahr, dass Ärzte zu Managern mutieren, die vorgegebene Behandlungspakete nach DRG-Kriterien zusammenstellen, die jeweils kontrolliert und dokumentiert werden. Daraus ergeben sich kaum mehr fachliche Ermessensspielräume für den Arzt mit Vertrauensverlust sowie eine gewisse Deprofessionalisierung. Wie im bereits geschilderten Kundenmodell werden neue ›Produkte‹ beworben und deren Absatzsteigerung angestrebt. Der Patient wird als Tauschpartner gesehen, dem etwas angeboten und verkauft wird, statt ihn als hilfsbedürftigen Menschen anzunehmen. Das bisher so hoch geschätzte Vertrauensverhältnis mutiert zum Vertragsverhältnis. 


Die Tendenz zu Subspezialisierungen von Kliniken auf wenige Behandlungsprozeduren (›Fließbandarbeit‹) ist unübersehbar, um den materiellen Gewinn zu maximieren. Sie unterwerfen sich dem Diktat des monetären Erfolges. Sie liefern einen perfekten Service ohne persönliche Anteilnahme am Schicksal des Kranken und vernachlässigen ganzheitsmedizinische Probleme. Relativ ­wenige Kliniken, zumeist die der Universitäten, halten die gesamte Breite ­medizinischer Leistungen vor und wirtschaften defizitär, d. h. sie schreiben rote Zahlen.


Das soeben Besprochene verbalisiert einige aktuelle Gefahren der ökonomisierten Medizin. In Abb. 1 wird der Wandel der Medizin von der sozialen zur marktwirtschaftlichen Identität zusammengefasst. Die Ärzteschaft muss auf der Hut sein, ihre ureigene Aufgabe, im Dienste des Patienten zu handeln, nicht der Ökonomie zu überlassen. Anderenfalls wird sie am Ende keine Medizin mehr sein.


Abb. 1: Thesen des Wandels (nach Giovanni Maio, modifiziert nach Jan Schulze und Otto Bach).9 Giovanni Maio, »Ärztliche Hilfe als Geschäftsmodell? Eine Kritik der ökonomischen Überformung der Medizin«, in Deutsches Ärzteblatt 109/16 (2012), S. A 804–A 807, hier S. A 807; Jan Schulze und Otto Bach, »Ärztliches Selbstverständnis und wirtschaftliche Zwänge«, in Ärzteblatt Sachsen 25/12 (2014), S. 505–507, hier S. 506.
 Abb. 1: Thesen des Wandels (nach Giovanni Maio, modifiziert nach Jan Schulze und Otto Bach).9

Selbstkritisch bleibt aber auch anzuerkennen, dass die Medizin einer gewissen politischen Steuerung unterliegt, die letztendlich demokratisch im Parlament erarbeitet und vorgegeben wird. Dort wird gesetzlich verankert, welcher prozentuale Anteil des Bruttosozialproduktes in das Gesundheitswesen unter welchen Prämissen fließen darf. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Ökonomie einen Warner dar, den festgelegten Rahmen nicht zu überziehen und ›zwingt‹ die Medizin, sich innerhalb eines Maschennetzes objektiv vergleich­barer ­Finanzdaten zu verwirklichen. Die entscheidende Frage besteht darin, was sich unsere Gesellschaft leisten will und leisten kann. Diese Devise muss befolgt werden, ggf. auch durch entsprechende Reformen oder Umvertei
lungen.


Angestrebtes Arztbild: Versprechen und Verantwortung


Das ärztliche Berufethos unterliegt noch immer dem hippokratischen »Salus aegroti suprema lex« – das Wohl des Kranken ist höchstes Gesetz. Aus heutiger Medizinethik muss es eigentlich lauten »Salus ex voluntate aegroti suprema lex«, das sich aus dem Willen des Patienten ergibt. Dies lässt sich auch durch Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes begründen, d. h. das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Wie bereits oben dargestellt, werden in der Charta zur ärztlichen Berufsausübung die folgenden Prinzipien formuliert:


  • Vorrang des Patientenwohls,

  • Autonomie des Patienten,

  • soziale Gerechtigkeit.


