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Editorial


Das Thema ›Zeit‹ fasziniert uns nicht zuletzt deswegen, weil es eine Grundform unseres Daseins betrifft, die uns zu nahe ›vor den Augen liegt‹, als dass wir sie – 
so wie den Raum – ›sehend‹ erfahren könnten. In den theoretischen Naturwissenschaften tritt die Zeit darum durch eine metaphorische Brechung auf: als gerichtete Linie, die als solche eine räumliche Form ist, oder als Bereich ›reeller‹ Zahlen, mit denen man die Linie mathematisch als Punktmenge darstellt. Doch damit versteht man das Konkrete der Zeit noch lange nicht. Denn die Zeit ist kein äußeres Phänomen, sondern die allertiefste Grundform des Seins als Prozess und Vollzug. Sie kann uns daher nie rein gegenständlich werden. Das hat zur Folge, dass sogar die theoretische Physik Probleme hat, die immer implizit vorausgesetzte Zeitrichtung, den Zeitpfeil, angemessen zu deuten.


In jedem Fall ist das Thema Zeit hochkomplex, und zwar weil es alle Prozesse der Welt betrifft. Doch wie wir Zeit ›messen‹ und ›wahrnehmen‹, das hängt vom jeweiligen Kontext und Interesse ab. Sogar die räumliche Lage, in der sich jemand relativ zu der sich um ihn bewegenden Umwelt befindet, geht in die lokale Perspektive der Zeitmessung und damit in die Relationen der ­lokalen Uhrentakte zu den Uhrentakten anderer Taktgeber an anderen Orten auf anderen Bewegungsbahnen ein. Dabei ist am Ende jedes physische Ding aufgrund seiner inneren Prozesse ein solcher Taktgeber. Diese Relativität der Zeit, wie sie spätestens seit Leibniz bekannt ist, wird für die Physik wirklich dramatisch in den Lorentz-Transformationen der Relativitätstheorie, die endgültig zeigen, dass wir den Raum der Relativbewegungen der Dinge und die Zeit nicht mehr fein säuberlich voneinander trennen können.


Aber nicht nur in der Physik, auch sonst wandelt sich der Blick ›auf die Zeit‹ immer auch ›mit der Zeit‹. So kann man das Typische der Moderne darin ­sehen, dass jetzt das geflügelte Wort »Zeit ist Geld« wahr wird. Zeit wird zu einem Gut erhoben, das es optimal zu nutzen gilt und von dem wir wegen der potentiellen Unendlichkeit des Geldreichtums nie genug zu haben scheinen. Den Denkfehler unbegrenzten Zeitsparens und der unbeschränkten Jagd nach Reichtum angesichts der Endlichkeit des Lebens hat freilich schon die antike Philosophie erkannt.


Seit jeher versuchen Gelehrte die Grundform des Zeitlichen hervorzuheben und zu bedenken. Die begrenzte Lebenszeit einzelner Lebewesen erfordert aber eine andere Betrachtung der Zeit als z. B. Epochen, die eingeklammerten Zeiten einer bestimmten Seinsweise, etwa von Menschen, Lebewesen oder Dingen, auch der Erde oder des Sonnensystems. Daher fassen die Wissenschaften diverse Aspekte der ›Zeit‹ auf verschiedene Weisen in Worte oder in Formeln.


Einer der faszinierendsten Forschungszweige ist hier die noch recht junge Wissenschaft von den Zeitstrukturen, die jedem Organismus innewohnen, 
die Chronobiologie. Schon im 18. Jahrhundert erkannte der Geophysiker und Astronom Jean-Jacques d’Ortous de Mairan, dass die Bewegung von Pflanzenblättern eben nicht nur von äußeren Faktoren wie dem Tageslicht abhängig ist, sondern einem eigenen Rhythmus folgt. Doch es sollte fast 200 Jahre dauern, bis sich diese Erkenntnis wissenschaftlich durchzusetzen begann. Heute ist die Chronobiologie eine Wissenschaft von medizinisch, gesellschaftlich und ökonomisch hoher Relevanz. Denn wenn wir wissen, wie wir ›ticken‹, wissen wir, wie wir leben.


Auch die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig weiß sich der Chronobiologie verpflichtet: Von Anfang 2000 bis Ende 2014 förderte sie das Akademievorhaben »Zeitstrukturen endokriner Systeme«, das an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelt war und von Professor Dr. Elmar Peschke geleitet wurde. Im Fokus des Interesses stand die Frage, wie das blutzuckersenkende Hormon Insulin und das sogenannte Schlafhormon Melatonin sich wechselseitig beeinflussen. Die Ergebnisse zeigen, dass unsere veränderten Lebensverhältnisse mit Schichtarbeit, Schlafmangel und Dauerernährung unsere innere Uhr entscheidend stören, was wiederum das Risiko erhöht, an Diabetes mellitus zu erkranken. Da die Funktionszusammenhänge nun aber bekannt sind, eröffnen sich für die Therapie neue Möglichkeiten.


Seinen feierlichen Abschluss fand das Projekt nach 15-jähriger Laufzeit am 5. Mai 2015 – dem 70. Geburtstag Elmar Peschkes – mit dem Symposium »Die Zeit«. Dem Anlass entsprechend trug die Veranstaltung ganz bewusst interdisziplinären Charakter und hat den thematischen Bogen über alle Klassen der Akademie gespannt. In sieben Vorträgen präsentierten Theologen, Philosophen, Historiker, Physiker, Biologen und Mediziner ihre jeweils eigenen wissenschaftlichen Perspektiven auf das Phänomen Zeit. Diese Vorträge sind im vorliegenden Heft versammelt. Ihre Lektüre ist mitunter sehr anspruchsvoll, doch wer sich die Zeit nimmt und den Gedanken der Autoren Schritt für Schritt nachspürt, dem wird sich ein neuer ›Zeitkosmos‹ erschließen.


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der Wissenschaften

ISSN:
1867-7061

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