»Diffusion Fundamentals Online«
Ein Neuzugang im Spektrum der Publikationsmedien der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
Genau wie es bei den kleinsten Bausteinen unserer Materie, den Atomen und Molekülen, zu beobachten ist, die einer ständigen, regellosen Bewegung unterworfen sind, kann sich auch die Verteilung ganz anderer ›Objekte‹ in Raum und Zeit verändern. Die Liste solcher ›Objekte‹ ist vielgestaltig und umfasst konkrete Dinge (wie Euro-Münzen, Gartenunkraut und Zika-Viren) genauso wie Abstrakta, die von technischen Neuerungen bis hin zum Wandel der Moralvorstellungen reichen können. Die relevanten Zeiträume sind dabei – genau wie bei den Atomen und Molekülen – von ganz unterschiedlicher Dauer, wobei – je nach betrachtetem System – unterschiedlichste Mechanismen zu den jeweiligen Bewegungsabläufen führen. Allen diesen Prozessen ist gemeinsam, dass sie üblicherweise zu einer Ausbreitung der betrachteten Objekte führen, wobei Vorhersagen in der Regel bestenfalls Wahrscheinlichkeitscharakter besitzen können.
Atome und Moleküle waren die ersten Objekte, die – beginnend mit dem 19. Jahrhundert – im Zentrum systematischer Untersuchungen von Ausbreitungsphänomenen standen. Ausbreitung (Diffusion) wurde damit insbesondere zu einem Forschungsgebiet von Physik und Chemie. Vielfältige und immer wieder neue Frage- und Aufgabenstellungen aus Grundlagenforschung und Applikation brachten es mit sich, dass bis heute nichts an dieser Attraktivität verloren ging. Die Suche nach passenden Lösungskonzepten führte dazu, dass die Mathematik dabei immer beteiligt war. Zugleich erfuhr der ursprüngliche Untersuchungsrahmen eine beeindruckende Erweiterung. So wurde die Diffusion als wichtiger Teilschritt in vielen Fertigungstechnologien erkannt, angefangen von der Metallurgie, über die Halbleitertechnik bis hin zur Produktveredlung durch Stofftrennung und Katalyse. Zufallsbewegungen traten schließlich selbst bei der Betrachtung globaler Probleme in Natur und Gesellschaft, wie bei der Ausbreitung biologischer Spezies und der Ausbildung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, in das Blickfeld der Forschung. So mutet es fast zukunftweisend an, dass die ›Entdecker‹ der Diffusion weder ›gelernte‹ Physiker noch Chemiker waren: Es war der schottische Botaniker Robert Brown (1773–1858), der erstmals die Zufallsbewegung von Teilchen, und zwar von mikrometergroßen (oder besser -kleinen), in Wasser suspendierten Pollenkörnern, beobachtete; die grundlegenden Gesetze der Diffusion verdanken wir den Arbeiten des Mediziners Adolf Fick (1829–1901).
