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Systematisierte Ungewissheit


Soziologische Betrachtungen zur Suche nach dem Neuen1

Die Veranstalter der Vortragsreihe »Innovation« haben Leitfragen formuliert, denen sich die Vortragenden, sofern sie bereit sind, als Gäste dem Höflichkeitsgebot zu folgen und sich ›ordentlich‹ zu benehmen, stellen sollten. Es sind Fragen nach (1) möglichen Definitionen des Begriffes ›Innovation‹, (2) nach dem Stellenwert von ›Innovationen‹ in der Gegenwartsgesellschaft und schließlich (3) nach den Grenzen, denen ›Innovationen‹ nicht nur in erkenntnistheoretischer, technischer, ökonomischer und ökologischer, sondern auch in ethischer Hinsicht unterliegen. An der Fragerichtung lässt sich erkennen, dass die Veranstalter sich der Diffusität der Rede von und der Forderung nach ›Innovation‹ bewusst sind und nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Aspekte im Blick haben, die sich mit dem Wunsch nach ›Innovation‹ und der Entwicklung des Neuen verbinden: Die von Unternehmens-, Politik- und Lebensberatern forcierte, bis in den Alltag hineinreichende ebenso allgegenwärtige wie ­naive Innovationsrhetorik soll analytisch unterlaufen und sowohl auf ihre Motive als auch auf Illusionen hin befragt werden. An dieser Fragerichtung werde ich mich im Folgenden orientieren.


1. Vom zweifelhaften Wert des Neuen


Das scheinbar ideale Modell, an dem sich der Traum von einer sich selbst befeuernden und beschleunigenden Innovationsproduktion entzündet, ist ›Silicon Valley‹. Dieses kalifornische Tal des Innovationshimmels verkörpert den zeitgenössischen Restbestand utopischen Denkens: eine ökonomisierte Gesellschaftsutopie. Technische Innovation, die Erzeugung von Kaufanreizen, das Gespann von Nutzen- und Gewinnmaximierung bilden hier eine faszinierende Einheit. Ihre lebensweltliche Entsprechung findet sie in der Trias Jugend, Attraktivität, Reichtum. Nicht Hamlets lebensmüder Wunsch: »Sterben. Schlafen«, sondern eine schöne, immer neue Welt »ist ein Ziel aufs Innigste zu wünschen.«2

In der Geschichte der Menschheit ist der Glaube, das Neue sei per se dem Alten vorzuziehen und die Entwicklung der Menschheit sei – allen Rückschlägen zum Trotz – letztlich ein ›Fortschritt zum Besseren‹ (Kant) verhältnis­mäßig jung und zunächst als ›Regionalglaube‹ beschränkt auf den ›Okzident‹, Europa. Von der europäischen Antike, beispielhaft Aristoteles, bis zum Ende des Mittelalters war alles Neue – gemessen am Vorbild großer Vergangenheiten – von eher zweifelhafter Qualität und Flüchtigkeit. Dementsprechend fiel der Vergleich der Vertreter des Alten mit denen des Neuen, der antiqui mit den moderni, fast immer zugunsten der Ersteren aus.


Die alten Mythen, an deren Anfang das goldene Zeitalter oder das Paradies standen, denen stetig schlimmere und krisenhaftere Zeiten folgten, bis – so die Hoffnung – am Ende ein neues goldenes Zeitalter, ein neues Paradies den mythischen Kreislauf abschloss, kennen ebenfalls keinen Fortschrittsglauben. Der mythische Zyklus der alten Großerzählungen basiert zudem in fast allen Religionen und Weltbildern auf einem Paradox. Einerseits gilt alles, auch das einzelne menschliche Schicksal als vorherbestimmt, und die Menschen glauben, um den zyklisch-kosmologischen Ablauf zu wissen. Andererseits bleibt ihr eigenes Schicksal sowie das der einzelnen Völker im Dunkeln: einer Sphäre, die vielleicht durch magische Praktiken, Orakel, Seher und Propheten zu einem Zwielicht erhellt werden könnte, in dem sich der Wille der Götter, des Gottes oder des Weltenschicksals eventuell erahnen ließe. Aber auch die Chance, etwas über das eigene Schicksal erfahren zu können, bleibt gekettet an die Überzeugung, dass es als solches nicht zu ändern sei: Das Spiel machen der Gott und die Götter, auch wenn man glaubt, ihnen in die Karten schauen zu können.


Neben dieser – auch heute noch lebenden – Weltsicht setzen sich im ›Okzident‹ allmählich in der von ihm so benannten Neuzeit eine andere Welt­anschauung, ein anderes Menschenbild und ein anderer Weltzugang durch. Mithilfe neuer Techniken und Instrumente (Fernrohr, Chronometer) vermisst und ›seziert‹ ein neuartiger Typus von Wissenschaftlern Räume, Zeiten und Menschen in mathematisch, physikalisch, erkenntnistheoretisch und empirisch-experimentell objektivierter Form.3

Beschäftigten sich die Renaissanceutopien (Thomas Morus, Francis Bacon, Tommaso Campanella) noch mit der rationalen Ausgestaltung von Wunschräumen, die dem defizitären Zustand der damaligen Staatswesen gegenüber­gestellt wurden, so werden in der Aufklärung aus den Wunschräumen der Raum­utopien die Wunschzeiten der Zeitutopien (Louis-Sébastien Mercier, Alexis Piron): Die ›Produktion‹ von Erkenntnis, Technik und politischen Gemeinwesen koppelt sich an die ›Projektion‹. Die zyklische Zeitvorstellung transformiert sich zum Fortschrittsglauben, die mythisch geschlossene zur ›wissenschaftlich‹ basierten – seit der Evolutionstheorie – offenen Teleologie, das jenseitige zum diesseitigen Paradies, der Jenseitsglaube zur Diesseitsreligion.


Folgerichtig werden die alten Mythen umgeschrieben. Stand in ihnen noch das goldene Zeitalter am Anfang, gefolgt von abgestuftem, unaufhaltsamem Niedergang, so kehrt sich diese Reihenfolge Mitte des 19. Jahrhunderts – beispielhaft in Auguste Comtes (1798–1857) ›Dreistadiengesetz‹ – um: Am Anfang steht nun die mythisch verdunkelte Kindheit der Menschheit, am Ende als Ergebnis einer wissenschaftlich gestützten, ›positiven Philosophie‹ – einer ›sozialen Physik‹4 – das ›industrielle Zeitalter‹. Es stützt sich nicht mehr auf Priester, Seher oder Propheten, sondern auf Wissenschaftler (soziale Physiker, also Soziologen). Sie bilden die Weltregierung. Comtes Devise: »Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir« verknüpft unmittelbar die Produktion von Wissen mit der Projektion einer perfektionierten Gesellschaft. Auf Brasiliens Flagge findet sich noch heute als Inschrift Comtes Motto »Ordnung und Fortschritt«. Und es scheint so, als habe sich seine soziale Heilslehre bis in die Gegenwart tief in das sozialtechnologische, politische Denken eingegraben. 


Nicht nur für Comtes Zeitgenossen, unter ihnen Karl Marx, sondern auch für einen bedeutenden Teil der Folgegenerationen scheint sich mit der immer schnelleren Entwicklung der sich weiter ausdifferenzierenden Technologien – 
einschließlich der modernen Medizin – ein Menschheitstraum unaufhaltsam zu verwirklichen: die Beherrschung der Natur durch Technik. Aber schon im 19. Jahrhundert wird unübersehbar, dass im Zusammenspiel von ›freiem Markt‹ und industrieller Produktion eine Entwicklung einsetzt, die sich weder von der Politik (der Nationalstaaten) noch vom Wissenschaftssystem oder Wirtschafts- und Bankenkonsortien steuern lässt: Soziale Unruhen, Zivilisationskritik und Fortschrittspessimismus sind (spätestens) seitdem die ständigen Begleiter des Fortschrittsgedankens.


