Direkt zum Inhalt | Direkt zur Navigation

Benutzerspezifische Werkzeuge
Anmelden
Bereiche

Was ist Zeit?


Zur philosophischen Geografie eines spekulativen Begriffs


1. Der Spruch des Anaximander


Der erste gesicherte Text der Philosophiegeschichte behandelt schon das Thema Zeit. Es ist der Spruch des Anaximander von Milet (um 610 bis 546 v. Chr.),­ der gemäß der Tradition noch mit dem fast mythischen Thales von Milet (um 625 bis 547 v. Chr.) zusammengearbeitet hat und praktisch das gesamte vorsokratische Denken besonders über Anaximenes von Milet (um 585 bis ­­
526 v. Chr.), Xenophanes von Kolophon (um 570 bis 470 v. Chr.) und Heraklit von Ephesos (um 520 bis 460 v. Chr.) beeinflusst hat. Der Spruch lautet in meiner Wiedergabe: »Aus was aber die Dinge entstehen, in das hinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß kausaler Notwendigkeit; denn sie schaffen einander den rechten Ausgleich (dike) und zahlen sozusagen Buße (tisis) dafür, dass sie aus einer harmonischen Balance ausbrechen, und das alles nach der Ordnung der Zeit.«1

Im griechischen Text steht, so würde ein Philologe sagen, nichts von ­einer kausalen Notwendigkeit. In der Tat findet sich da nur der Ausdruck ›kata to chreon‹, wörtlich etwa: ›nach dem, was so sein muss‹. Gerechtfertigt ist der vorgeschlagene Gebrauch des in der Moderne ubiquitären Begriffs des Kausalen durch die offenkundige Modernität des Programms des Anaximander. Es soll ja jede Intervention anthropomorpher Götter zugunsten ewiger Strukturen, Kräfte und Gesetze aufgehoben werden. Für jeden Ausbruch aus einer harmonischen Balance müssen die Dinge, wie Anaximander sagt, einen Ausgleich leisten. Scheinbar ›wörtlichere‹ Übersetzungen sprechen von einer Kompensation ›für ihre Ungerechtigkeit‹ (adikia). Das Wort ›dike‹ steht aber nur in einem Spezialsinn für das Recht. Im Allgemeinsinn meint es das Richtige, 
was sich besonders auch bei Heraklit, Parmenides aus Elea (um 520/515 bis 460/455 v. Chr.) und Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.) aufzeigen lässt.2 Entsprechend ist das Wort ›adikia‹ nur in ethischen Kontexten klar mit ›Unrecht‹ zu übersetzen, sonst aber verweist es auf jede Abweichung von einer Richtschnur oder Norm des Normalen. Daher halte ich meinen Übersetzungsvorschlag für sinngemäß präziser als die mir bekannten Alternativen.


Die Ordnung der Zeit und die kausale Ordnung sind in gewissem Sinn ein und dasselbe. Nur was zeitlich früher ist, kann kausal wirken. Und praktisch alles, was zeitlich früher ist, hat irgendeinen kausalen Einfluss auf das, was später geschieht. Das ist eine moderne Einsicht, die aber nicht weitab liegt von einer reinen Selbstverständlichkeit, einem ›Truismus‹ oder einer Plattitüde.


Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sich Ereignisse und Geschehensabläufe ebenso wie typische Bewegungen in ihrer Form wiederholen. Man denke etwa an den klaren Fall von Pendeln oder dann auch von Planeten. Das aus der Ruhelage gebrachte Pendel strebt zum Beispiel zur Ruhelage zurück. Und auch die ›Unordnung‹ in der bloß mechanischen und chemischen Natur, die durch das Leben entsteht, wird sozusagen mit der Rückkehr zum Ausgang, dem Tode, bestraft. Es liegt etwas erschreckend Schönes in dem Gedanken, der nicht nur als philosophische Anschauung, sondern auch als Rahmen für alle wissenschaftlichen Darstellungen und Erklärungen generischer Formen von Prozessen und Bewegungen wahrhaft groß ist.


2. Das Rätsel gibt es nicht


Was aber ist die Zeit? Die Frage ist schon so gestellt, dass sich jedem, der ihre Vorgeschichte kennt, der Gedanke des Aurelius Augustinus (354 bis 430) aufdrängt,3 nach dem wir, solange wir nicht danach gefragt werden, ganz genau zu wissen meinen, was Zeit sei; wenn wir aber dieses Wissen explizieren wollen, geraten wir in Probleme. Da der Gedanke alle Arten von Festvorträgen schmückt oder in der Absicht des Redners schmücken sollte, wird er offenbar für wahr, ja für unmittelbar einsichtig gehalten. Man mag sich daher vielleicht wundern, dass ich anderer Meinung bin. Was Zeit sei, so behaupte ich, wissen wir nur dann nicht, wenn wir nicht nachdenken. Wenn wir nachdenken, wissen wir es sehr wohl. Die Zeit ist nur dem ein Rätsel, der noch nicht weiß, dass derartige Rätsel nur dann entstehen, wenn man zwar über einen Begriff, hier den Begriff der Zeit, nachzudenken versucht, aber noch nicht gelernt hat, was das überhaupt heißt, und auch die Methoden noch nicht kennt, wie in solchen Fällen richtigerweise nachzudenken ist. D. h., derartige Rätsel entstehen, wenn und weil wir das Nachdenken, die Reflexion, Begriffsexplikation noch nicht begreifen.


Das Rätsel der Zeit stellt sich am Ende als Sonderfall einer ganzen Klasse von Rätseln dar, die, wie spätestens Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) bemerkt hat, allesamt Rätsel begrifflicher Reflexion sind, genauer unseres eigenen ›spekulativen‹, d. h. metastufigen, Redens über ›logische Geografien‹ (Gilbert Ryle, 1900 bis 1976). Deren Themen sind die Formen unseres objektstufigen Denkens, Redens, Urteilens, Wissens und Handelns. Dies gilt für das Rätsel des Raumes ebenso wie für das Rätsel der Seele, es gilt für die Frage: »Was ist Kausalität?« in ähnlicher Weise wie für die Frage »Was ist Freiheit?« oder Immanuel Kants (1724 bis 1804) alles umfassende Frage »Was ist der Mensch?«


Wie aber kann ich es wagen, die tiefsten Rätsel der Philosophie so gering zu schätzen und zu behaupten, sie resultierten selbst nur aus einem Mangel an Verständnis philosophischer Reflexion? Gerade zu unserer Frage, was Zeit sei, gibt es doch eine ehrwürdige Tradition des Philosophierens, in der sich die größten Denker zu Wort gemeldet – und einander widersprochen haben? Wie sollte ich diese Widersprüche auflösen können, noch dazu in einem kurzen Text? Nun, vielleicht geht es weniger darum, Rätsel endgültig aufzulösen, als eher darum, sie und ihr Zustandekommen zu verstehen. Man kann dann, wie Ludwig Wittgenstein (1889 bis 1951) treffend gesagt hat, das Philosophieren, d. h. das Nachdenken über die Begriffe, jederzeit abbrechen und die Erörterung neuer begrifflicher Fragen und Probleme anfangen. Die gesamte Tätigkeit des Philosophierens erhält dabei einen anderen, einen viel weniger existentiellen Stellenwert, als sie dies in der Tradition hatte, und zwar eben dadurch, dass alle Dogmatismen, welche eine angebliche objektive Wahrheit oder eine angeb­liche authentische Existenz von Unwahrem und Uneigentlichem ausgrenzen, als problematische Ansprüche entlarvt werden. Hierin besteht auch das berüchtigte »Ende der Philosophie« von dem bei und über Wittgenstein manchmal die Rede ist. Es handelt sich nicht um das Ende des philosophischen Nachdenkens, sondern um das Ende der Ansprüche einer metaphysisch-ideologischen Philosophie, auf sogenannte Welträtsel eine allgemeine Antwort geben zu können. Die Ablehnung dieses Anspruchs bedeutet nicht etwa, dass die Philosophie, nachdem sie sich endlich explizit als begriffsanalytische begreift und damit ein nachmetaphysisches Zeitalter propagiert, keine Antworten mehr geben könnte oder wollte, sondern dass es, wie Wittgenstein immer wieder betont, in der rechten Sicht der Dinge bestimmte Probleme nicht mehr gibt. Die Fragen werden nicht durch Thesen oder Hypothesen, Theorien oder Spekulationen, durch einen Glauben oder ein vermeintliches Wissen beantwortet, sondern als Fragen aufgelöst. D. h., sie werden als partiell falsch gestellt ausgewiesen. Eben dies gilt auch für unsere Frage »Was ist die Zeit«?