Genau diese Vielfalt hatten die Organisatoren der ersten Diffusion-Fundamentals-Konferenz vor Augen, als sie im Jahre 2005 zu einem interdisziplinären Diskurs zum Phänomen der Ausbreitung nach Leipzig einluden. Zeit und Ort waren nicht zufällig gewählt, denn genau 150 Jahre zuvor hatte Adolf Fick seine Diffusionsgesetze veröffentlicht und es waren genau hundert Jahre vergangen, seit Albert Einstein (1879–1955) in seinem »annus mirabilis« neben grundlegenden Arbeiten zur speziellen Relativitätstheorie und zum Fotoeffekt auch eine molekularkinetische Deutung der Brownschen Bewegung publiziert hatte. Leipzig bot sich dabei als idealer Austragungsort an, weil hier beide Arbeiten, und zwar in den Poggendorff’schen Annalen der Physik und Chemie und den Annalen der Physik, erschienen waren. Zudem präsentiert sich Leipzig auch noch heute als Zentrum der Diffusionsforschung. Dank ihrer vielfältigen Aussagekraft kommen hier insbesondere die Methoden der kernmagnetischen Resonanz als wichtige Analysenverfahren bei der Diffusionsforschung, und zwar gleich an mehreren Fakultäten der Universität und am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, zum Einsatz. Die besondere Tradition Leipzigs auf diesem Forschungsgebiet gründet sich nicht zuletzt auch darauf, dass einer ihrer Entdecker (Felix Bloch (1905–1983), Nobelpreis für Physik 1952) erster Doktorand bei Werner Heisenberg (1901–1976) in Leipzig war.1
2005, das Jahr der ersten Diffusion-Fundamentals-Konferenz, ist zugleich auch das Ersterscheinungsjahr von Diffusion Fundamentals Online. Beiträge, die auf den Diffusion-Fundamentals-Konferenzen in Plenarvorträgen oder als Poster vorgestellt wurden, werden auf diesem Wege für jedermann zugänglich gemacht. Darüber hinaus können so Tagungs-Beiträge einschlägiger Fachgebiete generell publiziert werden – z. B. im Rahmen der Serie Magnetic Resonance in Porous Media bei Konferenzen in Cambridge (2008), Leipzig (2010), Guildford (2012) und Wellington (2014) (Bände 10, 14, 18 und 22) und beim Abschlusskolloquium der ›sächsischen‹ Forschergruppe From local constraint to macroscopic transport mit Wissenschaftlern aus Chemnitz, Dresden und Leipzig.2
Hauptanliegen des Online-Journals ist es, als Medium des Informationsaustausches zur Beschleunigung und Intensivierung des interdisziplinären Diskurses über Ausbreitungsphänomene zu dienen und für Publikationen dieses Gebietes jederzeit offen zu sein. Der Vortrag über Diffusion and Brownian Motion: Analogies in the Migration of Atoms, Animals, Men and Ideas von Gero Vogl, Wien, gehalten in Leipzig bei Diffusion Fundamentals I,3 bekam damit programmatischen Charakter. Hier geht es eben nicht um die Ausbreitung gegenständlicher Objekte sondern um die Weitergabe von Erkenntnissen. Bis zum heutigen Tag gibt die Suche nach den hierbei wirkenden ›Mechanismen‹ immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen um die Frage, in welchem Umfang es die Wanderung von Menschen oder ›nur‹ von Ideen war, die zur Verbreitung des relevanten Wissens führte.
Noch überwiegen in den inzwischen 25 Bänden des Online-Journals Beiträge aus den klassischen Bereichen der Diffusionsforschung. Doch kann bereits auf eine stattliche Anzahl von Artikeln verwiesen werden, die – dem Beispiel Gero Vogls folgend – neue Phänomene der Ausbreitung betrachten. So behandeln z. B. Anne Kandler und James Steele die Weitergabe von Innovationen4 und Dirk Brockmann u. a. den Zusammenhang zwischen Mobilität und der Ausbreitung von Krankheiten.5 Unter dem Titel What might Aquinas have said? laden Philip W. Kuchel und Marcel V. Sahade sogar zu einer Zeitreise in die Metaphysik des Mittelalters ein.6 Zu Problemen, die über den Themenbezug klassischer Diffusionsforschung hinausgehen und in den letzten beiden Bänden behandelt werden, zählen die Suche nach einer neuen Möglichkeit der Datierung antiker Fundgegenstände,7 die Frage nach den Mechanismen der Selbstreparatur an Pflanzenoberflächen8 und die Diskussion neuer Hinweise für das Bestehen transatlantischer, menschlicher Kontakte in Zeiten lange vor Kolumbus.9
Bei ihrer Gründung im Herbst 2014 hat die Strukturkommission Ausbreitung in Natur, Technik und Gesellschaft an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig10 die weitere Profilierung des Online-Journals Diffusion-Fundamentals zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben gemacht. Für den Erfolg dieses Vorhabens bestehen ausgezeichnete Bedingungen. Zum einen kann sich das Journal auf ein ausgewiesenes Herausgebergremium stützen, das nun – z. B. bei der Begutachtung eingereichter Manuskripte – noch durch die Mitglieder der Strukturkommission Unterstützung findet. Alle technischen Voraussetzungen für das Online-Journal sind im Rahmen bestehender Vereinbarungen durch das Open Access-Office der Universitätsbibliothek Leipzig gegeben, die inhaltlich-organisatorischen Aufgaben teilen sich weitestgehend die Autoren des vorliegenden Beitrags. Diffusion Fundamentals Online steht der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig damit – als schönes Beispiel des sorgsamen Umgangs mit Ressourcen – praktisch zum Nulltarif zur Verfügung.
