Vita regularis – Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen
Rules and Observance. Devising Forms of Communal Life
Herausgegeben von Mirko Breitenstein, Julia Burkhardt, Stefan Burkhardt, Jens Röhrkasten (Vita regularis. Abhandlungen, Band 60), Lit-Verlag, Berlin 2014, 303 + X Seiten, 10 Abbildungen, Broschur.
Der vorliegende Band präsentiert die Beiträge zweier Sektionen, die von der Heidelberger und der Leipziger Arbeitsstelle des Projektes Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore Europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle im Jahre 2012 gemeinsam auf dem International Medieval Congress in Leeds organisiert und durchgeführt wurden. Auf diesem traditionsreichen Forum stellten die Projektmitarbeiter ihre Forschungsansätze und erste Ergebnisse erstmals der internationalen Fachöffentlichkeit vor. Dankenswerterweise konnten dafür wie auch für die hier anzuzeigende Veröffentlichung der Tagungsbeiträge weitere, international renommierte Wissenschaftler gewonnen werden, die mit eigenen Studien die Ansätze und Erkenntnisinteressen der Mitarbeiter beider Projektteile zu bereichern vermochten.
Die Entscheidung, für diese erste internationale Präsentation den Gegenstand von Regeln und entsprechender Regelbefolgungspraxis zu wählen, wurde getroffen, weil es sich bei der vita religiosa stets um eine vita regularis handelt. Jene in den religiösen Orden und Gemeinschaften praktizierte Lebensform war konsequent regelgeleitet, und diese institutionalisierte Orientierung an Normen war ebenso wie der praktizierte Umgang mit ihnen innovativ und nachhaltig prägend für die Moderne.1 Der Gegenstand des Bandes berührt somit unmittelbar zentrale Fragestellungen des Projektes.
In Anlehnung an diese Leitfragen ist der Band in vier Sektionen gegliedert, deren erste dem Phänomen der Normsetzung gewidmet ist (»Creation of Norms«). Sie wird eröffnet durch einen Beitrag von Nicholas W. Youmans (Dresden), der die Entwicklung des den Franziskanerorden in besonderer Weise prägenden Autoritätsgefüges untersucht und dabei die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und den ihn verpflichtenden Gehorsamsstrukturen analysiert. Anna Campbell (Reading) richtet ihr Augenmerk auf die Bedeutung verschriftlichter Normen für die franziskanischen Erneuerungsbewegungen des 15. Jahrhunderts, wobei der in Frankreich durch Colette von Corbie initiierte Zweigorden der ›Colettinnen‹ (oder ›Armen Klarissen‹) im Zentrum steht. Mit den Niederlassungen der Camaldolenser lenkt Nicolangelo d’Acunto (Mailand) schließlich den Blick auf die normsetzende Kraft architektonischer Entwürfe, die er dabei als wesenhaften Ausdruck spiritueller Leitideen zu erkennen vermag.2
Die Beiträge der zweiten Sektion nehmen das Problemfeld der Durchsetzung von Normen (»Enforcing of Norms«) in den Blick. So untersucht Bert Roest (Nijmegen) den Ausbau einer Bildungsinfrastruktur im bereits etablierten Franziskanerorden des späten Mittelalters. Auch Jens Röhrkasten (Birmingham) widmet sich in seinem Beitrag den Franziskanern und untersucht dabei das Verhältnis von Gehorsam und Ungehorsam im administrativen Ordensalltag. Hieran schließen sich Beobachtungen von Amanda Power (Sheffield) an, die anhand englischer Quellen des 13. Jahrhunderts auffällig divergierende Stellungnahmen zum Umgang mit dem geforderten Gehorsam herauszuarbeiten vermag.
Die dritte Sektion widmet sich Fragen des Normentransfers (»Transfer of Norms«) und damit einem der zentralen Erkenntnisinteressen des Akademieprojektes Klöster im Hochmittelalter. So beschäftigt sich Stefan Burkhardt (Heidelberg, HAdW) in seinem Beitrag mit dem Einfluss sowohl des klösterlichen Zeitregiments als auch der entsprechenden Kompetenzen der Zeitmessung auf die Welt. Mirko Breitenstein (Dresden, SAW) wiederum beleuchtet die dichten Rezeptionsprozesse eines ursprünglich für die klösterliche Erziehung in einem Konvent verfassten Traktats in anderen Gemeinschaften und vor allem auch in der Welt jenseits der Klostermauern. Auf Basis vor allem normativer Quellen untersucht Coralie Zermatten (Dresden) den institutionellen Wandel des Karmelitenordens und seinen Transfer vom Berg Karmel im Heiligen Land in die Städte Europas. Florent Cygler (Nantes) widmet sich schließlich dem außerordentlichen Einfluss der dominikanischen Konstitutionen auf die Rechtsordnung einer Vielzahl anderer Ordensgemeinschaften.
Die Beiträge der vierten Sektion fragen nach den Möglichkeiten, Normen zu symbolisieren und – davon nicht zu trennen – nach den Symbolisierungsleistungen der Normen selbst (»Symbolism of Norms«). Jörg Sonntag (Dresden, SAW) untersucht in seinem Beitrag eben diese Symbolisierungen des Gehorsams im klösterlichen Ritual, das er dabei zugleich als normierende Ordnungsleistung identifizieren kann. Julia Burkhardt (Heidelberg, HAdW) richtet ihren Blick auf die ›Armut‹ als charakteristische Ausdrucksform dominikanischer Lebensführung und analysiert dabei deren Präsenz in zeitgenössischen Exempelsammlungen. Die Häuser der Franziskaner stehen im Fokus des Beitrags von Leonie Silberer (Heidelberg), die sich anhand baugeschichtlicher Befunde dem Niederschlag rechtlicher Normen und damit ganz konkret dem Verhältnis von Regel und Regelbefolgungspraxis widmet.3
Die Projektmitarbeiter hoffen, mit dem vorliegenden Band zu einer der Leitfragen des Projekts Klöster im Hochmittelalter den Facettenreichtum ihrer eigenen Forschungen ebenso aufgezeigt zu haben wie die Tragfähigkeit ihres analytischen Ansatzes.