3. Eine kurze Geschichte der Zeit


Hier werde ich mich allerdings nicht in erster Linie mit der Schilderung der Methode einer solchen Auflösung beschäftigen, sondern etwas anderes tun. Ich werde mich der Geschichte der Fragen nach der Zeit und deren Einbettung in andere metaphysische und weltanschauliche Fragen zuwenden. Dabei erinnere ich als erstes an Platons Erklärung, dass die Zeiterfahrung als Erfahrung von Bewegung und Veränderung nur zur Welt der Phänomene, der Erscheinungen gehört. Dieser Welt der Erscheinungen, die immer auch eine Welt des äußeren Scheins sein kann und oft auch ist, stellt Platon eine wahre und unbewegte, unveränderliche und zeitlos wahre Welt, die Welt der Ideen und Formen, und, im Falle von Verläufen, eine Welt der ewigen Wiederkehr des Gleichen entgegen. Genauer: Platon entwirft das Konzept der Erklärung der Phänomene durch eine ewig wahre Strukturtheorie, ein Konzept, das gerade in der Wissenschaft geläufig ist, obwohl man auf seine Formen und Grundlagen allzu selten explizit reflektiert, sondern diese vielmehr nur praktisch anwendet. Für Platon ist dabei, wie er im Dialog Menon sagt, jedes theoretische Wissen eine Art der Wiedererinnerung, anamnesis. Diese scheint Erinnerung an eine längst schon vorhandene Wesensschau zu sein. Ich betone ausdrücklich, dass diese gängige Lesart von Platons Texten nur ein Schein ist. Denn Platon spricht in Wirklichkeit davon, dass wir die Phänomene, die wir theoretisch erklären, in gewissem Sinne schon kennen, ebenso wie die Bedingungen dessen, was eine gute Erklärung ist. Das jedenfalls schlage ich als angemessene Lesart seiner schwierigen Überlegungen vor. Alles Begreifen ist demnach ein Auffassen einer theoretischen Erkenntnis über sich reproduzierende Formen und steht daher in Analogie zu bekannten Fällen, in denen wir sagen: »Aha, jetzt sehe ich es, jetzt habe ich es, jetzt verstehe ich es«. Man denke an das Einsehen eines mathematischen Beweises, das am Ende darin besteht, ein geometrisches Konstruk­tionsverfahren wie die Verdoppelung der Fläche eines Quadrats ab jetzt immer reproduzieren zu können.


Als zweites erinnere ich an die ebenso berühmte Formel des Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Zeit sei das Maß, oder besser und genauer: die Zahl (arithmos) der Bewegung.4 Diese Formel ist schon bewusst wissenschaftstheoretisch und zugleich pragmatisch artikuliert. Sie steht im Rahmen des Protests des Aristoteles gegen die Abwertung der Realität einer Welt der Veränderungen zu einer bloßen Welt der Erscheinungen, wie er sie bei den pythagoreischen Mathematikern, bei Parmenides und den Eleaten und dann auch bei Platonikern vermutet. Dabei war diese Abwertung der Welt des Veränderlichen, des Zeitlichen, selbst schon Ein- oder Widerspruch gegen die noch ältere ›These‹ des Heraklit gewesen, nach der wir, wie eine oberflächliche Lektüretradition sagt, nie zweimal in denselben Fluss steigen können.


Heraklit ist subtiler als seine Leser. Denn er sagt: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht«.5 D. h., etwas bleibt gleich und etwas ändert sich, sowohl an uns selbst als auch am Fluss, im Laufe der Zeit. Und er fügt als Erläuterung hinzu, die in den Herausgaben der Fragmente leider falsch einsortiert ist: »Steigen wir hinein in die gleiche Ströme, fließt andres und andres Wasser herzu«.6 Dies ist offenbar in der Tat eine tiefe Einsicht zum Begriff der Zeit. Sie sagt nicht einfach, dass alles Reale im Fluss ist, sich ununterbrochen ändert und nichts wirklich gleich bleibt, sondern, dass es aus der Sicht des gegenwärtigen Daseins immer nur das Gegenwärtige ›gibt‹. D. h., es gibt die Dinge, Ereignisse und Prozesse ›für uns‹ nur dadurch, dass sie irgendwie ›herausstehen‹ im Sinne des lateinischen Wortes ›existere‹: Sie zeigen sich uns also in der ausgedehnten Gegenwart, in unserer Epoche des Daseins. Eine Epoche ist dabei eine eingeklammerte Zeit, ein offenes Zeitintervall. Was zuvor oder danach sein wird, ›gibt‹ es für uns nicht, es sei denn, als aktuale Erinnerung und aktuale Voraussicht, also als Rekonstruktion von Vergangenheit oder Konstruktion einer möglichen Zukunft.


Dabei hängt es nun aber von den betrachteten Entwicklungen ab, was epochal als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft anzusehen ist. Für die Entwicklung des modernen Menschen sind z. B. das antike Athen und Rom bei rechter Betrachtung nicht Vergangenheit, sondern noch Gegenwart, wie die Klassische Deutsche Philosophie und Literatur um 1800, von Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803) bis Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) und Hegel, ganz richtig erkannt hat. Für den Gegenstandsbereich der modernen Physik beginnt die Gegenwart vielleicht mit dem Großereignis, das den schönen Namen ›Urknall‹ trägt. Für die verschiedenen Seinsformen, Projekte und auch Moden des 20. und 21. Jahrhunderts gibt es dann natürlich viele verschiedenen Einklammerungen von Epochen, die je nur aus der Binnensicht Gegenwart waren oder noch sind, z. B. der gegenwärtig noch laufende Prozess des sozialkulturellen Untergangs der Bourgeoisie als Erbe des im langen 19. Jahrhundert schon untergegangenen Adels. Je nach Weltgegend sind inhaltlich bestimmte ›Zeiten‹ noch Zukunft oder schon Vergangenheit, wie z. B. die Entwicklung eines gewaltenteiligen republikanischen Rechtsstaates. Durch ihre Anerkennung als Voraussetzung jeder funktionstüchtigen Demokratie im vollen modernen Sinne einer demokratisch verfassten res publica sind sie auch gegenwärtig. Das erklärt die sonst etwas schwierige Rede von einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.


Die Einsicht Heraklits in die Begrenztheit allen realen Seins auf seine Epoche und die Relativität der Bestimmung von Gleichheiten und Verschiedenheiten wird dann in der Philosophie der Eleaten, bei Parmenides, besonders aber im Neuplatonismus, etwa bei Plotin (205 bis 270), partiell verdeckt durch die scheinbar radikale Gegeneinsicht, dass es in Wahrheit kein Entstehen gibt, da nichts aus nichts entstehen könne. In Wirklichkeit gebe es daher keine Veränderungen, am Ende nicht einmal Bewegung; die gebe es nur in der Erscheinung. Denn alles, was wirklich existiert, müsse als Substanz, als etwas Bleibendes in der Zeit existieren.