Wir möchten an dieser Stelle all unsere Fachkollegen, die in den unterschiedlichsten Disziplinen und aus ganz unterschiedlicher Sicht mit Ausbreitungsphänomenen zu tun haben, sehr herzlich zur regen Nutzung dieses neuen Mediums im Spektrum der Publikationsmöglichkeiten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig einladen. Als Open Access-Journal, das ohne Publikationsgebühr für die Autoren dem Leser kostenlos zur Verfügung steht, zählt Diffusion Fundamentals Online zu den Ausnahmeerscheinungen in der wissenschaftlichen Publikationslandschaft. Dies erfordert, dass die Autoren den Einreichungsmodalitäten11 genau folgen und wurde überhaupt nur dadurch möglich, dass wir uns bei der Einschätzung der eingegangenen Arbeiten auf schnelle und unkomplizierte Unterstützung durch unsere Mitstreiter in Herausgebergremium und Strukturkommission stützen können – eingedenk dessen, dass die Verantwortung zum Inhalt der Arbeit natürlich ohnehin immer beim Autor zu liegen hat.
Wenn – im Unterschied zu den Denkströmen – die Beiträge für das Online-Journal Diffusion-Fundamentals auf Englisch erbeten werden, folgen wir in gewisser Weise Hans Joachim Meyer, der seinen Vortrag zur Eröffnung von Diffusion-Fundamentals VI (Dresden, 2015) folgendermaßen zusammenfasst:
In my view there is enough evidence to suggest that the question ›A global language or a world of languages‹ does not offer a real alternative. There is no simple answer to a complex question. We have to cope with both – the global language and the diversity of the languages.12
Freuen wir uns also über die weltweite Sichtbarkeit, die unseren Arbeiten in Diffusion Fundamentals Online auf diesem Weg zuteilwird, und über den angenehmen Nebeneffekt, dass auf diese Weise Diffusion (von lat. diffundere) tatsächlich gleich in seinem allgemeinen Sinn als ›Ausbreitung‹ (bei Leo-Englisch-Deutsch als erster Übersetzungsvorschlag zu finden) verstanden wird.
Die internationale Sichtbarkeit hat sich im letzten Jahr auch dadurch erhöht, dass über die Leipziger Universitätsbibliothek alle (knapp tausend!) bei Diffusion Fundamentals Online erschienenen Beiträge auf den Publikationsserver der Universität Leipzig übertragen wurden und sie damit sicher archiviert und über die gebräuchlichsten Suchkataloge wie Google Scholar, BASE und Worldcat zuverlässig zu finden sind. Seit Band 24 werden alle Beiträge unter der CC BY 4.0-Lizenz veröffentlicht. Damit folgen wir den in der Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen definierten Kriterien für Open Access-Artikel. Die Lizenz gestattet – bei Namensnennung des Autors – die freie Verwendung der Beiträge,13 wodurch für eine künftige Bezugnahme auf die Arbeiten und ihre Propagierung denkbar günstige Voraussetzungen gegeben sind.
