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Ein jegliches hat seine Zeit …


Vortrag zum Interdisziplinären Festkolloquium 
anlässlich des 70. Geburtstages von Elmar Peschke


Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.

Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist,


würgen und heilen, brechen und bauen,

weinen und lachen, klagen und tanzen,


Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen,


suchen und verlieren, behalten und wegwerfen,


zerreißen und zunähen, schweigen und reden,


lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.


(Prediger 3,1–8)1

Diese Worte aus dem Buch der »Prediger Salomo« gehören zu den bekanntesten, weil bei unterschiedlichen Anlässen oft zitierten Texten des Alten Testaments.


Sie, lieber Herr Peschke, haben sich für den heutigen Tag eine kleine Meditation – mehr kann es hier nicht sein – über die uralte Weisheit »Alles hat seine Zeit« gewünscht. Warum spricht dieser Text unabhängig von der jeweiligen weltanschaulichen Überzeugung seit Jahrtausenden so viele Menschen an? Ich vermute, weil hier die allgemein menschlichen Erfahrungen vom Zeitmaß aller Dinge des Lebens in 14 Gegensatzpaaren anschaulich und poetisch eindrucksvoll – nicht zuletzt in der Übersetzung Martin Luthers – geschildert werden. Jeder kann und wird sich angesprochen fühlen und das nicht allein intellektuell, verstandesmäßig, sondern ebenso, wenn nicht noch mehr, gefühlsmäßig.


Alle Dinge haben ihr Zeitmaß. »Mit all seinem Tun und Leben ist der Mensch – handelnd und leidend – ganz und gar in die ›Zeit‹ hineingebannt. Er fährt gleichsam in einem Eisenbahnzug, aus dem er während der ganzen Lebensstrecke nicht aussteigen kann.«2 Das soll uns, betont ein Exeget dieses Textes, zum Nachdenken über die Zeit veranlassen, über die unlösbare Verwobenheit des menschlichen Lebens in die Zeit. Auch hat man die Zeit als den Pulsschlag der Schöpfung bezeichnet. Der Mensch sieht sich in eine Welt von Raum und Zeit mit rätselhaften Hintergründen gestellt.


Elementare Fragen brechen dabei auf. Eine lautet: Was ist die Zeit? Sie ist wohl ebenso schwer zu beantworten wie die Frage: Was ist das Leben? Dabei gehört die Zeit wie der Raum zu den primären Kategorien menschlichen Wahrnehmens. Sie erscheint »als eine von Menschen nicht beeinflussbare und umfassende Eigenschaft der Welt, die alles der Verzeitlichung unterwirft«.3

Die Zeit ist – wen wird das wundern – ein wichtiges Thema der Theologie und der Philosophie, seit es beide gibt. Dabei tritt immer auch das Gegenteil von Zeit – die Ewigkeit – in den Blick. Der in der Zeitlichkeit verhaftete Mensch sehnt sich nach Ewigkeit. Aber was ist Ewigkeit? Wie bei der Zeit sind auch hier die Definitionen vielfältig und unterschiedlich, ja können ratlos machen. Zeit zählt zwar zu den Grund- und Basisgrößen der Physik, steht letztlich aber in einem weltanschaulichen Deutungshorizont. Ewigkeit als ergänzender Gegensatz zur Zeit spielt in fast allen Religionen bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen eine wichtige Rolle und ist Gegenstand tiefsinniger Überlegungen. Im Christentum gehört Ewigkeit zu den wesenhaften Eigenschaften Gottes. Gott ist der Ewige, der Raum und Zeit hervorgerufen hat und Raum und Zeit wieder in die Ewigkeit führen wird. Gelegentlich hat man die materielle, an Raum und Zeit gebundene Welt als ein Stück Eis im Meer der Ewigkeit beschrieben, ein Stück Eis, das schließlich wieder zu Wasser werden wird, also die Zeit wieder in die Ewigkeit eingeht.


Der bekannte Laientheologe und Görlitzer Schuhmachermeister Jakob Böhme (1575 bis 1624), von dem Hegel sagt, er sei »der erste deutsche Philosoph«, pflegte Freunden ins Stammbuch zu schreiben:


Wem Zeit ist wie Ewigkeit

und Ewigkeit wie Zeit,


der ist befreit


von allem Streit.4

Die religiöse Sicht, dass die Ewigkeit vor und hinter der Zeit steht, will aber die Bedeutung der Zeit nicht entwerten. Zeit als Grundbedingtheit der Schöpfung gehört unlösbar zum Leben, »alles hat seine Zeit«. Dass wir als Menschen jenseits objektiver Zeitmessungen die Zeit unterschiedlich wahrnehmen, ist Teil unserer täglichen Erfahrungen. Im Alter scheint sich die Zeit zu verkürzen, andererseits können Stunden, ja Minuten der seelischen und körperlichen Qual endlos erscheinen, als eine Ewigkeit.