Aus diesem Gedanken entsteht das neue Rätsel der Zeit, wie Augustinus es noch sah: Alles, was es in der Welt gibt, gibt es in der Zeit, und zwar als zeit­übergreifend Bleibendes. Dass die Zeit selbst nicht in diesem Sinne existieren kann, leuchtet ein. Es müsste ja sonst die Zeit als etwas Bleibendes in der Zeit geben, was absurd klingt und paradox ist. In der Zeit gibt es primär immer nur die Gegenwart, deren Dauer von einem relevanten Prozessverlauf abhängt, auf dessen Ende zu warten ist, bevor die relevante Zukunft beginnt. In eben diesem Sinn ist jedes Jetzt immer schon ausgedehnt; und die Rede von einem Zeitpunkt als momentane oder gar plötzliche Trennung der Vergangenheit von der Zukunft ist eine idealistische Übertreibung und Metapher. In der Zeit gibt und gab es also immer nur, was in je eigens und näher bestimmbarer Weise zeitliche Dauer hat, also in gewissem Sinn gegenwärtig bleibt. Das Vergangene gibt es nicht mehr und das Zukünftige noch nicht.


Die Zeit selbst aber gibt es nicht, jedenfalls nicht als Gegenstand, so wenig wie den Raum oder die Welt. Es gibt Dinge in der Welt, im Raum. Es gibt Prozesse in der Zeit, so wie es einzelne Zahlen im Bereich der natürlichen Zahlen gibt, wie wir sagen. D. h., Titelwörter wie »die Zeit«, »der Raum« oder »die Welt« artikulieren spekulative Begriffe, wie sich Hegel ausdrückt, ohne dabei verstanden worden zu sein. Denn das sind hochstufige Reflexionsbegriffe.


Wenn wir dennoch auch sagen, dass es die Zeit gibt und den Raum, die Welt oder die Zahlen, dann sagen wir, wie Rudolf Carnap (1891 bis 1970) klar gesehen hat,7 dass es die Rede- und Unterscheidungsbereiche der zeitlichen und räum­lichen Ordnungen von Prozessen und Bewegungen als Rahmen oder frameworks für interne Existenzaussagen gibt. Zahlen zum Beispiel gibt es im Rahmen dernatürlichen Zahlen als abstrakte Gegenstände, die nicht zur Welt der wahrnehmbaren Erfahrungsdinge gehören, da dieser ein Rahmen für ganz andere Gegenstände ist. Wir unterscheiden ja abstrakte Gegenstände von erfahrbaren Dingen. Aber auch die ewigen Gesetze der Welt gehören nicht zur Welt der je bloß gegenwärtigen Erfahrungen im Sinne von Wahrnehmbarkeiten, sondern in einen anderen Rahmen, den des kausalen Erschließens von prognostischen Sätzen und damit in eine eigene Praxis der Erklärung von Erfahrung.


Platon verbindet, so scheint es, Heraklit in gewisser Weise mit Parmenides und erklärt, dass das, was sich ändert, die Phänomene, nicht das Wahre und Bleibende ist oder sein kann, das wir in den Wissenschaften als Gegenstände allgemeinen Wissens anzusehen haben. Diese sind nicht durch bloße Berichte über Einzelereignisse gegeben. Sie gehören damit auch nicht in den Bereich der historia oder empeiria im Sinn der bloßen Konstatierungen von präsentischen oder früheren Wahrnehmungen bzw. ›sinnlichen Erfahrungen‹.


Sogar schon im Fall von Körperdingen ist nur das, an dem sich äußere Eigenschaften ändern, etwas Bleibendes, Substanz, und das auch nur in der Zeitepoche seiner innerweltlichen Existenz. Die äußeren, wahrnehmbaren ­Eigenschaften, die sich ändern, mal präsent, mal nicht präsent sind, existieren nicht ›für sich‹. Sie sind bloß wechselnde Akzidenzen der relativ fest bleibenden Dinge.


Da aber auch diese Dinge entstehen und vergehen, so wie Lebewesen geboren werden und sterben, ist das eigentliche Bleibende immer bloß eine typische Form, die sich in vielen verschiedenen Manifestationen oder Repräsentationen zeigen mag. Das ist die Kerneinsicht von Platons Ideenlehre.


Wahrheit kommt immer nur Aussagen zu, die wenigstens zeitunabhängig verständlich sind. Wenn ich jetzt sage, es sei wahr, dass vor meinem Fenster ein Baum steht, sage ich, es sei wahr, dass vor dem Fenster, durch das ich am 6.12.2014 um 17 Uhr hinausschaue, ein Baum steht. Wahr ist also immer, was als bleibend wahr aufgefasst werden kann, und das sind die zeitunabhängigen Aussagen, zu denen auch diejenigen zählen, welche die Form haben: Zur so und so bestimmten Zeit hat oder hatte der Gegenstand g die Eigenschaft E. Da Aussagen, die über die Zukunft handeln, also etwas prognostizieren wie z. B. einen zukünftigen Seekrieg, ihrem Inhalt nach rein modal sind, also nur eine allgemeine Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit betreffen, erklärt Aristoteles mit vollem Recht, dass man die Prognose zukünftiger Einzelereignisse in aller Regel ›noch‹ nicht als ›wahr‹ oder ›falsch‹ im zeitallgemeinen Sinn ansehen darf. Empirische Wahrheit über Einzelnes ist immer a posteriori fixiert, ex post bestimmt, also erst nach dem Ereignis, was bekanntlich auch Kant klar einsieht. A priori wissen wir nur etwas über Allgemeinheiten, über Arttypen von Sachen und Ereignissen.


Aber nicht der sich ändernde Sinneseindruck ist etwas Wahres. Wahr ist vielmehr eine Aussage, welche das Zukommen einer allgemeinen Eigenschaft E zu einem Gegenstand g behauptet und dann in gewissem Maße in der Anschauung kontrollierbar ist. Dazu muss sich eine Benennung N auf relativ perspektiveninvariante Weise auf den Gegenstand g, die Substanz, beziehen, welche zur bestimmten Zeit die Eigenschaft E angeblich haben soll oder wirklich hat, zu einer anderen Zeit vielleicht nicht. So bezieht sich etwa der Name ›Eiffelturm‹ auf den Eiffelturm oder der Name ›Sokrates‹ auf Sokrates (469 bis 399 v. Chr.). Hier werden der Ding- und der Personenbegriff offenbar als erste Annäherung an den Substanzbegriff aufgefasst. Solche ›relativen‹ Substanzen gibt es in der Zeit. D. h., sie bleiben trotz äußerer Veränderungen eine Zeit lang ›mit sich identisch‹, wie wir auf höchst obskure Weise zu sagen pflegen. Es handelt sich um die Zeit ihrer Gegenwart, die Epoche ihrer Existenz.


Alles, was es nun im idealen Sinn als ewige Substanz gibt, ist so, dass ihm die Zeit, die Veränderlichkeit, wie man sagt, gar nichts anhaben kann. Das liegt am Ende daran, dass die Aussagen, in denen diese Substanznamen vorkommen, völlig zeitallgemein sind. Das aber heißt, dass wir uns hier nicht (›mehr‹) direkt auf die reale Welt des Zeitlichen beziehen, sondern auf zeitübergreifende begriffliche Formen. Empirische Bezugnahmen auf die wirkliche Welt sind durch solche allgemeinen Formen (eidē, genē) vermittelt. Das aber heißt, dass sogar schon die Wahrnehmung begrifflich und theoretisch durch die Formstrukturen des platonischen eidos vermittelt ist, das ja ›Begriff‹, ›Art‹, ›Form‹ bedeutet. Dass das so ist, hat Hegel klar herausarbeitet. Dabei stehen einer solchen generischen oder auch eidetischen Form, die wir als abstrakten bzw. allgemeinen Gegenstand in einer Theorie thematisieren, eine zugehörige Idee (idea) als Vollzugs- oder Seinsform gegenüber, die als solche nie voll zu vergegenständlichen ist.