Sie finden ihren philosophischen und literarischen Ausdruck in den am Ende des Jahrhunderts entworfenen Gegenutopien (Dystopien). Deren Thema ist die Kehrseite des Fortschritts: der Fortschritt als Albtraum im Gewand der Science Fiction. In den paradigmatischen Romanen u. a. von Kurd Laßwitz (1848–1910), H. G. Wells (1866–1946), Aldous Huxley (1894–1963), später Isaac Asimov (1920–1992) artikuliert sich nicht lediglich ein Unbehagen gegenüber dem Fortschritt, sondern auch die Einsicht, dass die Technik als ›Freund‹ des Menschen und Beherrscherin der Natur zu einem Gegner mutiert, der von seinem Erzeuger, wenn überhaupt, dann zunehmend weniger beherrscht und gesteuert werden kann. Der Mensch hat sich in das ›stahlharte Gehäuse‹ (Max Weber) seiner eigenen Schöpfung eingekerkert. 


Arnold Gehlen (1904–1976) greift dieses Leitmotiv nicht nur auf,5 sondern charakterisiert später das nicht mehr auflösbare Bündnis von Technisierung und Institutionalisierung als eine weitere Falle, in der sich die Menschheit selbst gefangen hat – in einem Käfig, dessen Gitterstäbe immer enger gesetzt werden: Die ›erste Natur‹ ist durch die ›zweite‹, das Bündnis von Kultur und Technik zunächst und nur so lange beherrschbar, wie sich dieses Bündnis nicht verselbständigt. Da die im Bündnis von Wissenschaft, Technik und Industria­lisierung angelegte systemimmanente Fortschrittsdynamik nicht mehr zu bremsen zu sein scheint, käme es – wiederum metaphorisch gesprochen – für uns darauf an, eine ›dritte Natur‹ zu entwickeln, mit der wir der ›zweiten‹ ­erfolgreich ­begegnen können.


Allerdings erzeugt das mit der Fortschrittsdynamik verbundene, neue Zeitbewusstsein nicht nur Beschleunigungsängste – so ganz neu sind Hartmut Rosas Überlegungen nicht –, sondern auch die Furcht der ›aktuell‹ Modernen, schon bald als ›veraltet‹ zu gelten: »Wir, die so modern sind, werden in einigen Jahrhunderten zum Altertum gehören«.6 Heute dürfte die zeitliche Differenz zwischen dem Aktuellen, Modernen und dem Überholten, Veralteten kaum mehr als zehn Jahre betragen. 


Mit dem Zweifel an einer per se auf gesellschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ausgerichteten Entwicklung entsteht zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Fortschritt und Ethik. So wendet sich der im Hinblick auf ›das Fortschreiten der Menschheit zum Besseren‹ optimistische Immanuel Kant (1724–1804) entschieden gegen eine ethische Neutra­lität des Fortschrittgedankens: Er verlangt, dass jede Neuerung, jeder konkrete ›Fortschritt‹, sich vor der ›Menschheit der Zukunft‹ zu verantworten und sich an deren ›Richtspruch‹ zu orientieren hätten. Damit ist gerade nicht jener von Benjamin Franklin (1706–1790) utilitaristisch ausgedünnte Maßstab für eine Innovation gemeint, die vor allem daran gemessen wurde, ob sie nützlich sei oder nicht: Den Philosophen des ›kategorischen Imperativs‹, der aufklärenden und aufgeklärten Vernunft, verbindet nichts mit dem frühen Rational-Choice-Theoretiker und der Nutzenmaximierungsmaxime. 


Die Suggestivkraft der Fortschrittsidee war im ›Okzident‹ spätestens seit der Aufklärung so umfassend, dass sie in fast alle Lebensbereiche eindrang, so auch in die Kunst. Die Faszination des Neuen, das sich aus eigener Kraft von Traditio­nen, überkommenen Regeln, Formen und Normen lossagt, paradigmatisch in der Genieästhetik oder im ›Sturm und Drang‹, erzeugt in der Kunst eine Überbietungssdynamik, die in der Folge der Französischen Revolution – der Forderung nach umfassenden gesellschaftlichen Umwälzungen folgend – in ›permanenter Revolution‹ ihren Ausdruck sucht. Eben diese Dynamik führt allerdings schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zu der Einsicht, dass wohl jede vergangene Zeit sich als neue und moderne Zeit verstanden haben könnte und die Vergänglichkeit der Faszination des Neuen nirgendwo so gut zu erkennen war wie in den von den ›Modernen‹ selbst erzeugten Überbietungskaskaden. Zwangsläufig ergibt sich aus dieser Einsicht die Frage nach dem, was als Unvergängliches bleiben und sich der bedrückenden Vergänglichkeit entgegenstellen könnte. 


Mit der Feststellung »La modernité c’est le transitoire, le fugitif, le contingent«,7 beginnt für Charles Baudelaire (1821–1867) die Suche nach dem Überdauernden in der Poesie: nach dem ›Ewigen als Gegenpol des Modernen‹.8 Einerseits konstituiert das Spannungsverhältnis zwischen dem Modernen und dem Ewigen die ›Doppelnatur des Schönen‹, andererseits ist es, so Baudelaire, gerade wegen der Flüchtigkeit und Kontingenz des Modernen, die Aufgabe des Künstlers »de tirer l’éternel du transitoire.«9 Die Erfüllung dieser Aufgabe wird indes umso schwieriger, je mehr künstlerische Produktionen und Lebensformen im Dauerhabitus einer Avantgarde aufgehen. 


Denn die in diesem Habitus angelegte Selbstbeschleunigungsdynamik verlagert sich seit der ›klassischen Moderne‹ bis in die Erscheinungs- und Formenvielfalt der Gegenwartskunst hinein in den Schwerpunkt des Spannungsverhältnisses zwischen dem Modernen und dem Überdauernden so stark auf Aktion und Aktualität, dass sich auch die Avantgarde als Formation durch ihre eigene Marschgeschwindigkeit selbst auflöst. Die Attribute ›modern‹ und ›neu‹ bezeichnen nun »nur [noch] eine unbestimmbare Strecke im Flusse der Gegenwart […], buchstäblich nur die Stecknadelspitze der Gegenwart.«10

Folgerichtig zielt die ›Konzeptkunst‹ in ihrem Kampf gegen »Opas Moderne« darauf, sowohl das Kunstwerk selbst als auch seinen Schöpfer durch die Ideen seiner/ihrer Aus- und Aufführung zu ersetzen. An die Stelle des »dinglichen Dreiecks Atelier – Galerie – Museum« soll das »zeitliche Dreieck« (was immer diese räumliche Metapher über Zeit aussagen kann) »Idee – Transformation – Fragment« treten:11 Die Ideen der ›Performanz‹ werden dadurch zu ›großer‹ Kunst, dass sie bewusst als ›Dokumente ihrer eigenen Vergänglichkeit‹12 geschaffen werden: Das einzig Ewige ist die andauernde sich selbst inszenierende und zeigende Vergänglichkeit. In diesem Paradox verliert das Neue sein Faszinosum. Das Überraschungsmoment des Innovativen verschwindet in der unentwegten Transformation von ›neu‹ zu ›neulich‹. 


Die im 19. Jahrhundert einsetzende Kritik an einem allzu optimistischen, entweder technizistisch oder utilitaristisch/ökonomisch verkürzten Fortschrittsbegriff erschöpft sich jedoch weder in der pessimistischen Formel, dass gesellschaftlicher Wandel zwar zwangsläufig, aber eben kontingent stattfinde, noch in der Alltagsweisheit, dass Neues nicht per se gut und Gutes nicht per se neu sein muss. Sie stützt sich auch – angeregt durch die sich formierenden Geschichtswissenschaften – auf die Einsicht, dass Vergangenheitsvergessenheit nicht nur zum Verdrängen der Unkalkulierbarkeit der Folgen eines unreflektierten Modernisierungs- und Innovationsimperativ führt, sondern dass dieser Imperativ sich auch (S. o.) vor dem Schiedsspruch der ›Menschheit der Zukunft‹ verantworten können muss, um schon in der Gegenwart legitimierbar zu sein.


Vor allem aber macht das neu entstehende Geschichtsbewusstsein den Blick frei für Handlungsoptionen, die nicht dem Wissen um die Vergangenheit abgewonnen wurden, sondern sich aus dem Überschuss an Entscheidungsentwürfen ergeben, die der menschliche Imaginationsfähigkeit durch gesellschaftlichen Wandel immer schon abverlangt werden.