Daraus ergeben sich kurz gefasst die folgenden beruflichen Verpflichtungen:10

  • fachliche Kompetenz,

  • Ehrlichkeit gegenüber dem Patienten,

  • Schweigepflicht,

  • gerechte Verteilung der begrenzten Resourcen,

  • Wahrung des Vertrauens durch die Bewältigung von Interessenkonflikten.


Der Arzt sollte sich Zeit nehmen, zuzuhören und auf neuestem wissenschaftlichen Stand verständnisvoll aufklären.11 Die dabei gezeigte Aufmerksamkeit, Echtheit und Wertschätzung impliziert Empathie, die den entscheidenden Schlüssel für den erfolgreichen Fortgang von Diagnostik, Therapie und Rehabilitation darstellt. Das sinnvolle ärztliche Gespräch wirkt gewisser
maßen als nützliches ›Placebophänomen‹ und fördert die Compliance oder Adhärenz. 


Gelegentlich wird der Begriff ›Adhärenz‹ nur gewählt, weil ›Compliance‹ abgegriffen ist. In Wirklichkeit meint Adhärenz aber den Dreiklang von:


  • Erfragen der Patientenperspektive,

  • Suche nach Verständlichkeit und emotionaler Akzeptanz sowie,

  • Respekt vor der Haltung des Patienten.


Daraus resultiert, dass das »Verhalten einer Person, verordnete Arzneimittel einzunehmen, Ernährungsempfehlungen zu folgen und/oder den eigenen ­Lebensstil zu ändern, mit wissenschaftlich fundierten Empfehlungen von Behandlern übereinstimmt«.12 Adhärenz ist demnach grundlegender und umfassender definiert als Compliance!


Die ausführliche ärztliche Beratung stellt in gewisser Weise eine Bringschuld der Schulmedizin dar! Das Rollenverhalten von Ärzten sollte daher dialog-orientiert sein, eine Methode, der sich auch Homöopathie, Anthroposophie und andere alternative Heilverfahren mit großem Zuspruch bedienen und deren ›Erfolge‹ zu einem größeren Teil darauf zurückzuführen sind. Gespräche auf dem Gang, zwischen Tür und Angel oder übermüdet durch Nachtdienst sind kontraproduktiv. Zuwendung ist kein Feind der Effizienz! Während des Studiums und der Facharztausbildung müssen die Fähigkeiten zu mensch­licher Zuwendung und zu kommunikativem Geschick besser trainiert werden!


Neben der Grundlagenforschung ist die klinische Forschung am Patienten ein tägliches Gebot für den Arzt. Sie geht von der Beobachtung am kranken Menschen aus und deren Ergebnisse sollen dem Kranken wieder zugutekommen. Personalisierte oder individualisierte Medizin steht dafür, individuelle Unterschiede der erkrankten Menschen anhand von Markern aus Genomik, Proteomik oder Transkriptomik für Diagnostik, Therapieauswahl und Therapiesteuerung zu nutzen. Die Informationen, unter anderem im Internet, sollen transparent und entsprechend evidenz-basierter Leitlinien verfügbar gemacht werden, um auch Unsicherheiten zu vermeiden. Dazu gehört auch die Information über Risiken und Alternativen. Unstrittig fördert die eigene Forschungstätigkeit der Ärzte – wenigstens einmal im Laufe der Ausbildung – aufgrund persönlicher Erfahrungen die kritische Interpretation publizierter Neuigkeiten. Der wiederum kritische wie tolerante interdisziplinäre Diskurs und die ­lebenslange Weiterbildung fördern die ärztliche Kompetenz und bereichern das ärztliche Berufsleben ganz entscheidend.


Es stellt eine große Herausforderung dar, Fähigkeiten als Arzt, Lehrer und Wissenschaftler sowie die Empathie am Patienten zu entwickeln und zu pflegen. Dies erfordert nach A. Kussmaul, einem herausragendem Internisten des 19. Jahrhunderts: »Klares Denken, warmes Fühlen und ruhiges Handeln«.13

Für die Fortführung eines zukunftsfähigen und finanzierbaren Gesundheitswesens hat die Ärzteschaft folgende berufspolitische Kriterien definiert:14

  • freie Arztwahl und Therapiefreiheit,

  • Chancengleichheit beim Zugang zur Heilbehandlung,

  • Definitionskompetenz der Ärzte für Qualität und Professionalität der medizinischen Versorgung,

  • Wettbewerbsgleichheit der niedergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser,

  • angemessene Honorierung der ärztlichen Leistungen.