Reale Dinge und Phänomene sind in der Zeit und ändern sich mit der Zeit. Sie sind im Unterschied zu den eidetischen Formen, Begriffen, Gattungen oder Bedeutungen selbst nicht substantiell existent. Gerade auch die Zeit selbst existiert nicht im Sinne einer Substanz. Sie ist vielmehr, wie man mit Hegel sagen könnte, Moment des Seins, und mit Martin Heidegger (1889 bis 1976) eben damit ein sogenanntes Existential.


4. Kräfte und Seelen


Überlegungen dieser Art, freilich ohne dass dies alles schon sprachanalytisch explizit gemacht wäre, bilden nun durchaus auch schon den Ausgangspunkt der Reflexionen des Augustinus. Erst die Sprachanalyse differenziert hier bewusst zwischen der abstrakten Eigenschaft als der (relativ) konstanten Bedeutung oder Gebrauchsform von Ausdrücken (über die wir metastufig wie über einen Gegenstand sprechen können), und dem, was jeweils konkret wahr­genommen wird, dem Phänomen.


Eine der Konsequenzen aus der begriffsanalytischen und zugleich spekulativen Unterscheidung zwischen Substanzen und Akzidenzen, zwischen Bestehendem und bloßen Phänomenen ist die, dass nicht der Leib, sondern die Seele, die Seinsform als Idee oder als ›EidosSubstanz ist. Sie ist das eigentlich Existierende, das, was mit sich bei allem äußeren Wechsel des Leibes über Zeiten hinweg gleich bleibt. Der Leib ändert sich nämlich in vielerlei Hinsicht: Er wird größer, wenn das Kind erwachsen wird, er wird alt und stirbt, er nimmt Stoffe auf und scheidet Stoffe aus, ja, wir wissen, was die Griechen zumindest ahnten, dass bei einem lebenden Wesen kein Hautteilchen, ja keine Zelle, in ihrer Materie über die Zeit hinweg identisch bleibt. Identisch bleibt nur die psychē, die Lebens- und Formkraft des Lebendigen. Die Seele wird so zur Kraft der Selbsterhaltung der Form des Lebens während des Lebens. Im Bereich des Körperlichen und Leiblichen ändert sich dagegen ›alles‹ ununterbrochen. Dabei ist dann auch zwischen der Seele des Einzelwesens, seiner einzelnen Lebensform, und der Art-Form der Gattung zu unterscheiden.


Im Falle des Menschen wird spätestens seit Aristoteles und seinem gran­diosen Buch Über die Seele / De Anima die Geistseele als Art-Form oder Idee des humanen Lebens, um deren Erhalt es uns geht, wenn wir von der Menschheit und einer humanitas sprechen, kategorial vom bloß pflanzlichen und tierischen Leben unterschieden, also von der vegetativen und der animalischen Seele. Die menschliche Seele ist eben nicht bloß Formkraft des animalischen Lebens, sondern die Kraft des Denkens, Vernunft, Bewusstsein und Selbst­bewusstsein. Die denkende menschliche Seele und nur diese, nicht der Leib und seine Sinne, hat, so sagt man seither, Zugang zum Reich der beständigen Bedeutungen, Begriffe, Ideen und der Wahrheit. Was auch immer sich an uns in oder mit der Zeit ändert: unser Leib und vielleicht auch unsere animalische psychē, unser emotionaler Charakter oder unsere Lebenskraft, wir bleiben uns, so scheint es, in einem immer gleich, nämlich in unserer ›Vernunftseele‹, in der Fähigkeit, zu denken. Das tun wir darin, dass wir ›ich‹ sagen können und konkreter etwa: »ich erinnere mich an mich damals« oder »ich denke gerade über x nach«. In aller Regel beziehen wir uns dabei nicht auf einen Teil unsers Leibes oder unseren Leib überhaupt, etwa als Gesamt seiner Materiepartikel, sondern auf uns als denkende Personen. Das war der – zunächst durchaus nachvollziehbare – Gedanke des René Descartes (1596 bis 1650) und seines ›cogito ergo sum res cogitans‹.


Ich verknüpfe hier offenbar einen Gedanken der Antike mit dem Gedanken des Descartes, dass wir unserer selbst als denkender Wesen, als res cogitans, gewisser sind als irgendeiner Wahrheit über die externe Welt der res extensa. Dieses mit sich identische personale Ich heißt traditionell (nicht erst seit Des­cartes, sondern seit Platon) ›menschliche Seele‹ und wird als zeitlose Substanz angesehen, die als solche durch die Veränderungen in der Zeit nicht in ihrer Substanzialität berührt ist. »Ich bleibe ich,« so denkt man, »auch wenn man mir z. B. den Finger, die Hand, den Arm abnähme oder ein fremdes Herz einsetzte.«


Man stellt sich schon im alten Indien und dann auch in Griechenland vor, dass man alle äußerlichen Eigenschaften, am Ende den gesamten Leib, austauschen könnte, ohne dass sich etwas an der Identität der Seele, des Inneren, änderte. Heute treten ähnliche Vorstellungen auf, wenn man an Avatare denkt. Mit diesem argumentativen Schachzug wird die Seele als ›unsterbliche Substanz‹ ausgegeben, und um diese Unsterblichkeit der Seele war es auch Descartes zu tun. Platon glaubt scheinbar und die Orphiker und andere Sekten im Hellenismus glauben wirklich an Seelenwanderung und Wiedergeburt. Es handelt sich dabei um die Übernahme ›orientalischer‹ Einflüsse. Dabei sind uns die gegenseitigen Einflüsse kaum noch präsent, weder die, welche von Ägypten, Mesopotamien oder Persien nach Westen und Osten ausstrahlen, noch die hellenistischen Einflüsse auf das spätere Denken in Indien, das sich von dort vielleicht auch auf China und Japan ausdehnt, z. B. durch Vermittlung skeptizistischer Logiker, zu denen auch der einflussreiche buddhistische Philosoph Nagarjuna (ca. 2. Jhd.) zählt.


Der Gedanke der Ewigkeit oder Unsterblichkeit der Seele, nicht aber der Seelenwanderung, wird im Zeitalter des Hellenismus von der jüdischen Gelehrtengruppe der Pharisäer übernommen, trotz des Protests der jüdischen Orthodoxie der Sadduzäer gegen diese philosophischen Neuerungen. Legitimiert werden die Neuerungen durch eine Praxis der kunstvollen theologischen Interpretation der tradierten Texte der Tora, wie sie als Lehre von einem mehrfachen Schriftsinn gerade auch vom Christentum übernommen, aber bekanntlich schon bei Philo von Alexandrien (15/10 v. bis 40 n. Chr.) vertreten wird. Diese Lehre ermöglicht zuallererst die breite Debatte um den wahren Sinn der tradierten Texte – an der offenbar auch Laienbewegungen wie die des Johannes des Täufers und Jesus und seine Anhänger teilnahmen, nicht nur Schriftgelehrte wie Paulus. Letzterer richtet sich insbesondere gegen den jüdischen Messianismus, indem er den hingerichteten Jesus zum schon gekommenen Messias erklärt. Gegen die leere Hoffnung auf eine Zukunft des Staates Israel ›los von Rom und Europa‹ setzt Paulus seine Idee der Selbstorganisation substaatlicher Gemeinden und einen entsprechenden ethischen Universalismus. Dabei wird die eschatologische Zeitstruktur des Messianismus allerdings in eine Erwartung einer Wiederkunft des Christus und einer Auferstehung des Leibes als Garant der Individualität der Seele nur transformiert, nicht ganz aufgehoben.8 Die innige Verbindung zwischen pythagoreisch-platonischen, besser: neuplatonischen, Lehren von der Seele und der Vorstellung von ihrer Ewigkeit oder Unsterblichkeit spiegelt sich auch in den späteren vier Evangelien wider.