2. Routinen und Krisen

Kaum jemand wird bezweifeln, dass es riskant ist, auf neue Situationen und Handlungszwänge mit alten Routinen zu reagieren, obwohl wir immer wieder den in Routinen verankerten Gewohnheitsautomatismen erliegen. Dass wir ­ihnen erliegen, verdankt sich ihrer Suggestivkraft. Sie lässt den geschichtlichen Wandel und das in ihm enthaltende Neue verschwinden in dem Glauben, letztlich sei – trotz aller neuen Eindrücke – alles ›beim Alten‹ geblieben und lasse sich daher ›in alt bewährter Art‹ bewältigen. Wenn wir nach Innovationen suchen, müssen wir uns also dessen bewusst sein, dass sich das Neue – meist ohne unser Zutun – bereits ereignet hat, als Neues aber entdeckt werden will: Das Finden oder Empfinden von etwas Neuem im Gegebenen liegt in den meisten Fällen dem Erfinden von Innovationen voraus. Anders ausgedrückt: Neuartige Situationen, die uns vorgegeben werden, die wir existenziell bewältigen müssen und in denen bisher bewährte Routinen versagen, zwingen uns Innovatio
nen auf. 


Die uns abverlangte Innovation verdankt sich also einer Krise: dem Zusammenbruch der Routinen. Sowohl Alfred Schütz (1899–1959) als auch Georg Simmel (1858–1918) und Helmuth Plessner (1892–1985) sehen in dem Spannungsverhältnis von Krise und Routine sowie in den sich hieraus ergebenden Prozessen von Wechselwirkungen eine anthropologisch fundierte Grund­erfahrung: Die ›Angst vor dem Zusammenbruch des Mundanen‹ (Schütz). Diese Angst vor dem ›Stehen im Nirgendwo‹ (Plessner) und dem Verlust jeder Ordnung (Simmel) zwingt uns die Arbeit an Sicherungssystemen auf – am Aufbau von ›Strukturen der Lebenswelt‹ (Schütz), an der Transformation von Verhaltensgewohnheiten in Routinen und schließlich Institutionen (Gehlen, Peter L. Berger / Thomas Luckmann), an Kultur als ›zweiter Natur‹ (Plessner) und menschlicher Ordnung (Simmel). 


Kant, auch hier ein Vordenker der späteren ›Philosophischen Anthropologie‹, sieht in der ›menschlichen Suche nach Glückseligkeit‹ den Ausdruck einer unüberwindbaren Krise. Diese liegt allen weiteren Krisen voraus und ist zugleich konstitutiv für die menschliche Existenz. Es ist die Existenz eines 
Lebewesens, das ›vor sich‹, d. h. in die vor ihm existierende Vergangenheit, und über sich hinaus, in die nach ihm kommende Zukunft denken kann. Dabei ist es sich zugleich seiner Endlichkeit und Sterblichkeit bewusst, der es jederzeit ausgeliefert ist: »Sobald ein Mensch lebend wird, sobald ist er alt genug zu sterben.«13

Ein Lebewesen, das sich in dieser grundlegenden Krise finden und immer wieder neu erfinden muss, kann sich nicht bedingungslos auf Routinen verlassen, wenn es überleben will. Routinen sind beides: notwendig zur Absicherung des menschlichen Zusammenlebens und außerordentlich riskant bei der Bewältigung neuartiger Situationen und Gefahren. Vor dem Hintergrund dieser uns immer wieder ›aufgezwungenen‹ Ausgangssituation lassen sich die Fragen nach den Möglichkeiten bewusst hergestellter und legitimierbarer Innovationen neu formulieren: 



  1. Wie können wir uns der durch den unreflektierten und unangemessenen Einsatz von Routinen entstehenden Gefährdung entziehen?

  2. Wie können wir – angesichts der Kontingenz neuer Entscheidungsoptionen – verhindern, dass wir die gewünschte Innovation ebenfalls dem Zufall überlassen? Wie lässt sie sich stattdessen gezielt finden und erzeugen?

  3. Wie lassen sich die Ergebnisse dieser Suche so kontrollieren, dass sie vor einer imaginierten, zukünftigen Menschheit bestehen können?


Exkurs: Das – vorläufige – Ende vom ›Ende der Welt‹. – Ein Fallbeispiel zur Verflechtung von Routinen, Krisen, Problemlösungsdruck, schädlichen/nützlichen Innovationen und erneuter Routinisierung


An der Geschichte von der Entdeckung und Bekämpfung des ›Ozonlochs‹ lässt sich die bisher geschilderte Wechselwirkung von Routine, Krise, Innovation und erneuter Routinisierung in Stichworten exemplarisch veranschaulichen.14 Ich lasse die Geschichte damit beginnen, dass eine für den Haushalt angenehme und nützliche Erfindung – die des Kühlschrankes (1918 Detroit) – sich durch­gesetzt hätte, wenn die auf Ammoniak-Basis arbeitenden Kühlaggregate keine Giftdünste verbreitet hätten und nicht so häufig explodiert wären. Der in De­troit (bei General Motors) arbeitende Maschinenbau-Ingenieur Thomas Midgley (1889–1944) schafft Abhilfe, indem er 1929 erfolgreich die erste zweifelhafte Innovation durch eine weitere, zunächst als unschädlich erscheinende Innovation ›überholt‹: durch die Entdeckung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW).


Midgley hatte schon vorher ein anderes Problem so gelöst, dass die unangenehmen Folgewirkungen auch dieser zunächst erfolgreichen Problem­lösung erst sehr viel später erkennbar werden: Er fand 1924 heraus, dass sich das ›Klopfen‹ in Verbrennungsmotoren durch die Beimischung von Blei im Benzin verhindern lässt: eine bis auf Weiteres nützliche Neuerung. Demgegenüber ist die Entdeckung der FCKW allerdings eine Breitbandinnovation. Denn diese Mixtur lässt sich nicht nur in den nun nicht mehr explodierenden Kühlschränken einsetzen, sondern auch in Klimaanlagen und Schaumstoffen, in Reinigungs- und Lösungsmitteln, als Treibmittel in Deodorants, Sprühdosen und sogar Asthma-Inhalatoren. Dieser Erfindung ist nicht nur viel – zunächst – Gedeihliches und Heilsames zu verdanken, sondern sie ist auch mit einem für die Menschheit überaus glücklichen Zufall verbunden: Midgley hätte in seine Erfolgsmixtur statt Chlor auch Brom mischen können. Er wählt das billigere Chlor. Durch diese glückliche Wahl ist die Menschheit einer Katastrophe entgangen, aus der es, soweit wir wissen, keinen Ausweg gegeben hätte.


Dank der ›segensreichen‹ Breitbandmixtur sowie der durch sie angeregten und mit ihr verbundenen Produkte steigt der FCKW-Ausstoß zunächst ungehemmt. Weil die Kunststoffmoleküle der FCKW nicht in die Stoffkreisläufe auf der Erdoberfläche eingebunden und sehr langlebig sind – einige von ihnen halten bis zu 640 Jahre – reichern sie sich zunehmend in der Lufthülle an. Basis dieses Wachstums ist – aus soziologischer Sicht – die Adaption einer gesellschaftlich akzeptierten Innovation in Alltagsroutinen: die Veralltäglichung des innovativen Charismas einer Erfindung durch deren alltäglichen Gebrauch. So steigt die FCKW-Produktion ungebremst – bis zu über eine Million Tonnen im Jahr. Das Bewusstsein dafür, dass einige wenige neu geschaffene Moleküle einen Einfluss auf den Planeten haben könnten, fehlt noch vollständig. Die Alltagsroutinen werden ergänzt durch Denkroutinen, die technische Innovationen wie selbstverständlich mit der Fortschrittsidee zusammenschließen.