Otto Kaiser betont: »[…] als Phänomen, als Erscheinung ist uns die Zeit nur im Jetzt aus dem rätselhaften Augenblick gegeben, in dem die Zukunft ­Gegenwart wird und die Gegenwart in der Vergangenheit versinkt.«5

Friedrich Schiller (1759 bis 1805) hat das poetisch so ausgedrückt:


Dreifach ist der Schritt der Zeit:

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

pfeilschnell ist das Jetzt verflogen,

ewig still steht die Vergangenheit.


Es ist in unserem Zusammenhang interessant, welche unterschiedlichen Begriffe die griechische Sprache für Zeiterfahrungen verwendet. Da ist das Wort aion. Es kann damit, so auch beispielsweise im Neuen Testament, die ›Vorzeit‹ oder ›Urzeit‹ gemeint sein. Mit Blick auf die Zukunft gewinnt dann das Wort gerade aus der Zeiterfahrung heraus eine die Zeit transzendierende Bedeutung im Sinne von Ewigkeit, die zum Wesen des Göttlichen bzw. Gottes gehört.


Die formale Zeitauffassung mit Jahren, Tagen, Stunden und Minuten wird durch das Wort chronos charakterisiert. Wir kennen die Chronologie als die Wissenschaft von der Zeiteinteilung, der Zeitfolge oder Zeitrechnung.


Durch kairos wird die Zeit inhaltlich qualifiziert. Es geht um die Bezeichnung für die richtige Gelegenheit, den rechten Augenblick. So bedurfte die für unmöglich gehaltene deutsche Wiedervereinigung des rechten kairos.


Aber wie auch immer definiert: Zeit gehört auf Erden zum Leben, zu seiner Deutung und praktischen Bewältigung und dabei »hat alles seine Zeit«. Für den Verfasser unseres Textes ist Gott der Herr der Zeit. Es ist Gott, betont er, der das Tun des Menschen begrenzt und dessen Erfolg.


Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.


Ich sah die Mühe, die Gott den Menschen gegeben hat, daß sie darin geplagt werden.


Er aber tut alles fein zu seiner Zeit und lässt ihr Herz sich ängsten, wie es gehen solle in der Welt; denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

(Prediger 3,9–11)


Helmut Lamparter bemerkt dazu:


Der Bemühung des Menschen ist eine Grenze, ein Maß und Ziel gesetzt, das er nicht überschreitet. Er kann sich noch so sehr abarbeiten – er erreicht mit alledem doch nicht mehr, als ihm zugemessen ist (V. 9). Der Erfolg seiner Mühe und Plage steht ganz und gar in Gottes Hand, welche dem Bauen und Brechen, dem Pflanzen und Ausreißen, dem Sammeln und Wegwerfen jeweils ihre Stunde bestimmt. Gottes Hand bewegt den Zeiger an der Uhr und kein Mensch hat die Macht, ihn umzustellen. Und zwar tut Gott ›alles fein zu seiner Zeit‹ (V. 11) – daran ist kein Zweifel!6

Doch diese Erkenntnis des Predigers Salomo führt nicht in Fatalismus oder Nihilismus. Der Glaube, dass Gott nicht sinnlos – wenn auch oft unerforschlich – 
handelt, ermutigt ihn, die Zeit zu nutzen und das Leben zu bejahen. Denn, so heißt es in unserem Text weiter:


Denn ein jeglicher Mensch, der da ißt und trinkt und hat guten Mut in aller seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes.


(Prediger 3,13)


Die Zeit als Gabe Gottes anzusehen und recht zu nutzen, ist eine Aufforderung, die im Alten wie im Neuen Testament immer wieder begegnet. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts haben dann, ich nenne es einmal so, geradezu eine Ethik der Zeit und – mit ihr verbunden – eine besondere Arbeitsethik entwickelt. In der größten evangelischen Erneuerungsbewegung nach der Reformation, dem Pietismus, spielt der Umgang mit der Zeit eine herausgehobene Rolle, die wesentlich die sogenannten preußischen Tugenden mitbe
stimmt hat.