Doch nicht die Seele ist hier unser Problem, sondern die Zeit, in der die Seele mit sich identische Substanz und daher ›unsterblich‹ sein soll, auch wenn sie ›von Gott‹ mit der Geburt bzw. der Zeugung gemäß christlicher Dogmatik ›erschaffen‹ wird. Hier führt die Frage nach einem möglichen Anfang und Ende der Zeit, wie man sagen möchte, fast unmittelbar zur These, die Zeit selbst sei unendlich, ohne Anfang und ohne Ende, und damit identisch mit der Ewigkeit. Die Seele hat also in der Theologie einen Anfang in der Zeit, aber kein Ende, während Gott immer war und immer sein wird und damit in gewissem Sinn die einzige wahre Substanz ist. Bei Baruch de Spinoza (1632 bis 1677) wird diese Substanz mit der Welt oder Natur im Ganzen identifiziert – was bekanntlich zum Pantheismusstreit der Goethe-Zeit führt.


Diese kurze Erzählung zum Verhältnis der Begriffe der Seele und der Zeit, der Sterblichkeit des Leibes und der Idee der Unsterblichkeit in Philosophie- und Theologiegeschichte zeigt uns nun erst Status und Bedeutung der Frage nach der Zeit für diejenigen Weltanschauungen, welche die europäische Tradition entwickelt hat. Die europäischen Welthaltungen sind bis heute durch sie charakterisiert. Das gilt auch dann noch, wenn der jüdisch-christliche Messianismus als überschwängliche Zukunftshoffnung säkularisiert oder verweltlicht wird in den Verheißungen einer glücklicheren Zukunft für später Geborene, wie er die sozialistischen Bewegungen weltweit kennzeichnet.


5. Zeit als Form innerer Anschauung


Jede Schilderung der Entwicklung der Antworten auf die Frage nach der Zeit in der traditionellen Philosophie und in den Wissenschaften führt uns früher oder später von Aristoteles und Augustinus zu Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716), zu Isaac Newton (1642 bis 1727) und schließlich zu Kant. Aus dessen Perspektive heben sich im Rückblick die Zeitbegriffe der Vorgänger und der Zusammenhang des Begriffs der Ewigkeit mit dem der Seele ohnehin klarer und deutlicher ab. Kant erklärt nämlich, in gewissem Sinn ähnlich wie die antike Tradition, dass die Zeit keine objektive Existenz habe, sondern nur Form der inneren Anschauung sei, so wie der Raum nicht etwa als ein Behälter mit unendlicher Ausdehnung aufzufassen sei, sondern als Form der äußeren Anschauung.


Was besagen diese zunächst doch kryptischen Formeln? Was soll eine innere Anschauung und was eine äußere Anschauung sein und was ist deren Form? Warum akzeptiert Kant nicht die Vorstellung, die Zeit sei einfach als gerichtete Zahlengerade vorzustellen, in der eine niederere Zeitzahl das Vorher im Vergleich zum Nachher einer höheren Zeitzahl und gleiche Zeitzahlen Gleichzeitigkeiten ortsunabhängig bestimmen? Dabei hat man sich die Zeitzahlen als Ergebnisse chronometrischer Messungen und damit als Maßzahlen von relativen Bewegungen zu denken, gerade so, wie dies die schon erwähnte Formel des Aristoteles allem Anschein nach meint. Aristoteles weiß nämlich, dass man in jedem Zeitvergleich eine Standardbewegung, möglichst eine zyk­lische, etwa die der Zeiger einer Uhr oder die Relativbewegung der Erde und der Sonne, als Vergleichsgegenstand und Zähleinheit gebraucht. Die Zeit ist dann einfach der abstrakte Titel für alle möglichen derartigen Zeitvergleiche.


Dass die Zeit ohne Anfang und ohne Ende sei, bedeutet dabei nicht viel mehr, als dass man sich zu jedem möglichen Augenblick oder zu jedem zyklischen Ablauf einen nächsten und einen vorhergehenden vorstellt, ähnlich wie man sich zu jeder ganzen Zahl (zu denen ja auch die negativen gehören) einen Vorgänger und einen Nachfolger vorstellt. Die Unendlichkeit der Zeit und die Unendlichkeit der Zahlen sind nun aber in der Tat, wie Kant gegen Newton betont, von ein und derselben Art: Es gibt sie beide nur potentiell, nur in einer gedachten Extrapolation faktischer Beobachtungen und faktischer Messungen. Faktisch messen wir immer nur Endliches; etwa nur endliche Zeiten. Unendliches gibt es nur, wenn wir über die allgemeine Form dieser Zahl- oder Maßpraxis sprechen.


In ebendieser Ablehnung einer aktualen Unendlichkeit der Zeit oder des Raumes liegt nun der Witz von Kants Formel und der Sinn seiner Kritik an Descartes und Newton, die zugleich Kritik an der theologischen Tradition der Annahme einer aktualen Unsterblichkeit oder einer aktualen unendlichen Dauer der Seele als Substanz ist. Was auch immer die üblichen Lesarten sagen, es gibt für einen mitdenkenden Leser überwältigende Evidenzen dafür, dass Kant einfach nicht an die reale Existenz Gottes oder der menschlichen Seele, und schon gar nicht an eine reale Ewigkeit geglaubt hat. Denn er wusste: Eine Unendlichkeit bzw. die Ewigkeit ist nichts als die Form der Extrapolation von nicht fest begrenztem Endlichen bzw. realen Dauern, sie entsteht als façon de parler über diese Form. Mit anderen Worten: Die Ewigkeit gibt es nur in der Vorstellung der Menschen. Die Zeit selbst ist nichts als die Form eines mög­lichen oder als möglich gedachten Zeitvergleichs.


Die äußeren Ausdehnungen sind also die räumlichen oder, wie wir dazu sagen, die des Raumes. Sie werden praktisch ausgemessen. Die räumlichen Formen werden in der synthetischen und analytischen Geometrie mathematisch idealisiert dargestellt. Der Raum ist für Kant geradezu die Form dieser Mess- und Darstellungspraxis räumlicher Verhältnisse – zu einer festen Zeit. Dabei wird erst einmal davon abstrahiert, dass die Messung selbst Zeit braucht. Der Raum wird als unendlich vorgestellt, nur weil wir uns zu jedem endlichen Raum einen größeren zumindest denken, genauer, ihn mathematisch darstellen können.


Denken wir uns nun irgendein Ding D als festen Bezugspunkt, von dem aus wir fiktiv die räumlichen Verhältnisse betrachten, so wie wir sie von unserem Leib L aus betrachten. Dann bewegt sich D bzw. L zwar relativ zu anderen Dingen oder Körpern, aber in Bezug auf D bzw. L bewegen sich nur die anderen Dinge. Diese Relativität von Ruhe und Bewegung war schon Galilei (1564 bis 1642) und Newton zumindest implizit, Leibniz explizit klar. Kant betont dies im Grunde nur etwas deutlicher: Die Bewegung und Veränderung, die der ­reale Beobachter von L oder der fiktive von D aus an anderen Dingen anschauen kann, wird für ihn selbst zur inneren Zeiterfahrung. Dabei kann ein Mensch unter Umständen den Ablauf seiner Empfindungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen als Zeitmaß benutzen, etwa wenn es sich um einen menschlichen Betrachter handelt. Ansonsten betrachtet man die Zustände einer Uhr unter Einschluss der Zeigerstellungen als ›innere‹ Zustände, welche einen nicht mehr rein subjektiven, sondern gemeinsamen Maßstab abgeben für einen Vergleich äußerer Bewegungen, der aber immer noch perspektivisch, d. h. von der Uhr abhängig bleibt.