Dass im technischen Denken jede Innovation weitere Innovationen provoziert und die Selbstverpflichtung zu fortgesetztem innovatorischem Handeln enthält, verweist – paradox genug – ebenfalls auf eine Denkroutine: Es ist zur Gewohnheit geworden, auf Innovation zu setzen. Dieser Selbstverpflichtung folgt auch James Lovelock – im gleichen Entdeckerhabitus wie Midgley. Lovelock – Mediziner, Biophysiker, Chemiker – entwickelt ein Messgerät, den ›Elektroneneinfangdetektor‹ (ECD), der mit bis dahin unbekannter Genauigkeit, so sein Erfinder, selbst die Moleküle eines aufgelösten Zuckerwürfels im Atlantik aufspüren könnte. 1970 überrascht Lovelock bei einem Vortrag sein Publikum mit folgendem Gedankenexperiment: »Stellen Sie sich eine mit FCKW gefüllte Weinflasche vor. Ich schütte den Flascheninhalt in Japan in einen Eimer, überlasse den Inhalt der Luft und in zwei Jahren kann der ECD die FCKW an jedem Ort der Erde nachweisen.«15

Lovelocks plakative Argumentation und die gegenüber dem britischen ­Natural Environment Research Council (NERC) geäußerte Behauptung, er könne etwas in billionstel Teilen messen und beantrage deshalb, auf dem Forschungsschiff ›Shackelton‹ in die Antarktis mitfahren zu dürfen, um FCKW zu messen, bringt ihm bei seinen wissenschaftlichen Kollegen den Titel ›Aufschneider‹ ein. Der Antrag wird abgelehnt. Lovelock fährt dennoch auf eigene Kosten mit und berichtet im Januar 1972, was er gemessen hat, u. a. Moleküle aus der FCKW-Gruppe: Trichlorfluormethan. 1973 veröffentlichte er seine Erkenntnisse in Nature, glaubt aber trotz seiner dramatischen Messergebnisse, dass die meisten der von ihm gemessenen Giftstoffe in den von ihm festgestellten, geringen Mengen (vgl. die Asthma-Inhalatoren) für Menschen unschädlich und insgesamt keine Gefährdungen erkennbar seien.16

Dennoch entsteht ein gewisses Unbehagen. Denn dass mit dem Einsatz von FCKW nicht nur Vorteile verbunden sind, ist inzwischen auch dem weltweit größten Hersteller der Mixtur, Dupont, bewusst. Probleme sieht die Forschung vor allem in dem äußerst hohen Treibhauseffekt der Moleküle, solange diese sich in der ›unteren Atmosphäre‹ befinden. Immerhin dauere es fünf Jahre, bis sie in die Stratosphäre aufstiegen, wo sie, glaubt man, unschädlich seien. Kurz: Innovative Messgeräte und Messungen sowie die Erkenntnis eines Gefahrenpotenzials werden an Denkroutinen gekoppelt und ›normalisiert‹:17 – solange, bis eine untergründig wirksame Beunruhigung zum Anlass wird für die Überprüfung scheinbarer Gewissheiten.


Der Verdacht, dass sich hinter Lovelocks Messungen etwas verbirgt, dessen Konsequenzen nicht überschaubar sind, bringt den Chemiker Sherwood Rowland (1927–2012) dazu, gemeinsam mit seinem Kollegen Mario J. Molina im Labor zu simulieren, wie sich die FCKW-Mixtur im Frost der Antarktis verhält, wenn die Sonne aufgeht. Aus dem Verdacht wird die Gewissheit einer unbeherrschbaren Bedrohung. Rowland und Molina finden heraus, dass sich im tiefen Frost der oberen Atmosphäre bisher unbekannte, spezifische chemische Prozesse vollziehen: Die UV-Strahlen lösen das Chlor aus den FCKW-Molekülen, und diese Chloratome zerstören die ebenso knappen wie kostbaren Ozon-Moleküle. 1974 stellen die beiden Chemiker in Science fest: Die FCKW-Moleküle schwächen die Ozonschicht so, dass dadurch nicht nur die Zunahme von Hautkrebs ausgelöst werde, sondern dass auch das Temperaturprofil der Stratosphäre ›umgedreht‹ und das Klima insgesamt massiv beeinträchtigt werden könne. 


Rowland bringt das Geschehen auf eine prägnante Formel, in der die Alltagsroutinen und ihr krisenhafter Zusammenbruch zu einer Ausdrucksgestalt zusammenwachsen. Als er nach Hause kommt und seine Frau ihn fragt, wie er mit der Arbeit vorankomme, sagt er: »Die Arbeit geht gut voran, aber es sieht nach dem Ende der Welt aus.«18

Die Krise ist da! Aber sie verschwindet zunächst in Normalisierungsprozessen. Man verweist darauf, dass seit 1957 kontinuierlich Ozonmessungen durchgeführt werden, die durchgehend stabile Werte zeigen. Diese Stabilitätssuggestion ist so stark, dass der Atmosphärenchemiker Joe Farman (1930–2013), der über der britischen Antarktis-Station Halley Bay die Ozonwerte misst, zunächst seinen eigenen Messungen nicht traut: Als er misst, dass die Dobson-Einheiten-Ozon, die 1955 bei 350 lagen, 1975 nur noch 280 betrugen und 1979 weiter gesunken sind, glaubt er, sein Spektral-Photometer sei falsch geeicht und liefere ›bizarre Werte‹. Das neu georderte misst jedoch noch weniger Ozon. – Unabhängig von Farman misst der Japaner Sui Chubachi 1982 am Südpol wiederum geringere Ozonwerte – und ist ebenso verunsichert wie Farman. 


Beide schrecken zunächst vor der Veröffentlichung ihrer Daten zurück, würden sie doch die NASA herausfordern, deren Satellit Nimbus 7 mit äußerst sensiblen Sensoren seit 1978 den Globus umkreist und nichts Außergewöhnliches über der Antarktis gemessen hat. Zudem ist noch nicht vergessen, dass man Rowland und Molina nach ihrem Science-Artikel zunächst als KGB-Spitzel diffamiert hatte. Kostbare Zeit vergeht. Endlich – 1984 (!) – entschließen sich Farman und seine Kollegen ihre Daten zu veröffentlichen. Die Nature-Gutachter stehen vor der Wahl: Sollen sie diesen Artikel, einen ›Frontalangriff auf die Lehrmeinung‹ (Wiedlich), überhaupt veröffentlichen? Andererseits, gesetzt den Fall, die Autoren hätten gegen den ›Mainstream‹ recht, wie stünde eine wissenschaftliche Fachzeitschrift da, wenn sie sich neuen Erkenntnissen verschlösse? Das wissenschaftliche Ethos der Gutachter siegt. Sie beherzigen die Falsifikationsmaxime. Damit wird in dem sich bisher kollektiv-habituell vollziehenden Zyklus von Routine, Krise, Innovation und Normalisierung zum ersten Mal ein reflexives Moment erkennbar – vertreten durch eine wissenschaftliche Haltung, die sich vom Alltagsdenken bewusst absetzt.


Die NASA-Forscher reagieren sofort. Sie lassen ihre Messdaten überprüfen und stellen fest, dass die Software des Satelliten ›normalistisch‹ programmiert war: Extremwerte wurden automatisch als unwahrscheinlich deklariert und eliminiert. 1985 erkennt die NASA Farmans Messungen öffentlich an. Seit dieser NASA-Erklärung und ihrer medialen Verbreitung gilt 1985 auch als das ›Jahr der Entdeckung‹ jenes ›Ozonlochs‹, das Rowland und Molina schon 1974 diagnostiziert, das Farman und Chubachi 1979 und 1982 nachgewiesen hatten und das sich seitdem weiter dramatisch vergrößerte. 


Immerhin sitzt nun der Schrecken über die Bedrohung tief. Es wird etwas erkennbar, dass zu Recht den Namen ›internationale Gemeinschaft‹ beanspruchen kann: Bereits 1987 reagiert die internationale Politik auf die Krise mit dem Montreal-Abkommen: dem Verbot der FCKW. Mit der Verrechtlichung der Verbote setzt die – oft auch heilsame – Herrschaft der Routinen wieder ein. Hier dient sie der Ersetzung disfunktionaler durch – bis auf Weiteres – adäquate Routinen.


Der politischen Reaktion folgt – für die wissenschaftlichen Entdecker des Ozonlochs mit einiger Verspätung 1995 – jene rituelle Routine der Anerkennung, mit der die Ankunft von Neuerern in der Konsenswelt der ›scientific community‹ signalisiert wird: Zusammen mit Paul Crutzen, der mit seinem Formelwerk die neuen Erkenntnisse zu den Kettenreaktionen des Ozonlochs zusammenfasst, erhalten Rowland und Molino den Nobelpreis für Chemie.


