Relationes. Schriftenreihe des Vorhabens »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin« bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Neuerscheinungen 2015 und 2016
Kampf der Zellen. Die Entstehung der Immunologie im Wissenschaftsdreieck Russland – Deutschland – Frankreich
Von Oxana Kosenko (Relationes, Band 17), Shaker Aachen 2015, 226 Seiten, Festeinband
Wie kaum ein anderes Grundlagenfach der Medizin entwickelte sich die Immunologie in einem internationalen Austausch zwischen verschiedenen Gelehrten und unterschiedlichen Forschungsrichtungen. Der im Akademieprojekt Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin bislangverfolgte Ansatz eines bilateralen Transfers wurde daher auf die wichtigen französischen Akteure hin erweitert. Eine besondere Spannung erhielt die Frühgeschichte der neuen Disziplin durch die Konkurrenz zweier Konzepte, dem Modell einer zellulären Abwehr durch Phagozytose, das Il’ja Mečnikov (1845–1916) vertrat, und dem Modell einer humoralen (serösen) Abwehr, das Paul Ehrlich (1854–1915) und Emil von Behring (1854–1917) propagierten. Für die ältere Wissenschaftsgeschichte war es verlockend, diesen Konflikt in den nationalen Wettbewerb zwischen Frankreich (plus Russland) und Deutschland einzufügen, gleichsam in Analogie zur lebenslangen Konkurrenz zwischen Robert Koch (1843–1910) und Louis Pasteur (1822–1895). Oxana Kosenko gelingt es, ein differenzierteres Bild von den persönlichen Beziehungen zwischen den Forschern zu zeichnen, das sie mit bisher unpublizierten Primärquellen (darunter 20 Briefe an und von Mečnikov) belegen kann. Es stellt sich heraus, dass die Gegensätze nicht national, sondern in den unterschiedlichen Denkstilen der Akteure und insofern in ihrer unterschiedlichen fachlichen Provenienz begründet waren. Die Anwendung von Ludwig Flecks (1896–1961) Begrifflichkeiten erklärt darüber hinaus eine Reihe von Konflikten innerhalb des Kreises um Mečnikov. Die hierzulande kaum bekannten russischen Immunologen Jakov Jul’evič Bardach (1857–1929), Aleksandr Michajlovič Bezredka (1870–1940), Nikolaj Jakovlevič Čistovič (1860–1926), Georgij Norbertovič Gabričevskij (1860–1907), Nikolaj Fëdorovič Gamaleja (1859–1949) und Lev Aleksandrovič Tarasevič (1868–1927) werden auf diese Weise sowie zusätzlich mit kurzen Biobibliografien erstmals in das ihnen gebührende Licht gesetzt.
Mikroben, Seuchen und Vakzine. Biobibliographisches Lexikon der Bakteriologen, Hygieniker und Immunologen zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert
Von Marta Fischer (Relationes, Band 18), Shaker Aachen 2015, 595 Seiten, Festeinband
Das neue Personenlexikon schließt ein Modul innerhalb des Akademieprojekts Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin ab: Zum Aufstieg der Hygiene im 19. Jahrhundert und ihren beiden konkurrierenden Richtungen um Max von Pettenkofer (1818–1901) einerseits und Robert Koch (1843–1910) andererseits ist 2014 ein interdisziplinärer Tagungsband erschienen (Relationes, Band 16) und eine Monografie zur Immunologie liegt als Band 17 der Relationes vor. Die sechs biobibliografischen Einträge von dort sowie der schon seit mehreren Jahren online verfügbare Artikel zu Mečnikov in der Personendatenbank des Projekts1 sind im vorliegenden Band nicht nochmals berücksichtigt. Wie in den vorausgehenden Lexikonbänden konnten auch diesmal die Artikel zu den ›großen Namen‹ (wie Hans Buchner (1850–1902), Paul Ehrlich (1854–1915), Carl Flügge (1847–1923), Koch, Pettenkofer usw.) unter Verweis auf die reichlich verfügbare Literatur kurz gehalten werden. Es gab genügend neues Material zu bisher kaum bekannten Forschern, von denen sehr viele disziplinär gar nicht so leicht einzuordnen sind, denn gerade die Hygiene wurde von vielen verschiedenen Fachrichtungen betrieben. Die rund 120 Artikel lassen die Bedeutung und die Vielfalt der Forschung auf den drei neu aufgekommenen Gebieten erkennen. Bei den bibliografischen Angaben wurden diesmal die in vielen Publikationen gelieferten Informationen zu Namensvariationen, akademischen Titeln, Arbeitsgruppen, Bezeichnungen für Institutionen u. ä. (zumindest bei der Erstzitation) angegeben und damit eine neue wichtige biografische Quellenart erschlossen, die indirekt über Lebensstationen und Vernetzungen Auskunft gibt. Der Band reicht weiter als die bisherigen Lexika ins 20. Jahrhundert hinein und lässt dessen politische Verwerfungen erkennen: Erster Weltkrieg, Revolution und Verfolgung haben in den Lebensläufen von nicht wenigen Wissenschaftlern ihre tiefen Spuren hinterlassen.
Deutsche Einflüsse auf die Pharmazie im Russischen Kaiserreich. Ein Handbuch
Von Elena Roussanova (Relationes, Band 19), Shaker Aachen 2016, 932 Seiten, Festeinband
Mit diesem Handbuch zu den Anfängen der naturwissenschaftlich begründeten Pharmazie wird die den Überblicksdarstellungen gewidmete Schlussphase des bis 2018 ausgelegten Vorhabens Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin eingeläutet; im letzten Abschnitt wird noch ein chemiehistorisches Handbuch erscheinen. Der Zugriff auf die zentralen Akteure erfolgt in bewährter Weise durch einen biobibliografischen Lexikonteil; im Falle der Pharmazie versteht sich dieser Abschnitt als Ergänzung zur Deutschen Apotheker-Biographie. Die enorme Zahl belegbarer deutsch(stämmig)er Apotheker im Russischen Reich wird aus den erstmals beigefügten Kurzbiogrammen ersichtlich, die sich in Verbindung mit dem aufwendigen Personenregister als Fundgrube für genealogische und sonstige prosopografische Recherchen erweisen dürften, auch wenn nicht alle biografischen Details eruierbar waren. In seiner Eigenschaft als Handbuch bietet der Band auch eine beschreibende Analyse der Differenzierungs- und Institutionalisierungsprozesse der Pharmazie in Russland unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einflüsse aus Deutschland oder von deutsch(stämmig)en Personen. Die Fachentwicklung an den Akademien und Universitäten stellt dabei einen der Schwerpunkte dar, ein weiterer ist die regionale Verteilung der Apotheken unter deutscher Leitung. Besonders heikel waren Begriffsklärungen, mit deren Hilfe Überschneidungsfelder und Unterschiede zur Pharmakologie herausgearbeitet werden konnten. Insofern gibt es dezidierte Anknüpfungen an den Lexikonband 14 der Relationes. Die wesentlichen Informationen sind in Tabellenform aufgearbeitet, um einen schnellen Zugriff auf die Ergebnisse zu ermöglichen. Dazu kommen kurze, eher essayistische Kapitel mit einer exemplarischen Auswahl von Themen (z. B. Apothekerdynastien, pharmazeutische Lehrbücher, wissenschaftliche Gesellschaften, Personennetzwerke), die künftige pharmazie- und wissenschaftshistorische Untersuchungen mit dem nunmehr zur Verfügung gestellten Material anregen sollen.
- 1http://drw.saw-leipzig.de/30695 (15.1.2017).