Die Erklärung, die Zeit sei die Form des inneren Sinnes, ist nach dieser Lesart nicht wesentlich verschieden von der Formel des Aristoteles, die Zeit sei die Maßzahl der Bewegung. Es wird hier nur explizit auf das Subjekt des Messenden, seine Identität und lokale, perspektivische ›Ruhelage‹ bei allem äußerlichen Wechsel mitverwiesen. Dabei beachte man die strukturelle Analogie zur traditionellen Vorstellung von einer substantiellen Seele, in Bezug auf welche alles Äußerliche veränderlich ist. Auf diese Analogie hat besonders Leibniz in seiner Monadenlehre schon aufmerksam gemacht.


Wenn wir uns nun eine bei allem äußeren Wechsel von sich aus als ruhend und bleibend erfahrene Beobachterperspektive denken und sie an einem Ort situieren, dann sind diese Orte in der Perspektive von außen relativ bewegt. Daher ist jede vorgestellte Betrachterperspektive eine mögliche Bewegungs­linie eines Dinges, so wie sich unser Leib und damit unsere Perspektive eben auch als bewegt darstellt, je nach Wahl des äußeren Bezugspunkts. Die ›objektive‹ Raumordnung entsteht durch Perspektiventransformation. Es ist klar, dass diese Transformationen die Bewegungen und damit die Zeit mitberücksichtigen müssen.


6. Zeitmessung und moderne Naturwissenschaft


Gegen Kants Deutung der bei Newton begriffsanalytisch noch nicht weiter befragten Konzepte der Zeit und des Raumes treten nun im 20. Jahrhundert zwei ganz unterschiedliche Arten einer fundamentalen Kritik auf: die naturwissenschaftliche oder besser physiktheoretische Kritik Albert Einsteins (1879 bis 1955) und seiner Relativitätstheorie und die philosophische Kritik Heideggers.


Einstein hat in vermeintlicher Kritik gegen Kant dessen ›aristotelischen‹ Grundgedanken eigentlich nur radikalisiert. Der Anlass war freilich nicht eine abstrakte begriffsanalytische Reflexion, sondern ein konkretes Problem, in das ein ›naives‹, d. h. nicht weiter begrifflich und theoretisch reflektiertes, Verständnis der Zeit und Zeitzahlen gerät, wenn man die Theorien der klassischen Dynamik mit der Maxwellschen Elektrodynamik in Beziehung setzt und wenn man empirische Befunde wie die von Albert A. Michelson (1852 bis 1931) und Edward W. Morley (1838 bis 1923) theoretisch angemessen berücksichtigt. Diese Pro­bleme erzwingen eine erneute Beschäftigung mit der Frage, wie die Zeitmaßzahlen der Physik als Werte der in den Bewegungsgesetzen vorkommenden Zeit­variablen konkret zustande kommen und wie Datierungen von Ereignissen an anderen, fernen Orten faktisch zu verstehen sind. Über die Aussagen, welche die spezielle Relativitätstheorie über die Zeit fällt, wird man sich zum mindestens im Grundsatz dann nicht mehr wundern, wenn man das folgende weiß:


1. Die Lichtausbreitung ist faktisch die schnellstmögliche Bewegung und dann auch schnellstmögliche Wirkung. Sie wird mit gutem Grund als limitierender Grenzwert aller Geschwindigkeiten vorgeschlagen. Man kann zwar kontrafaktisch mit rein logisch-mathematischen Möglichkeiten einer simultanen actio in distans operieren; aber diesen rein mathematischen Bildern eines euklidischen dreidimensionalen Raumes und einer raumunabhängigen Zeit­geraden entspricht nichts in der Realität.


2. Die Frage, wie sich eine Datierung mit einer lokalen Uhr (die Eigenzeit) zur Datierung von einer Uhr an einem anderen, relativ bewegten Ort aus per Informationsübertragung verhält, ist keine rein definitorische Frage, sondern hängt von allgemeinen (›empirischen‹) Tatsachen ab. Die Theorie der speziellen Relativitätstheorie ist ein System von Transformationsregeln, welche das Verhältnis verschiedener möglicher Datierungen und Zeitmessungen zueinander bestimmen. Dass die Zeit relativ sei, bedeutet dabei, dass es bei der Zeitmessung nicht bloß auf die verwendete Uhr, sondern auch auf den Ort, also auf die relative Bewegung der Uhr zu anderen realen Dingbewegungen und zu anderen bewegten Uhren ankommt. Der Unterschied zur traditionellen Auffassung von der Zeit als linearer Ordnung ortsunabhängiger Zeitzahlen – bestimmt durch möglichst gute, d. h. orts- und bewegungsinvariante Uhren, die idea­liter bei jedem Zusammentreffen die gleichen Zeitzahlen liefern – besteht in der Problematisierung der in der Tat nicht trivialen Ortsinvarianz. Das Ergebnis ist: Es gibt keine idealen Uhren.


Dabei bleibt die Zeit durchaus eine Form des ›inneren‹ Sinnes, wenn man diesen Ausdruck Kants angemessen interpretiert: Jede Zeitmessung misst oder zählt ›innere‹, etwa zyklische, Bewegungsabläufe eines Geräts, einer Uhr oder eines lokalen dynamischen Systems, auch eines Organismus, und es werden in Bezug auf diese inneren Zustände und ihre Zählung (als Ausdruck einer Reihung) äußere Ereignisse und Bewegungen vergleichend datiert.


Dass hier die Informationsübertragung wichtig wird, sollte uns nicht allzu sehr wundern. Schon im Alltag sind Aussagen darüber, was an einem fernen Ort jetzt stattfindet oder schon stattgefunden hat, von uns nur in einer mög­lichen Zukunft selbst kontrollierbar, etwa indem wir hinfahren und die Folgen besichtigen oder uns von dem Ereignis berichten lassen, die jeweils lokalen Datierungen miteinander vergleichen und in eine – von möglicherweise mehreren – 
lineare Ordnung der Abfolgen bringen. Aussagen über Ereignisse, die ›jetzt‹ an fernen Orten stattfinden, sind daher als eine Art Prognose anzusehen für etwas, was wir in der Zukunft erfahren können. Und was wir jetzt erfahren, etwa die Lichtwahrnehmung eines fernen Sterns, ist ferne Folge einer Ursache, die in der Vergangenheit liegt und deren Datierung abhängig ist von der Wahl eines bestimmten Mess-Ortes und darum keineswegs absolut oder eindeutig.


Berühmt wurde diese Einsicht und mit ihr Einstein als erste Pop-Ikone der Wissenschaft nicht etwa nur dadurch, dass sie für die Physik, konkreter die Dynamik, also für das Verständnis ihrer Daten, Gleichungen und Gesetze bedeutsam ist, sondern dadurch, dass auf der Grundlage der Lorentz-Transformationen allerlei scheinbare Paradoxa auftreten, z. B. die berühmte Zeitdilatation. Sie besagt, dass ein relativ zu einem anderen erheblich schneller im Raum bewegter Körper langsamer ›altert‹, d. h., dass der äußere Bewegungszustand Einfluss hat auf die Geschwindigkeit der inneren Abläufe im bewegten Körper. Die Geschichten, die man aus dieser Tatsache spinnt, sind bekannt. Man stellt sich vor, dass einer auf eine sehr schnelle Reise geht, zurückkommt und noch in gutem Alter vielleicht seine eigenen Urururenkel antrifft. Dass es sich hier um eine faktisch unmögliche science fiction handelt, in der mathematische Aspekte eines allgemeinen Rahmens rein metaphorisch mit einer speziellen Vorstellung kommentiert werden, davon sieht man zugunsten des spannenden Märchens ab. Die Geschwindigkeiten der bewegten Festkörper relativ zum Sonnensystem und Sternen-All würden nämlich viel zu groß, sodass die Zerstörung des Lebens, ja schon größerer Festkörper, die unmittelbare Folge wäre. Anders gesagt, Beschleunigungen, welche in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit führen, verwandeln die Dinge schon längst und passen daher konkret nur für Elemente der Teilchenphysik. Richtig aber bleibt: Uhren als Zeittaktgeber liefern nur in sehr begrenzter Weise gute Zeitzahlen und Datierungen, und zwar in Abhängigkeit von ihrem relativen Bewegungszustand.