Am Beispiel der – verdichteten – Beschreibung dieses zunächst verhinderten ›Endes der Welt‹ wird die zyklisch generative Struktur eines als ›naturwüchsig‹ erscheinenden, kollektiv habituell erzeugten Problemlösungsmuster erkennbar. In der Abfolge von Routine, Krise, Innovation erneuter ›Norma­lisierung‹ durch Routinen, denen wiederum Krisen, Innovationen und Routinisierungen folgen, hält sich der Zyklus – scheinbar unaufhaltsam selbstgesteuert – in Gang: als eine der die Menschheitsgeschichte treibenden Kräfte.


Insofern steht die strukturierte Beschreibung dieses Fallbeispiels für (1) die Rekonstruktion einer historisch konkreten Problemkonstellation und der von ihr ausgelösten Reaktionsmuster; (2) für die analytische Darstellung der darin erkennbaren, internen Strukturen kollektiv habituell verankerter Problem­lösungsprozesse; (3) für den Versuch, die krisenhaft verfasste anthropologisch – 
durch Endlichkeit, ›exzentrische Positionalität‹ und ›Stehen im Nirgendwo‹ (Plessner) – bestimmte Grundkonstellation, nachzuzeichnen: eine Grundkonstellation, in der die durch sie erzeugte und hintergründig immer wachgehaltene ›Angst vor dem Zusammenbruch des Mundanen‹ (Schütz) die immerwährende Arbeit sowohl an der Entstehung als auch an der Zerstörung sozialer Ordnung durch Krisen und Krisenbewältigung auslöst. 


Allerdings enthält das Fallbeispiel auch einen Hinweis auf jene – ebenfalls in der krisenhaft verfassten, anthropologischen Grundkonstellation angelegten – 
menschlichen Optionen, durch die der Zyklus des kollektiv habituellen Problemlösungsmusters durchbrochen werden kann: auf die Imagination und das Denken im Kontrafaktischen. Für diese bewusste Ablösung des Denkens, des Entwerfens und der Fantasie von dem ›selbstverständlich‹ für wirklich Gehaltenen, stehen Wissenschaft und Kunst, genauer: wissenschaftliche und künstlerische Haltung. Erstere setzt auf den systematisierten und methodisierten Zweifel, letztere auf das, was der Möglichkeitsraum der Imagination erschließen könnte. 


Zur wissenschaftlichen Haltung, so wie sie sich in der ›okzidentalen Wissenschaft‹ (Max Weber) entwickelt hat, zählt das ›Falsifikationsgebot‹. Es ist eine Maxime, die nicht lediglich darauf abzielt, Wissensroutinen einem grundlegenden Zweifel zu unterziehen. Letztlich dient sie der systematischen Erzeugung von Ungewissheit und damit von Krisen des Wissens. Dadurch initiiert sie in den Wissenschaften einen unendlichen Prozess. Dieser besteht sowohl in der beständigen Suche nach dem Unwahrscheinlichen – Neuen – als auch in dem Entwurf von ebenfalls unwahrscheinlichen, kaum denkbaren Folgen des Neuen und der mit ihnen verbundenen Krisen. 


Ein solches wissenschaftliches Konzept setzt sich systematisch ab von dem – ebenfalls kollektiv-habituell verankerten – Denkschema: Problem/Lösung. Diese Denkroutine, das zeigt das Fallbeispiel, steht für ein sowohl normalistisch als auch technizistisch verkürztes Wissenschaftsverständnis. Es basiert, wie die sich solchem ›Solutionismus‹ verschreibende ›transformative Wissenschaft‹,19 sowohl auf einer lediglich historisch situativen Einschätzung des Möglichkeitshorizontes als auch auf jenem naiven Zeitverständnis, das die Zukunft auf ›Pfadkenntnisse‹ und ›Pfadabhängigkeiten‹ reduziert. 


Dem (Alb)Traum (Auguste Comtes) von der Beherrschung und letztlich Schließung der Zukunft durch Planung hatte bereits das ausgehende 19. Jahrhundert abgeschworen. Dass er nun erneut geträumt und an das normalistische Konsensmodell ›zivilgesellschaftlicher‹ Selbstorganisation angeschlossen werden soll, verweist auf die Angst vor der Komplexität und ›neuen Unübersichtlichkeit‹ (Jürgen Habermas) moderner pluralistischer Gesellschaften: Man ahnt die Krise und passt sie in den Zyklus von Krise, Problem, Lösung, Normalisierung, etc. ein. Dieser Solutionismus löst keine Probleme. Er ist das Problem – 
und äußerst riskant, weil er – durch den Verzicht auf das Denken in Optionen und Unwahrscheinlichkeiten – das Risikopotenzial seiner eindimensionalen Denkroutine fahrlässig ausklammert.20

Auf eben diese instrumentelle Verkürzung wissenschaftlichen Denkens reagiert die Falsifikationsmaxime. Sie wurde entwickelt, weil sie der Schließung die Öffnung des Denkens gegenüberstellt. An ihr lässt sich erkennen, dass nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften als genuin historische ›Kulturwissenschaften‹, sondern auch die Naturwissenschaften letztlich einem ›hermeneutischen Imperativ‹ verpflichtet sind: der Suche nach der unwahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Lesart bei der Interpretation natur- und kulturwissenschaftlicher Phänomene. 


Weil sich beide – die wissenschaftliche ebenso wie die künstlerische Haltung – dezidiert vom ›Denken wie üblich‹, Denkroutinen und Normalisierungen, absetzen müssen, verlangen sie nach einem Rahmen, einer lebensfähigen Enklave, die eine eigene Welt innerhalb der Welt des Alltags etabliert und mit dieser dennoch verbunden bleibt.


3. Von der anthropologisch fundierten Unsicherheit 
zur hermeneutischen systematisierten Unsicherheit21

Kants Einsicht, dass die Sinne (wie auch die ›reine Vernunft‹) sich nicht irren können, beruht auf einer sowohl biologischen als auch humanethologischen Einsicht. Irrtümer und Fehlschlüsse sind, so Kant, nicht den Sinnen, sondern der ›Übersetzung‹ von Sinneswahrnehmungen in Verstandes- und Vernunft­begriffe zu ›verdanken‹,22 also jener sprachlichen Vermittlung (und Verzerrung) des sinnlich Unmittelbaren, die Nietzsche später einer radikalen Sprachkritik unterziehen wird.23

Wir teilen dementsprechend mit der Tierwelt strukturell das Zusammenspiel von sinnlicher Ausstattung und Synästhesie. Aber anders als unsere tierischen Vorläufer und Vettern – so Plessner – beruhigt sich der Mensch nicht »bei dem puren Faktum seiner sinnlichen Organisation, er sieht etwas darin, einen Sinn – und wenn er ihn nicht findet, gibt er ihm einen und macht etwas daraus«.24 Wie für die sinnliche Organisation als ganze gilt dies auch für die jeweils einzelnen Sinne: Auch in ihrer Existenz sehen wir einen Sinn und machen etwas daraus, beispielhaft in Goethes ›Sinn‹-Spruch: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nicht erblicken«, aber auch, indem wir uns – früher als Jäger, Sammler und Handwerker – auf einzelne Sinne spezia­lisieren oder einzelne Sinneswahrnehmungen hervorheben und zunehmend instrumentell unterstützen durch ›Organverlängerungen‹ wie Brille, Mikroskop, Fernrohr oder Mikrofon, Lautsprecher, Klangkörper etc.


Vor allem die Künste werden zu Experimentierfeldern der Wahrnehmung – 
für die Spezialisierung der Sinne wie in Malerei, Fotografie, Musik – und ebenso für die bewusste Anleitung zur Synästhesie in Gesamtkunstwerken: für Sinneskompositionen aus Bildern, Musik, Bewegung, Weihrauchgeruch, Sprache etc. wie in der Heiligen Messe, aber auch im Theater, in der Oper oder in Medienkompilationen bei modernen Massenevents. Auf den ersten Blick lassen sich in solchen ästhetischen Experimentierfeldern zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen erkennen: die Spezialisierung der Sinne einerseits und die Aggregierung der Sinneswahrnehmungen andererseits.