Ich erwähne das besonders, weil Erhard Peschke, der Vater unseres Jubilars, einen Großteil seines wissenschaftlichen Lebenswerkes der Erforschung der theologischen Gedankenwelt August Hermann Franckes (1663 bis 1727) und des Halleschen Pietismus gewidmet hat. Aus der Sicht Franckes ist eine strenge, verantwortliche Zeitökonomie, zu der auch Pünktlichkeit zählt, für einen echten Christen unverzichtbar, ja gehört zu seinen Kennzeichen. »Der Müßiggang ist ›ein Polster oder Küssen des Satans‹«, sagt Francke.7

Am 4. Januar 1713 hielt er eine sehr bekannt gewordene, oft gedruckte Predigt: Der rechte Gebrauch der Zeit/ so fern dieselbe gut/ und so fern sie böse ist.8 Darin macht Francke es den Christen zur Pflicht, dass 


sie immer etwas gutes aus der Zeit als aus einem schnell vorbey lauffenden Strom heraus reissen/ so ihnen mit in die Ewigkeit folge/ […]; denn so rauschen unsere Tage dahin wie ein Strom/ und ein Jahr gehet nach dem andern hin/ ehe wirs uns versehen. Nehmen wir nun der Zeit nicht wohl wahr/ und achtens nicht/ daß ietzt eine Stunde/ und denn wieder eine unnütz verlaufft/ so leiden wir immer Schaden/ und zwar solchen/ den wir nicht wieder ersetzen können.9

Die Gelassenheit im Umgang mit der Zeit, wie wir sie beim Prediger Salomo im Buch der Weisheit finden, kennt Francke nur sehr bedingt. Er rechnet mit jeder Stunde, warnt dabei aber mit Bezugnahme auf eine Stelle der Sprüche Salomos (V. 20,21) vor Hektik, »weil das allzu hitzige treiben und eilen in allen Dingen mehr Hinderung als Förderung giebet«.10

Auch Francke wusste:


Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.


Geboren werden und sterben […] hat seine Zeit.

(Prediger 3,1 f.)


Diese unbestreitbare, ja banale uralte und stets neue menschliche Erfahrung kann trösten und kann ängstigen, je nach weltanschaulichem Standpunkt des darüber Nachdenkenden.


Man hat unsere Gesellschaft angesichts der digitalen Revolution als »Beschleunigungsgesellschaft« charakterisiert. Alles geht immer schneller und rascher. Und doch: »Die Beschleunigungsgesellschaft wird ihrer selbst nicht mehr Herr. Die Folgen betreffen jeden Einzelnen.«11 Es mehren sich deshalb die Stimmen, die eine »Entschleunigungskultur« fordern. Denn es bleibt dabei, »alles hat seine Zeit« und das menschliche Leben steht wie vor Jahrtausenden in der Spannung von Geburt und Tod. Der religiöse Glaube relativiert diese Spannung, indem er Zeit und Ewigkeit in ein letztlich nicht gegensätzliches Verhältnis setzt. Damit eröffnet er über Geburt und Tod, über die Zeit hinausführende Dimensionen. Dennoch gilt auch dann mit Blick auf das menschliche Leben in der Welt von Zeit und Raum und alle damit zusammenhängenden konkreten Erfahrungen: »Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.«


Und das gilt auch für meine kleine Meditation anlässlich Ihres Geburtstages, lieber Herr Peschke, sie hat ebenfalls ihre Zeit und deshalb muss ich schließen.


  1. 1Hier und im Folgenden wird zitiert nach der Ausgabe: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers (Stuttgarter Jubiläumsbibel), Stuttgart 1937.

  2. 2Helmut Lamparter, Das Buch der Weisheit, Stuttgart 1959, S. 54.
  3. 3Jörg Rüpke, Art. »Zeit«, in Christoph Auffahrt, Jutta, Bernhard und Hubert Mohr (Hg.), Metzler Lexikon Religion, Stuttgart/Weimar 2000, Bd. 3, S. 697.
  4. 4Eberhard Hermann Pältz (Hg.), Jakob Böhme, Glaube und Tat. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, Berlin 1957, S. 12.
  5. 5Otto Kaiser, Art. »Die Wende der Zeit im Alten Testament«, in Jens Kotjatko-Reeb u. a. (Hg.), Nichts Neues unter der Sonne? Zeitvorstellungen im Alten Testament, Berlin/Boston 2014, S. 4.
  6. 6Lamparter, Buch der Weisheit (Fn. 2), S. 56.
  7. 7Erhard Peschke, Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 1, Berlin 1964, S. 91.
  8. 8August Hermann Francke, Der rechte Gebrauch der Zeit/ So fern dieselbe gut/ und so fern sie böse ist. Nachwort von Carmela Keller (Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen, Bd. 12), Halle 2008.
  9. 9Ebd., S. 16 f.
  10. 10Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke, Werke in Auswahl, Berlin 1969, S. 183.
  11. 11Zitiert nach Werner Thiede, »Die Beschleunigungsgesellschaft. Wie digitales Tempodiktat dem Posthumanismis zuarbeitet«, in Materialdienst der EZW 78/5 (2015), S. 164–172, hier S. 165.
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