7. Sein und Zeit


Einen radikal neuen Blick auf die Zeit in ihrem Verhältnis zu unserem Dasein lehrt Heidegger – gegenüber den eleatisch-platonischen und aristotelischen Traditionen in den Wissenschaften und gegen neuplatonische Traditionen in den Theologien des Christentums, aber auch des Judentums und des Islams – 
indem er auf seine Weise Kant zu Ende denkt.9 Er betont, dass jeder ›objektive‹ oder ›kosmologische‹ Zeitbegriff abkünftig ist gegenüber der unmittelbar erlebten Zeitlichkeit unseres Daseins. Die Zeitlichkeit unseres Daseins zeigt sich, Heidegger zufolge, wesentlich darin, dass wir uns immer, wenn es uns um uns selbst geht, um unsere Zukunft sorgen. Ein Selbstverhältnis kann zwar auch darin bestehen, dass es uns um unsere Vergangenheit, um die Erinnerung an das geht, was wir gewesen sind und was wir getan haben. Ein Interesse an irgend­einem Wissen und an irgendeinem Ding, gerade auch an uns selbst und unserer Selbsterhaltung, haben wir aber immer nur, wenn wir eine mögliche Zukunft entwerfen. Jede Zukunft ist modal, bloß eine Möglichkeit. Das gilt wesentlich auch für unsere eigene Zukunft. Der Entwurf bestimmt, wer wir sein können. Er bestimmt damit auch mit, wer wir sein werden.


Aus dieser Struktur der Sorge um ein gutes Weiterleben rührt nach Heidegger die Angst oder Beengung, die wir spüren mögen, wenn wir an die Endlichkeit dieser Sorge und dieses Daseins denken und diese Tatsache der Endlichkeit, die Tatsache unseres Todes, als eine wesentliche Grenze jeden Selbstbezugs akzeptieren müssen. Die Sorge des Daseins um das zukünftige Dasein geht dabei, wie schon erwähnt, in vielerlei Hinsicht auch über den Tod hinaus, etwa wenn es uns darum geht, wie wir von unseren Kindern und von zukünftigen Generationen gesehen werden. Immer aber bleibt dieser Horizont begrenzt, eine Art ausgedehnte, aber endliche Gegenwart.


Nach Heidegger ist Zeit also unmittelbar bestimmt durch den Unterschied der Präsenz des Daseins oder menschlichen Lebens, seine Gerichtetheit oder Intention auf Zukünftiges und seine Erinnerung an Vergangenes, nicht durch die Maßzahlen für intersubjektive Datierungen etwa zu technischen, auch prog­nostischen Zwecken, oder durch das Ordnen und Zählen innerer Ereignisfolgen.


Heidegger betont darüber hinaus noch emphatischer als Kant oder Hegel, dass ein recht begriffenes und authentisch ergriffenes Leben die Tatsache zu akzeptieren hat, dass wir nicht unsterblich sind, und dass es eine Seele nur als façon de parler, als Redeweise über unser menschliches Dasein gibt. Im Existentialismus französischer Prägung wurde dieses Akzeptieren der Endlichkeit, ähnlich wie schon bei Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900), zu einer Art heroischer Tat stilisiert, was Heidegger freilich so kaum intendiert hat. Ihm geht es eher um die Einsicht, dass alles objektive Wissen der Wissenschaften, wie auch der objektive Begriff einer gemessenen und datierten Zeit, sekundär ist gegenüber ursprünglicheren und in den Wissenschaften immer schon vorausgesetzten Lebenserfahrungen. Die Wissenschaft von der Natur wird in den meisten ihrer Teile als Technikwissenschaft entlarvt, als Mittelwissen für alle mög­lichen Besorgungen, das trotz oder gerade wegen der behaupteten Objektivität seine eigenen Sinnbestimmungen und Voraussetzungen leicht übersieht. Dem verdeckten Anthropozentrismus der Darstellungsformen der Naturwissenschaft korrespondiert eine selbstvergessene, verdinglichende Beschreibung von uns selbst als Gegenstände einer bloßen Beobachtung von außen – etwa im Behaviorismus, in dem mit dem Betrachter gerade die Mittel-Zweck-Beziehungen dieser Darstellungen und der vorgängigere Bezug des Seins jedes Dings und der Wahrheit jeder Aussage zum vorausgesetzten Dasein ausgeblendet werden. Das Dasein ersetzt hier ganz offenkundig die (humane) Lebenswelt, das als Thema von Edmund Husserls (1859 bis 1938) Phänomenologie anzusehen ist. In appellativer Erinnerung an Existentialien wie die Zeitlichkeit der Sorge oder des Gewissens werden Grundstrukturen titelartig explizit gemacht.


Für die kosmologische Frage nach der Zeit ergibt sich aus Husserls und Heideggers Analysen die Einsicht, dass alle Modelle, die wir vom Entstehen der Welt entwerfen und in denen wir von einem Anfang oder einem Ende der Zeit reden, von uns entworfene mathematische Vorstellungen sind. Die Zeit tritt als ein Teilaspekt der Struktur realer raumzeitlicher Messungen und idea­ler Messbarkeiten auf. Der Wahrheitsanspruch eines solchen Modells, das in der modernen Physik mit einem Anfang etwa nach Art des Urknalls und mit einem Ende des Wärmetodes der Entropie gedacht ist, reduziert sich am Ende darauf, dass wir die Bilder in den Bereich unserer technisch (experimentell) und empirisch (in Beobachtungen) bewährten Theorien und damit in unsere guten Erfahrungen mit diesen Theorien einbetten.


Am Entwurf dieser Bilder ist per se nichts Falsches. Wir machen uns ja zu allerlei Zwecken allerlei Bilder. Falsch ist nur, sie objektiv und/oder existentiell zu missdeuten, wie dies z. B. bei philosophierenden Wissenschaftlern wie ­Roger ­Penrose (geb. 1931) oder Stephen Hawkings (geb. 1942) geschieht. Dass die Erde weder ewig bestand noch ewig bestehen wird, sollte als Truismus gelten und unser Selbstverhältnis und unsere Lebenshaltung nicht mehr beeindrucken. Es ist ebenso selbstverständlich wie das Wissen um unsere Sterblichkeit, das uns ebenfalls weniger beeindrucken sollte, als es dies zumeist tut. Es geht nämlich nicht darum, den Tod zu vermeiden, sondern das Leben gut zu führen.


Indem mit diversen Kosmologien allerlei pseudoethische und pseudo­religiöse Emphasen verbunden sind, zu denen die wichtigsten der Sinn-Nihilismus und der Sozialdarwinismus samt dem zugehörigen Rassismus zählen, sind diese neuzeitlichen und modernen Theorien nicht weniger metaphysisch und unwissenschaftlich als irgendwelche anderen kosmologischen Modellbilder der Menschheitsgeschichte. Das Problem ist, dass diese spekulativen Rekonstruk­tionen mit einem in Form und Status unverstandenen ›objektiven‹ Wahrheitsanspruch auftreten und sich nicht als moderne Mythen begreifen, deren Funktion die Anpassung eines Weltbildes an allgemeine Erfahrungen, nicht die ›Deskription‹ einer erfahrungswissenschaftlich erforschten ›objektiven Wahrheit‹ an sich ist. Hier wird die Naturwissenschaft und ihr Begriff von Zeit und Raum möglicherweise zur Ideologie, ähnlich wie z. B. der Materialismus oder Physikalismus eine Welthaltung und nicht etwa eine wahre oder falsche ›Theorie‹ ist, gerade dort, wo das Wissen vom Menschen in den schon von der Sache her ideologiekritischen Geisteswissenschaften und der Philosophie nicht mehr als ›wissenschaftlich‹ verstanden wird. Wenn man dann nicht einmal mehr über die Wissenschaft, ihre Kriterien der Geltung, d. h. über die praktische ­Bedeutung und Bedeutsamkeit ihrer Wahrheitsansprüche, selbst nachdenkt, was nur im Denkmodus von Philosophie und Geisteswissenschaften geschehen kann, verrät man sogar noch das humane Projekt der Wissenschaft selbst.