Bei sorgfältiger Betrachtung erweist sich jedoch, dass beide Bewegungen aufeinander bezogen sind, genauer: aufeinander ausgerichtet sein müssen, damit aus der gezielten Spezialisierung der Sinne keine Diskrepanz der Sinneswahrnehmungen wird. Denn was die ›Kooperation der Sinne‹ in unserem relativ natürlichen Umgang mit uns selbst und unserer (Um-)Welt synästhetisch immer schon zu einem Gesamteindruck verarbeitet, wird in den ästhetischen Experimentierfeldern ja gerade aufgebrochen und als zwar strukturell gegebene, aber verborgene Divergenz der Sinneswahrnehmungen aufgedeckt. In der Anthropologie der Sinne ebenso wie in der ästhetischen Praxis zeigt sich somit, dass jeder Mensch über seine Sinne sein eigenes Primärmedium ist, das er sich zugänglich machen muss und dem er seine Selbst- und Weltwahrnehmungen verdankt.


Wenn es aber stimmt, dass alle Sinne zusammen Vielfalt und Divergenz ›heranbringen‹ (»so viele Seiten, so viele Sinne. Aber auch: so viele Sinne, so viele Seiten«, s. o.), dann ist die Einheit der Sinne nicht selbstverständlich gegeben, sondern die Einheitsstiftung das Problem, das im Akt der Ästhetisierung gelöst werden muss. Es ist ein Akt, der das gleichzeitige Erleben von Divergenz ­einerseits und die Verschmelzung der Sinneswahrnehmungen andererseits zum Ziel hat. Dieser Akt muss von einem Wesen geleistet werden, das den ­anthropologischen Grundgesetzen der »natürlichen Künstlichkeit« und der »vermittelten Unmittelbarkeit«25ausgeliefert ist, das also nicht nur lebt und ­erlebt, sondern auch sein Erleben erlebt,26 das nicht nur etwas wahrnimmt, sondern auch wahrnimmt, dass und wie es etwas wahrnimmt: das von sich aus keine Einheit ist, sondern ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, das also weiß, dass wir alle »Fragmente sind, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unserer selbst«.27

Es gibt gute Gründe – die Künste und die Philosophie haben sie von jeher aufgegriffen –, das Fragmentarische der menschlichen ›Natur‹ und das Leben in Divergenzen vorwiegend als Leid und als »Sein zum Tode« (Martin Heidegger) aufzufassen. Aber menschliche Imaginationsfähigkeit und Fantasie haben – ebenfalls von jeher – dieser ›Negation‹ eine ›Position‹ entgegenzustellen versucht. 


In seinem Drama Die Räuber lässt Friedrich Schiller (1759–1805) seinen Helden Karl Moor nicht nur diese beiden alternativen Sinnzuschreibungen für menschliches Leben einander gegenüberstellen, sondern nennt auch die Bedingung, den Möglichkeitshorizont, dafür, dass beide extensiv wahrgenommen werden können: Muße. Karl Moor beantwortet die eigene Frage, was denn wäre, wenn er nur die »ewige Wüste« zur Zukunft hätte: »Ich würde dann die schweigende Öde mit meinen Phantasien bevölkern und hätte die Ewigkeit zur Muße, das verworrene Bild des Elends zu zergliedern.«28

Schiller komponiert hier in beeindruckender Verdichtung jene zentralen Elemente, die, um mit dem von ihm bewunderten Kant zu sprechen, die ›Bedingung der Möglichkeit‹ von Muße ausmachen: Ausgangspunkt ist die bedrohliche, schweigende Sinn-lose Öde, eine Wüste. Allerdings wird die diffuse, im Prinzip grenzenlose, räumliche Ausdehnung, die sich mit dem Ausdruck ›Wüste‹ assoziiert, gekoppelt an die Ewigkeit – einen unendlich ausgedehnten, zeitlichen Stillstand. Die semantische Paradoxie, das Raumlose mit Kategorien des Raumes und das Zeitlose mit Zeitkategorien ausdrücken zu müssen, charakterisiert zwar ohnehin die anthropologischen Eigenheiten, Zwänge und Ambivalenzen eines endlichen Wesens, das über seine eigene Lebenszeit hinaus denken und imaginieren kann – bis hin zu einem Entwurf von Unendlichkeit und Ewigkeit. Aber dieser erhebt sich zusätzlich noch dezidiert gegen die empirische Bestimmung des Entwerfenden, endlich sein zu müssen.


Dass Schiller seinen Entwurf mit einer innerweltlichen, zeitlich und räumlich eingeklammerten Erscheinung, der Muße, zusammenschließt, verweist auf die außergewöhnliche Zwischenstellung dieser Erscheinung im mensch­lichen Leben – auf einen Zwischenraum, eine Zwischenzeit und ein Inter­ludium zwischen dem ›verworrenen Bild des [alltäglichen H.-G. S.] Elends‹ und dem völlig Außeralltäglichen, aber auch zwischen alltäglichem Handlungszwang und einem Nirwana jenseits aller Aktivitäten. Für Karl Moor eröffnet dieses Interludium die Denk-, Assoziations- und Empfindungsräume oder -zeiten für Phantasien, deren Geschöpfe die Leere bevölkern. Dieses Phantasieren steht zwischen Tat und bloßem Entwurf. Es ist eine Tätigkeit vor der Tat, eine Bewegung in der Schwebe eines außeralltäglichen Zwischenreiches.


Muße zu genießen war bekanntlich, in der Antike ein Privileg der freien Bürger, des Patriziats und der Aristokratie. Dagegen stand die Arbeit als Sig­num der Sklaven. Sie bewirtschafteten auch Tusculum – Ciceros Rückzugs- und Mußeraum. Jenseits dieses sozialen Distraktionsinstruments war für die freien griechischen Bürger jedoch, anders als häufig behauptet, nicht Arbeit, sondern Praxis – politisches, militärisches und wirtschaftliches Handeln – das Gegenteil von Muße. Allerdings sahen sie eine besondere Beziehung zwischen gelingender Praxis und Muße. So galt für Aristoteles Muße als Voraussetzung für erfolgreiches staatspolitisches Handeln: Die von der Praxis zeitlich und räumlich bewusst abgesetzte, aber dennoch auf sie hin orientierte Sphäre der Muße diente dem Entwurf optionaler Szenarien und Strategien vor dem Handeln. Handlungs- und Entscheidungsentlastung dieser besonderen Sphäre werden zum Garanten nachfolgender, effektiver Praxis. Dass auch die Philosophie in ähnlicher Weise der Muße bedarf, versteht sich von selbst. Es sei denn, sie bestünde nur noch darin, eine ›Inkompetenzkompensationskompetenz‹ (Odo Marquard) zu vermitteln.


An diesem Wechselverhältnis von Muße und Praxis wird deutlich, dass die übliche naive Gegenüberstellung von ›otium‹ und ›negotium‹ zumindest missverständlich ist: Will ein Politiker erfolgreich handeln, so Aristoteles, hat er die Pflicht zur Muße. Dieses Politikverständnis hat nichts zu tun mit der – einer kurzatmigen und oft müßigen ökonomischen Spekulation entliehenen – Wahlen- und Warenterminpolitik, wie wir sie gegenwärtig erleben. Für diese Politik sind einander jagende und widersprechende, für jene das abgewogene, auf Überzeugungskraft und Dauer angelegte Argument charakteristisch, ein Argument, dessen Gehalt der Staatsbürger – ebenfalls in Muße – überprüfen kann.


Dass sich Muße nicht von allein einstellt, sondern auf einem besonderen Arrangement beruht, das seinerseits bewusst hergestellt werden muss, wird an den genannten Beispielen deutlich. Anders ausgedrückt: Muße bedient sich ­einer spezifischen ›Rahmung‹. So zeigt Erving Goffman (1922–1982) in seiner ›Rahmen-Analyse‹,29 dass wir ›soziale Situationen‹, um sie in ihrer jeweiligen Eigenart erkennen und von anderen sozialen Situationen unterscheiden zu können, mit ›Rahmen‹ umgeben. Mit solchen Rahmungshandlungen zeigen sich die Interaktionspartner an einer Interaktion wechselseitig an, wie sie die spezifische soziale Situation, in der sie sich befinden, ›definieren‹, welche Interaktionsregeln in ihr gelten und welchen ›Realitätsakzent‹ (Alfred Schütz) sie ihr verleihen. Gemeinsames Musizieren, das Familienfrühstück, Schlange-Stehen, die ›Wandlung‹ in der Heiligen Messe, die Tagesschau oder das Ablegen eines Amtseides – welche Szene auch immer wir für unser inneres Auge bebildern, jedes Mal erkennen wir, welches Handlungsrepertoire mit der jeweiligen sozia­len Situation verbunden ist und welche Rahmungshandlungen wir ausführen müssen, um in diese Situation ›eintreten‹ zu können.