Parallel dazu bedarf es der Fortentwicklung einer ärztlichen Ethik und Heilkultur, geprägt von


  • humaner Gesinnung und menschlicher Haltung,

  • Einfühlungsvermögen, ethischer Reflexion und Kommunikation, Bescheidenheit und fürsorgliche Zuwendung,

  • Wissenschaftlichkeit,

  • wirtschaftlichem Verständnis und 

  • Selbsterkenntnis.


Wir haben Versprechen über Versprechen besprochen, die alle die hohe Verantwortung des ärztlichen Berufes und seiner Berufung reflektieren.


Wir treten für eine humane Gesundheitspolitik und ärztlich-ethisch gesteuerte Medizin ein, die den Arzt als Helfer, Heiler, Begleiter und Anwalt des Patienten sieht und dessen Heilungschancen höher bewertet als starre Verwaltungsvorgaben. Dies ist ein anspruchsvolles Versprechen, das täglich neu erarbeitet und belegt werden muss, um der geforderten Übernahme von Verantwortung gerecht zu werden: »Die Medizin muss lernen, eine tiefe Wertschätzung für jeden Menschen zum Ausdruck zu bringen« (Giovanni Maio)!


  1. 1Robert Jütte, »Heilkunst versus Heilkunde aus medizinhistorischer Perspektive«, in Deutsche Medizinische Wochenschrift 137 (2012), S. 2683–2688.

  2. 2Hannes Siegrist, »Versprechen in der modernen Wissenschaft«, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Heft 12 (2014), S. 9–30, http://denk­stroeme.de/heft-12/s_9-30_siegrist (18. 3. 2015).

  3. 3Stephen D. Lawn und Almuddin I. Zumla, »Tuberculosis«, in The Lancet 378/9785 (2011), S. 57–72.

  4. 4Tanja Krones und Gerd Richter, »Ärztliche Verantwortung: das Arzt-Patient-Verhältnis«, in Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 51/8 (2008), S. 878–826.
  5. 5http://www.ebm-netzwerk.de/ (20. 3. 2015).

  6. 6Vgl. zuletzt Dawn Stacey u. a., Decision aids for people facing health treatment or sceening decisions (Cochrane Library 1 (2014)).

  7. 7Medical Professionalism Project, »Medical professionalism in the new millennium: a physicians’ charter«, in The Lancet 359/9305 (2002), S. 520–522, hier S. 502.

  8. 8Vgl. ebd., S. 520 f.

  9. 9Giovanni Maio, »Ärztliche Hilfe als Geschäftsmodell? Eine Kritik der ökonomischen Überformung der Medizin«, in Deutsches Ärzteblatt 109/16 (2012), S. A 804–A 807, hier S. A 807; Jan Schulze und Otto Bach, »Ärztliches Selbstverständnis und wirtschaftliche Zwänge«, in Ärzteblatt Sachsen 25/12 (2014), S. 505–507, hier S. 506.
  10. 10Jan Schulze, »Ökonomie und ärztliche Ethik«, Vortrag auf dem Symposium der Österreichischen Ärztekammer, Wien, 24.–25. 1. 2014, S. 3; https://www.slaek.de/media/dokumente/04presse/reden/Oekonomie_und_Ethik_Wien.pdf (20. 3. 2015).
  11. 11Vgl. Elisabeth Märker-Hermann, »Humanität, Wissenschaft und Verantwortung als Basis der Arzt-Patienten-Beziehung«, Rede auf dem 119. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Wiesbaden, 7. 4. 2013, S. 2; http://www.dgim.de/portals/pdf/Kongresse/M%C3%A4rker-Hermann%20Rede%20119%20%20Kongress%20DGIM.pdf (20. 3. 2015).

  12. 12Eduardo Sabaté, Adherence to long-term therapies. Evidence for action, WHO 2003, S. 3.

  13. 13Zit. nach Märker-Hermann, Humanität, Wissenschaft und Verantwortung (Fn. 11), S. 14.
  14. 14Schulze, Ökonomie und ärztliche Ethik (Fn. 10), S. 4.
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Heft 14 (2015)
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1867-7061

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