Die Klöster der Franziskaner im Mittelalter. Räume, Nutzungen, Symbolik
Herausgegeben von Gert Melville, Leonie Silberer, Bernd Schmies (Vita regularis. Abhandlungen, Band 63), Lit-Verlag, Berlin 2015, 274 + X Seiten, 82 Abbildungen, Broschur.
Wissenschaftliche Forschung lebt vom Austausch. Dieser Umstand ist nicht nur prägend für das Selbstverständnis jeder Akademie, sondern in gleicher Weise für die Arbeit der in ihr beheimateten Projekte. Der anzuzeigende Band präsentiert die Ergebnisse einer solchen fächer- und institutionenübergreifenden Zusammenarbeit. Im November 2012 trafen sich in den Räumlichkeiten des Zentrums für europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg (ZEKG) Historiker, Kunsthistoriker, Bauforscher und Archäologen, um sich über Franziskanerklöster in Europa auszutauschen. Initiiert und durchgeführt wurde dieses Arbeitstreffen vom Projekt Klöster im Hochmittelalter. Europäische Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle der Sächsischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, dem schon genannten ZEKG, der Fachstelle Franziskanische Forschung (FFF, Münster) und der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG, Dresden).
Ziel war es, die mittelalterlichen Klöster dieses bedeutenden Ordens, der schon bald nach seinem Entstehen am Beginn des 13. Jahrhunderts Europa räumlich durchdrungen hatte, in möglichst breiter Perspektive zu untersuchen. Diese Absicht ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, dass zwar die Kirchen der Franziskaner als manifeste Zeugnisse mittelalterlicher Baukunst vergleichsweise gut erforscht sind, die eigentlichen Konventsgebäude aber nahezu unbekannt oder doch zumindest unerforscht geblieben sind. Dieser Umstand ist dabei keineswegs nur bedeutsam für jene Geschichtsforschung, die sich vorrangig Klöstern und Orden widmet. Jede Geschichte, die nach der geografischen wie auch der administrativen Durchdringung von Räumen fragt – seien sie überschaubar, wie der einer Stadt oder faktisch grenzenlos, wie jener der Christenheit – wird profitieren, wenn sie hierbei auch die Häuser der franziskanischen Gemeinschaften zur Kenntnis nimmt, die Räume nicht nur gegliedert, sondern überdies neue Räume erschlossen und konstituiert haben. Selbst der einzelne Konvent lässt sich besser erfassen und in seiner komplexen Funktionalität verstehen, wenn zum Teil lang tradierte Fehlbenennungen von Räumen vermieden werden.
Der Band widmet sich in Wiedergabe der Tagungsbeiträge neben solchen konkreten Forschungsfragen und -problemen auch den symbolischen Dimensionen des Raumes, den Grenzen zwischen Innen und Außen, den franziskanischen Vorstellungen vom idealen Kloster, den räumlichen Mustern von Einsamkeit und der Darstellbarkeit jenes den Orden prägenden Grundwertes der Armut. Die Franziskaner waren ein Bettelorden und konnten, schon weil sie auf die Zuwendungen der Menschen angewiesen waren, nicht in gleicher Weise der Welt entfliehen wie Einsiedler oder auch nur Benediktiner – dennoch blieb für sie die räumliche Trennung von der Welt ebenso zentral, wie in den Beiträgen herausgearbeitet wird. Als eine vom Papsttum bereits früh zum Predigtamt berufene Gemeinschaft standen die Franziskaner darüber hinaus in einem bis dahin für Mönche ungekannten engen Kontakt zur Welt und den Menschen. Ein solches Näheverhältnis bedurfte der Regelung, um die Sphären – Kloster und Welt – nicht ineinander aufgehen zu lassen. Zugleich ist es wohl vor allem dieser enge Kontakt zwischen den Brüdern des Ordens und den Menschen der Städte, wo die Franziskaner sich vor allem etablierten, der die Erforschung franziskanischer Klöster so nötig und vielversprechend macht, weil wir es hier im wahrsten Sinne mit Kontakträumen zu tun haben: mit Kontakträumen, die es der Welt ermöglichten, vom innovatorischen Potential der Brüder zu profitieren, und das Kloster – vice versa – an dem teilhaben ließen, was in der Welt an Neuem geschah.
- 1Vgl. hierzu Gert Melville, »Im Spannungsfeld von religiösem Eifer und methodischem Betrieb. Zur Innovationskraft der mittelalterlichen Klöster«, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Heft 7 (2011), S. 72–92, http://denkstroeme.de/heft-7/s_72-92_melville (30. 3. 2015).
- 2Vgl. hierzu vertiefend in Kürze die Projektveröffentlichung: Gert Melville und Jörg Sonntag (Hg.), Geist und Gestalt. Monastische Raumkonzepte als Ausdrucksformen religiöser Leitideen (Vita regularis. Abhandlungen), Berlin 2015 [im Druck].
- 3Vgl. hierzu vertiefend die Projektveröffentlichung: Gert Melville, Leonie Silberer und Bernd Schmies (Hg.), Die Klöster der Franziskaner im Mittelalter: Räume, Nutzungen, Symbolik (Vita regularis. Abhandlungen, Bd. 63), Berlin 2015. Der Bericht im Anschluss an diese Anzeige.