Auch das Genießen der Muße, die ›Herstellung‹ ihrer Räume und Zeiten, folgt einem sozialen Reglement, das sich an Giovanni Boccaccios (1313–1375) Decamerone exemplarisch nachzeichnen lässt.30 Die Voraussetzung dafür, dass sich sieben Damen und drei Herren an zehn Tagen in Muße hundert Novellen erzählen können, ist der räumliche und zeitliche Rahmen, den sie sich zuvor schaffen müssen. Diese Rahmengebung verdankt sich Not und Bedrohung: einer Krise. In Florenz wütet die Pest (1348). Neben der realen Gefahr, die von ihr ausgeht, ist die Pest Sinnbild einer chaotischen Welt und eines unbeherrschbaren Schicksals. Vor dieser Gefahr auf ein Landgut außerhalb von Florenz zu fliehen, ist eine mehr als verständliche, eine zwingende Reaktion. Man begibt sich in eine räumliche Enklave, das Landgut, und damit verbunden in eine ›Eigenzeit‹: zehn Tage, von denen jeder einem festen Tagesablauf 
folgt.


Dieses Ensemble von Rahmungshandlungen ist darauf ausgerichtet, jene heitere und offene Stimmung zu schaffen, innerhalb derer die widersprüch­lichen Themen und Erzählgattungen nebeneinander existieren können: Schwank, Posse, Romanze und Drama; Erotik, Religion, Betrug, Schicksalsschläge, Intrige, Liebe, Freundschaft etc. Damit führt Boccaccio in seinem Decamerone paradigmatisch vor, was – immer schon – räumlich und zeitlich strukturell als Rahmen hergestellt und eingehalten werden muss, damit die Muße zu ihrem Recht kommt: einerseits die Abwendung von der Unruhe des Alltags, von seinen Zielvorgaben und dem daraus folgenden Handlungs- und Entscheidungszwang sowie andererseits die Hinwendung zu einer außeralltäglichen Öffnung der Zeit- und Raumgestaltung und der damit verbundenen Entkoppelung der Wahrnehmung von vorgegebener Zielorientierung.


So verschieden die jeweiligen Mußearrangements auch ausfallen, sie alle haben dennoch drei Merkmale gemeinsam: (1) alle Mußereglements zielen auf die Schaffung eigengesetzlicher kleiner ›Welten in der Welt‹ (Gert Melville). Darin stellen sie (2) erlebte gegen gemessene Zeit, indem sie versuchen, die Normal- und Standardzeit der Arbeits- und Alltagsabläufe anzuhalten und eine ­eigene ›Logik‹ gegen die ›Chronologik‹ zu setzen. (3) Öffnen die Mußeräume und -zeiten menschliche Wahrnehmung und Empfindung für das Zusammenspiel aller Sinne: Muße schafft die Chance für erlebbare, ›befreite‹ Synästhesie. Individuen, die sich erkennbar diesem Erleben aussetzen, signalisieren zugleich ihrer Umwelt: »Jemanden, der schweigt, soll man nicht unterbrechen.«31

Damit erzeugt die räumlich und zeitlich gegenalltägliche Rahmung des Mußearrangements jenen Gegensatz zur Standard- und Alltagsrealität, von dem die Muße lebt. Die gezielte Abwendung von einer Welt, in der wir uns einerseits in »Dreiviertel unserer Handlungen wie Automaten«32 bewegen und die andererseits auch eine Welt, der interessegeleiteten eindimensionalen, zum Handlungs- und Entscheidungszwang verurteilten Perspektivik ist, führt zur Entstehung produktiver Paradoxien: Schon die Rahmungsaktivität ist eine zielgerichtete Tätigkeit zur Herstellung von Zweckfreiheit, dem Spielraum für frei schwebende Interessen. Dadurch soll das Gegenteil von ›Arbeit als Mühe‹ möglich werden – das Paradox der ›lustvollen Arbeit‹, einer Arbeit, die nicht an einem Zweck außerhalb ihrer selbst orientiert ist, also weder an der Existenz­sicherung noch am Entgelt oder Arbeitsvertrag. Den »wissenschaftlichen Menschen« der für sich genommen schon ein »Paradoxon« darstelle, charakterisiert Nietzsche genau in unserem Zusammenhang so: Er »benimmt sich wie der stolzeste Müßiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantierter Besitz«.33

Auch die Rahmung und Erzeugung des Mußeraumes setzt auf eine paradoxe Wechselwirkung: Die Absonderung und Abschließung der Mußeräume von denen des alltäglichen Geschäfts zielt auf die Öffnung eines Raumes der Imagination jenseits messbarer Dreidimensionalität. Ähnliches gilt für die im Erleben ruhende, nicht messbare Mußezeit. Sie wird mit ihrer eigenen variablen Ausdehnung nicht nur dem alltäglichen Standardzeitablauf entgegengestellt, sondern sie produziert auch durch ihre Rahmung und den damit geschaffenen Enklavestatus der Mußezeit das Paradox einer befristeten Zeitlosigkeit. Es ist eine Zeitlosigkeit, so wiederum Nietzsche über den Künstler, in der man sich als »Nachtwandler des Tages« bewegt und in der man träumen kann, ohne vorher einschlafen zu müssen.34

Somit schafft die Rahmung trotz ihrer exkludierenden Funktion und des exklusiven Charakters der Muße zwar einerseits das, was Edmund Husserl (1859–1935) aus phänomenologischer Sicht als ›Epoché‹ bezeichnet hat: die Ausklammerung von ›Außenwelteinflüssen‹. Aber die Mußeenklave geht darin nicht auf. Sie erzeugt nicht zielgerichtete Aufmerksamkeit, sondern – metaphorisch gesprochen – einerseits einen nach außen abgeschlossenen Bildrahmen, innerhalb dessen sich andererseits aber eine Projektionsfläche öffnet, auf der potenziell alles ausgemalt werden kann. Sich in einem solchen, alle Sinne beanspruchenden Optionsraum zu bewegen, heißt, sich in jene außeralltägliche Grundstimmung hinein zu begeben, die den Vorschein eines ebenso exquisiten wie unwahrscheinlichen Lebens im ›Reich der Freiheit‹ erahnen lässt.


In einem Reich der Freiheit – dem Reich des Imaginierens, Entwerfens und ›frei schwebenden‹ Denkens – herrscht der »kategorische Konjunktiv«.35 Er ist das oft übersehene Bindeglied zwischen der wissenschaftlichen und der künstlerischen Haltung. Helmuth Plessner charakterisiert ihn so: 



Unsere Sprache […] unterscheidet zwei Formen von Möglichkeiten, das ›kann‹ und das ›könnte‹. Während der Indikativ zur Feststellung des Wirk­lichen und des Möglichen dient, schafft der Konjunktiv einen Spielraum innerhalb des Mög­lichen. Das Unmögliche drückt sich wieder indikativisch aus.36

Das wissenschaftliche Denken transformiert den ›kategorischen Konjunktiv‹ in einem hermeneutischen Imperativ (s. o.). Indem Hans-Georg Gadamer (1900–2002) den »universalen Aspekt« der Hermeneutik betont und sie als ›Möglichkeitswissenschaft‹ kennzeichnet,37 verweist er auf das Grundprinzip hermeneutischen Denkens: auf die darin wirksame Einheit von Spiel, Dialog und auch Polylog: auf das komparative Aushalten ›unterschiedlicher Logiken‹ (Max Weber), widersprüchlicher Wahrnehmungen, konkurrierender Optio­nen und Szenarien. Mit dieser gewollten, methodisch-systematisch erzeugten Ungewissheit geben wir uns die Freiheit, die uns in der conditio humana auferlegte, für uns unverfügbare Ungewissheit und Krisenhaftigkeit unserer Existenz aufzuheben in der innerweltlich realisierten Utopie des Lebens im Möglichkeitsraum immer neuer Sinnentwürfe, die sich – noch einmal (Max Weber) – gegenüber der ›sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens‹ behaupten können.