8. Zeit und Sein


Gegen jede Tradition des Messianismus, jede Ewigkeit und jede unsterbliche Seele, mit der ein heroisches Leben rein auf die Zukunft hin ausgerichtet wird, hat sich der spätere Heidegger in einer radikalen Kehre wieder Heraklit zugewandt. Es geht ihm dabei um die Bedeutung der Gegenwart und damit um die Bedeutsamkeit der gelassenen Anerkennung aller Endlichkeiten und nur begrenzten Machbarkeiten gegen ein überschwängliches Wollen und Sollen. Das richtet sich auch gegen eine übersteigerte Verantwortlichkeit für eine vage Zukunft, sozusagen unter anderem gegen seinen Schüler Hans Jonas (1903 bis 1993) und partiell auch gegen die Konzeption einer vita activa seiner früheren Geliebten Hannah Arendt (1906 bis 1975), vor dem Hintergrund der Gedanken Nietzsches zum Vorrecht der Gegenwart angesichts einer unüberschaubaren Veränderlichkeit der Welt. An die Stelle hypostasierter ethischer Werte tritt eine Bestimmung dessen, was ein gutes humanes Leben aus der Binnenperspektive gegenwärtigen Vollzugs ist. Die Bedeutsamkeit dieser unaufhebbaren Perspektivität wird verkannt, wenn man Heidegger mit Jacques Derrida (1930 bis 2004) ›Präsentismus‹ vorwirft, mit Walter Benjamin (1892 bis 1940) selbst weiter messianisch denkt oder mit Emanuel Levinas (1906 bis 1995) Martin Bubers (1878 bis 1965) Dialogphilosophie utopisch überhöht. Es geht Heidegger weniger um ein gutes Ich-Du-Verhältnis als um die Einsicht, dass jedes Wissen einer Wahrheit in der Offenheit der erscheinenden Gegenwart verbleibt. Am Ende gilt das auch für jede kleine sinnvolle Sorge – wenn man nur in der Lage ist, die relevante Gegenwart ihres Inhalts zu bestimmen, der dann allerdings zeitlich weiter reicht als das eigene beschränkte Leben und weit mehr Menschen umfasst als bloß den Einzelnen, seine Verwandten und vielleicht noch ›sein Volk‹.


Der Appell an das Hier und Jetzt als Ort des wahren Lebens richtet sich mit Nietzsche auch gegen blinde Vergötterungen von Techniken, die immer nur Mittel, nie aber für sich selbst Erfüllungen schaffen. Zu diesem Ergebnis kommt Heidegger erst in späteren Neujustierungen seiner Analysen des Verhältnisses von Sein und Zeit, die ihn zunächst auf einen »Holzweg« und nicht in die »Lichtung des Seins« geführt hatte – um hier seine eigenen Worte zu gebrauchen. Seine ›Kehre‹ ist daher nicht etwa als Umwendung oder gar Bekehrung zu deuten, auch wenn sich die Betrachtungsweise aus Sein und Zeit partiell umdreht. Zunächst hatte er den der Strukturaspekt der Sorge um die Zukunft im Dasein, d. h. im Leben der Menschen, für ursprünglicher erklärt als den Begriff der intersubjektiven und objektiven Zeit in ihrer Gerichtetheit von einer unveränderbaren Vergangenheit über die gegebene Gegenwart in eine partiell offene Zukunft. Jetzt wird das Sein oder Dasein der Menschen seinerseits eingebettet in ein ›Seinsgeschehen‹, d. h. in die Geschichtlichkeit der Bedingungen menschlichen Lebens, gerade auch der zugehörigen Institutionen wie Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und Politik. Und es werden die üblichen Bilder von dieser Geschichte als konventionalisierte Erzählungen destruiert.


Es geht dabei natürlich um die Menschenzeit, nicht um die individuelle Lebenszeit des Einzelnen, um die Menschenpraxis und nicht bloß um eine Vernunft, um die Seinsgeschichte und nicht nur um die je eigene Geschichte. Es geht um die allgemeine Entwicklung geistigen Lebens, in welche das einzelne Dasein geworfen ist und in dem die Einzelperson zu dem wird, was sie ist. Und es geht um eine Hoffnung auf ein freies Leben. 


Die Zeit als Natur- und Kulturgeschichte wird dabei sozusagen zum Medium des Daseins. Die Teilnahme an einem allgemeinen Geist macht uns zu Personen, zu vernünftigen Wesen oder unvernünftigen – je nachdem, wie wir diese Möglichkeiten ergreifen, die uns die Zeit, unsere Epoche, anbieten.


Heidegger kehrt hiermit, bildlich gesprochen, zurück zu einem neuen und zugleich alten Gott, zu Chronos, und damit zum Anfang der Philosophie in Heraklits Kontrastierung des empirischen Werdens und dem stehenden Logos. Eben damit aber kehrt er auch zurück zum Programm des Deutschen Idealismus, zunächst zu Hölderlin, um dann die gleichen Feldwege abzugehen wie Hegel, wobei sein Gang freilich auf eine ganz eigene, nicht logische, sondern ästhetisch-appellative Weise vorgestellt wird. Wie dies im Einzelnen aussieht, das vorzuführen reicht mir und uns heute freilich ›die Zeit‹ nicht hin, die wir uns eilig ›sparen‹, um schneller ans Ende zu kommen.


  1. 1Vgl. dazu z. B. neben den zahlreichen Ausgaben von Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Hermann Diels und Walther Kranz, den zugänglichen Text von Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malcolm Schofield, Die Vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Stuttgart 2001, S. 128, aber auch den wichtigen Aufsatz von Martin Heidegger, »Der Spruch des Anaximander«, in ders., Holzwege, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 321–374.
  2. 2Vgl. z. B. Heraklit, Fragmente, hg. von Bruno Snell, 11. Aufl., Zürich 1995, B 23 und B 28.
  3. 3»Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, daß es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beide Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?« Aurelius Augustinus, Bischof von Hippo, Kirchenvater und Heiliger, Confessiones, XI, 14, dt. Ausgabe: Bekenntnisse, übersetzt von Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1955.
  4. 4»Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen«, Aristoteles, Physik IV 12, 220b, 14–16.
  5. 5Heraklit, Fragmente (Fn. 2), B 49a.
  6. 6Ebd., B 12.
  7. 7Rudolf Carnap, Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic, 2. Aufl., Chicago 1947, Supplement A: Empiricism, Semantics, an Ontology, S. 206 ff.
  8. 8Es sollte uns nicht wundern, dass die Lehre des Jesus von beiden jüdischen theologischen Lagern verfolgt wird und die des Paulus sogar auf Widerstand bei den Jerusalemer Judenchristen um Jakobus und Petrus stößt. Die Idee der individuellen Seele und einer ›Kirche‹ war durchaus ›moderner‹ als die pharisäische Tradition. Sie wird sozusagen als integrierte ›christliche‹ Theologie auf jüdisch-hellenistischer Grundlage von anderen Kirchenlehrern, unter ihnen dem für den Westen des Reiches besonders bedeutsamen Augustinus, weiter ausgebaut. Der oft zu Unrecht beklagte ›ewige Streit‹ um die ›wahre Lehre‹ ist dabei von Anfang an Teil der Bewegung selbst.
  9. 9Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], 16. Aufl., Tübingen 1987.
loading ....
Footer - Zusätzliche Informationen

Logo der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Sächsische Akademie
der Wissenschaften

ISSN:
1867-7061

Alle Artikel sind lizensiert unter:
Creative Commons BY-NC-ND

Gültiges CSS 2.1
Gültiges XHTML 1.1