Neben dem Wunsch, dass Diffusion Fundamentals Online als neues Publikationsmedium an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig – bei Lesern wie Autoren – viel Zuspruch finden möge, kann der Beitrag kaum besser beschlossen werden als mit einem herzlichen Dankeschön an Herausgebergremium und Struktur-Kommission bei Einwerbung und Begutachtung von Beiträgen für das Online-Journal und an das Open Access-Office der Universitätsbibliothek Leipzig für umfangreiche und perfekte Hilfe bei der Sicherung und ständigen Optimierung der Internetpräsenz.
- 1Siehe auch Jörg Kärger, »Signals in Post-War Ruins, Five Orders of Magnitude and Pore Spaces Explored by NMR Diffusometry«, in Diffusion Fundamentals 14 (2010) 1, S. 1–22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-186289 und ders., »Die Zeit als physikalische Grundgröße und ihre Merkwürdigkeiten«, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 15 (2015), S. 68–101, http://www.denkstroeme.de/heft-15/s_68-101_kaerger (29.12.2016).
- 2Siehe z. B. Romy Schachoff u. a., »Hot Brownian motion and photophoretic self-propulsion«, in Diffusion Fundamentals 23 (2015) 1, S. 1–19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-198886 (29.12.2016) und Jörg Schnauß u. a., »Motor-free force generation in biological systems«, in ebd. 5, S. 1–15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qu cosa-198921 (29.12.2016).
- 3Gero Vogl, »Diffusion and Brownian Motion Analogies in the Migration of Atoms, Animals, Men and Ideas«, in Diffusion Fundamentals 2 (2005) 2, S. 1–15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-195050 (29.12.2016).
- 4Anne Kandler und James Steele, »Innovation Diffusion in Time and Space: Effects of Social Information and of Income Inequality«, in Diffusion Fundamentals 11 (2009) 3, S. 1–17, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-188644 (29.12.2016).
- 5Dirk Brockmann, Vincent David und Alejandro Morales Gallardo, »Human Mobility and Spatial Disease Dynamics«, in Diffusion Fundamentals 11 (2009) 2, S. 1–27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-188611 (29.12.2016).
- 6Philip W. Kuchel und Marcel V. Sahade, »What Might Aquinas Have Said?«, in Diffusion Fundamentals 6 (2007) 84, S. 1–9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-194259 (29.12.2016).
- 7Vincent J. Hare u. a., »Testing the (time)1/4 diffusion law of rehydroxylation in fired clays: evidence for single-file diffusion in porous media?«, in Diffusion Fundamentals 25 (2016) 5, S. 1–11, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-201186 (29.12.2016); siehe hierzu auch den Beitrag »Hilft Diffusion bei der Altersbestimmung von Keramik?« in diesem Heft.
- 8Wilfried Konrad, Christoph Neinhuis und Anita Roth-Nebelsick, »Competition between diffusion and advection may mediate self-repair of wax microstructures onplant surfaces«, in Diffusion Fundamentals 25 (2016) 6, S. 1–21, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-202156 (29.12.2016).
- 9Dominique Görlitz, »The Occurrence of Cocaine in Egyptian Mummies - New research provides strong evidence for a trans-Atlantic dispersal by humans«, in Diffusion Fundamentals 26 (2016) 2, S. 1–11, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-214380 (29.12.2016).
- 10Siehe auch Jörg Kärger und Lutz Schiffer, »Gründung der Kommission Ausbreitung in Natur, Technik und Gesellschaft an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig«, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 13 (2014), S. 180 f., http://www.denkstroeme.de/heft-13/s_180-181_kaerger-schiffer (29.12.2016).
- 11http://diffusion.uni-leipzig.de/misc/author_guidelines.doc (29.12.2016).
- 12Hans Joachim Meyer, »A Global Language or a World of Languages«, in Diffusion Fundamentals 25 (2016) 1, S. 1–6, hier S. 9, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa-201117 (29.12.2016).
- 13Siehe https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ (29.12.2016).