Dass Hermes – der Gott des Findens, Erfindens, Auslegens und Erklärens – 
als mythologischer Schutzpatron der Hermeneutik fungiert, versteht sich beinahe von selbst. Aber dieser Gott, Sohn des Zeus und der Nymphe Maia, ist mehr als nur ein Schutzpatron von Altphilologen, Philosophen, Textgelehrten und Interpretationsvirtuosen. Hermes, wörtlich: ›der vom Steinhaufen‹, dementsprechend von Wanderern in Steinhaufen am Wegesrand verehrt, verfügt über mehr Talente, als der Alltagsverstand sich erträumen könnte: Für die Griechen war er der Gott: des Handels, der Diebe und des ›glücklichen Fundes‹ (den man behalten konnte). Er war sowohl der Gott der Musik – er erfand die Lyra und war ein Meister des improvisierten Singens – als auch des Wettkampfes. Er beschützte die Hirten und Reisenden, förderte die Rhetoren, konnte weissagen, behütete Wachheit und Träume. Er war nicht nur der Bote der Götter, sondern auch den Menschen ein Seelenbegleiter auf ihren Weg in den Hades. 


Anders gesagt: Er verbindet den Olymp mit der Welt der Menschen. Er ist ein Meister der vielfältigen Optionen, offenkundig sowohl inter- als auch transdisziplinär tätig und ein versierter Interaktionskünstler, der das gesamte so­ziale Rollenrepertoire beherrscht. Denn wer schon als Kind dem Apollon eine Rinderherde stehlen kann, trotz des Diebstahls den bestohlenen Gott durch den Tausch von Musikinstrumenten vom Gegner zum Freund werden lässt, muss ein besonderes Verhältnis zum Möglichen haben und dadurch auch dem Göttervater auffallen. 


Als Zeus von den vielen – auch zweifelhaften – Talenten seines Sohnes hört, sagt er zu ihm: »Du scheinst ein sehr einfallsreicher, beredter und überzeugender kleiner Gott zu sein.«Zugleich ermahnt er ihn, nicht mehr zu täuschen und zu lügen. Hermes nutzt die Chance dieses Gesprächs und bittet seinen Vater, ihn zu seinem Boten zu machen: »Ich werde für die Sicherheit allen göttlichen Besitzes sorgen und niemals mehr lügen.« Allerdings fügt er – als entschiedener Vertreter des kategorischen Konjunktivs – hinzu: »Aber ich kann nicht versprechen, immer die gesamte Wahrheit zu sagen.«38

Solche Götter tun einer ›fröhlichen Wissenschaft‹ (Nietzsche) gut. Sie misstrauen ›absoluten‹ Wahrheiten und lehren uns stattdessen, die Welt immer neu zu sehen.


  1. 1Vortrag vom 13.10.2014 anlässlich der Vortragsreihe ›Innovation‹, veranstaltet von der Technischen Universität Dresden, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Forschungsstelle für Vergleichende Ordnungsgeschichte (FOVOG) an der Technischen Universität Dresden.
  2. 2William Shakespeare, Hamlet, III, 1.
  3. 3Zu der folgenden Argumentation vgl. Hans-Georg Soeffner, »Vergangenheit und Gegenwart der Zukunft«, in Stefan Böschen u. a. (Hg.), Klima von unten. Regionale Governance und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M. / New York 2014, S. 55–64.

  4. 4Comte übernimmt diesen Begriff von dem belgischen Statistiker Adolphe Quetelet (1796–1874).

  5. 5Siehe u. a. seine Werke Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in den industriellen Gesellschaft (1957) und Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen (1956).

  6. 6Jean de La Bruyère, Discours sur Théophraste, Paris 1688; Einleitung zu: ders., Les Charactères, ou les mœurs de ce siècle, Paris 1951, S. 11.

  7. 7Charles Baudelaire, Le peintre de la vie moderne, in ders., Œuvres complètes, Bd. 2, Paris 1973, S. 694.

  8. 8Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Art. »Modern, Modernität, Moderne«, in Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 110.

  9. 9Baudelaire, Le peintre de la vie moderne (Fn. 7).

  10. 10Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Zürich 1980, Bd. 2, S. 95.

  11. 11Vgl. Gumbrecht, Art. »Modern« (Fn. 8), S. 127.

  12. 12So André Breton (1896–1966) schon 1933 über verblassende Collagen Picassos.

  13. 13Johannes von Tepl, Der Ackermann aus Böhmen. Ein Streit- und Trostgespräch vom Tode [1401], Stuttgart 1967, S. 62.

  14. 14Die Anregung zu dieser Fallstudie verdanke ich: Wolfgang Wiedlich, »Der vergessene Patient«, in Bonner General-Anzeiger vom 15.9.2014, S. 8 f.

  15. 15Ebd., S. 8.
  16. 1615 Jahre später bereut er diesen Glauben als den größten Fehler seines Lebens.
  17. 17Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität hergestellt wird, Göttingen 2006.

  18. 18Zitiert nach Wiedlich, Der vergessene Patient (Fn. 14), S. 8.
  19. 19Vgl. etwa Uwe Schneidewind und Mandy Singer-Brodowski, Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem, Marburg 2013.

  20. 20Vgl. hierzu auch: Peter Strohschneider, »Zur Politik der transformativen Wissenschaft«, in André Brodocz u. a. (Hg.), Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer, Wiesbaden 2014, S. 175–192.

  21. 21Im Folgenden greife ich – sehr knapp – auf frühere Überlegungen zurück. Sie finden sich exemplarisch bei: Hans-Georg Soeffner, »Vom Sinn der Ästhetik – Funktionale Zweckfreiheit«, in ders., Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des ­Rituals, Weilerswist 2010, S. 209–224. Und: ders., »Muße – Absichtsvolle Absichtslosigkeit«, in Burkhard Hasebrink und Peter P. Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel, Berlin/Boston 2014, S. 34–53.

  22. 22Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1968, Bd. 8, § 57 ff. Ebenso verhält es sich mit den ›Sinnestäuschungen‹: Sie ergeben sich aus den Schlüssen, die man auf der Grundlage von Wahrnehmungen über das Wahrgenommene zieht.

  23. 23Vgl. Friedrich Nietzsche, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in ders., Werke in sechs Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1980, Bd. 5. Im Zusammenhang mit der Frage nach der ›richtigen Perzeption‹ (S. 317) schreibt Nietzsche (S. 314): »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen und geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind […]«.

  24. 24Helmuth Plessner, »Anthropologie der Sinne«, in ders., Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt a. M. 1970, S. 199.

  25. 25Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 309 ff.

  26. 26Ebd., S. 292.

  27. 27Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1992, S. 49.
  28. 28Friedrich Schiller, Die Räuber. Ein Schauspiel, in Schillers Werke, Bd. 1: Dramen I, hg. von Herbert Kraft, Frankfurt a. M. 1968, 4. Akt, 5. Szene, S. 105.

  29. 29Erving Goffman, Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1977.

  30. 30Vgl. dazu: Jan Söffner, Das Decamerone und sein Rahmen des Unlesbaren, Heidelberg 2005.

  31. 31Japanisches Sprichwort.
  32. 32Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Die Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 740.

  33. 33Friedrich Nietzsche, »David Strauss. Der Bekenner und Schriftsteller«, in ders., Werke (Fn.  23), Bd. 1, S. 174.
  34. 34Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, in ders., Werke (Fn. 23), Bd. 3, 2. Buch, 5a, S. 79.
  35. 35Helmuth Plessner, »Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft«, in ders., Conditio humana (Gesammelte Schriften, Bd. 8), Frankfurt a. M. 1982, S. 338–352.

  36. 36Ebd., S. 347.
  37. 37Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2 Bde., Tübingen 1960/1990/1995, insbes. Bd. 1, S. 478 ff.

  38. 38Alle Zitate aus: Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Bd. 1, Hamburg 1960, S. 54.
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Heft 17 (2017)
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