Zuwanderung und die Wohnungsfrage: Anmerkungen zu Standard, politischen Steuerungsinstrumenten und zur Rolle der Kommunen
Wie wird die Zuwanderung unsere Städte verändern, welchen Einfluss hat sie auf die ohnehin offene Wohnungsfrage und welche Herausforderungen stellen sich für Politiker, Architekten und Stadtplaner? Kurz: Wie schaffen wir das, wie kommen wir aus dem Krisenmodus der Erstunterbringung in eine geordnete Stadtentwicklung mit gesicherter Wohnraumversorgung? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Wie in anderen Politikfeldern, dem Arbeitsmarkt oder der demografischen Überalterung gibt es Chancen, aber auch enorme Risiken des Scheiterns und der Fehlentwicklung, bis hin zur Gettoisierung oder der Neuauflage eines Bauwirtschaftsfunktionalismus.
Nach Prognosen des für den Wohnungsbau und die Städtebauförderung zuständigen Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) werden mindestens 350.000 neue Wohnungen pro Jahr benötigt. Das sind etwa 100.000 Wohnungen mehr als derzeit pro Jahr in Deutschland fertiggestellt werden. Als ein erster Anreiz wurde die Förderung des sozialen Wohnungsbaus für den Zeitraum bis 2019 von bislang 2 Mrd. Euro auf 4 Mrd. Euro angehoben. Ein weiterer, wesentlicher Punkt, der vom BMUB zur kurzfristigen Lösung des Wohnungsmangels eingebracht wurde, ist ein Förderprogramm für den Bau und die Nutzung kleiner modularer Wohneinheiten, sogenannter ›Variowohnungen‹, das 2015 mit einem Volumen von 120 Mio. Euro aufgelegt wurde und noch ausgeweitet werden soll. Offenbar führen gleiche Problemlagen auch zu gleichen Antworten und nebenbei zu einer neuen Sicht auf die Nachkriegsmoderne, die in ähnlicher Situation auf dieselben Konstruktionsmethoden setzte. Auf Grund der aktuellen Lage können wir uns besser vergegenwärtigen, welche enormen Leistungen in dieser Zeit unter noch schwierigeren Bedingungen als heute zu leisten waren. Architekten können und sollten neue Typologien für die aktuelle Wohnungsfrage entwickeln und möglichst schnell modulare und pragmatische Vorschläge zur Reduzierung von Standards entwickeln, was auf Bundesebene ebenfalls diskutiert wird. Ob diese Vorschläge aufgegriffen werden, liegt an der Politik, ihren Förderprogrammen und besonders an den Banken, die diese kofinanzieren müssen. Die Wohnungsfrage bleibt daher, was sie immer war, eine politische.
Von der neoliberalen zur gerechten Stadt?
Ein Blick zurück in die jüngere Vergangenheit zeigt, dass mit dem Wohnungsmangel in den Großstädten und der neu gestellten Wohnungsfrage das marktliberale Modell der letzten beiden Dekaden in Teilen abgelöst wurde und es eine stärkere staatliche Steuerung hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit gibt. Unter dem Eindruck der Finanzmarktkrise wird in vielen Städten beispielsweise der Verkauf kommunaler Wohnungen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge ausgesetzt. Die Höchstgebotspraxis beim Verkauf kommunaler Grundstücke hat deutlich abgenommen und in vielen Großstädten werden mittlerweile die Eckpunkte des Münchner SoBoN Modells1 auf die Entwicklung neuer Flächen angewendet. Außerdem kommen Milieuschutzsatzung, Zweckentfremdungs- und Umwandlungsverbot in vielen Kommunen zum Einsatz. Mit dem Bestellerprinzip bei der Bezahlung von Maklern und mit der Mietpreisbremse hat der Bund ebenfalls Instrumente eingeführt, die in angespannten Wohnungsmärkten angewendet werden können, um ungezügelten Mietpreissteigerungen entgegenzuwirken. Im Krisenmodus der Flüchtlingsunterbringung berufen sich die Stadtstaaten sogar auf ihr Polizeirecht und haben sich eine juristische Option für die Beschlagnahmung leerstehender Gebäude geschaffen. Die Erfordernisse aus der Zuwanderung könnten diese Tendenz weiter stützen und langfristig zu einer noch stärker gesteuerten und gerechteren Stadtentwicklung führen. Es kann aber auch ganz anders kommen: Die marktliberalen Akteure könnten von der großen Nachfrage, den in Aussicht gestellten Fördermitteln und von den geplanten Standardsenkungen profitieren und ihr Modell der Gewinnmaximierung weiter ausbauen.
Bauland- und Immobilienspekulation verhindern
Das deutsche Steuerrecht begünstigt Leerstände und Brachflächen. Eigentümer können Verluste abschreiben, die ihnen z. B. durch die Grundsteuer entstehen. Das fördert Spekulation und behindert die Innenentwicklung. Exemplarisch zeigt das der Büroflächenleerstand in deutschen Großstädten, der gerade in angespannten Wohnungsmärkten besonders hoch ist. Allein in Frankfurt sind es 1,4 Mio. m2.2 Das entspricht dort rein rechnerisch einem Potenzial von ca. 20.000 Wohnungen3 in integrierten Lagen. Die Skelettbauweise der Bürobauten ist für eine einfache und preiswerte Umnutzung gut geeignet. Denkbar ist, Teile der Gebäude als Übergangsunterkunft zu nutzen, während die anderen Teile zeitgleich in dauerhaften und sozial gemischten Wohnraum transformiert werden. Um dies zu fördern und um der Spekulation entgegenzuwirken, müssen Verlustabschreibungen bei Leerstand zeitlich befristet und (Wohn-)Zwischennutzung gesetzlich erlaubt werden. Auch Bauland sollte mobilisiert und gegen den Willen der Eigentümer seinen Zwecken zugeführt werden können. In Österreich wurde dazu das Instrument der Vertragsraumordnung4 eingeführt, mit der Grundeigentümer zu einer widmungskonformen Bebauung innerhalb einer bestimmten Frist verpflichtet werden können. Auf diese Weise könnten sowohl Potenziale im baulichen Bestand (Leerstand) wie auch städtebauliche Reserven der inneren Stadt (Baulücken und Brachflächen) aktiviert werden, damit ein Wachstum an den Rändern erst gar nicht erforderlich wird.
Der Bund, so scheint es, geht hier als leuchtendes Beispiel voran und wirft Teile seiner Immobilien in die Waagschale. Zur weiteren Unterstützung des Sozialen Wohnungsbaus sowie der Flüchtlingsunterbringung hat der Haushaltsauschuss des Bundestages im November 2015 die verbilligte Abgabe von Konversionsflächen an Kommunen gewährt.5 Danach können Kommunen Konversionsflächen mit einem Abschlag von bis zu 80 % auf den Verkehrswert erwerben. Das ist immens. Allerdings ist das gesamte Programm auf vier Jahre und auf ein Maximalvolumen von 100 Mio. Euro begrenzt und steht unter Haushaltsvorbehalt. D. h. der Haushaltsausschuss muss die Richtlinie jährlich erneut bestätigen. Bedenkt man, dass der Bund über 35.000 ha Konversionsflächen verfügt, wirkt die Maßnahme doch recht bescheiden und es stellt sich die Frage, ob einer Politik der offenen Grenzen nicht auch eine Bereitstellung von Bundesimmobilien und -flächen ohne Obergrenzen folgen müsste. Zumindest die Grundstücke in städtebaulich integrierter Lage müssten vom Bund offenherziger zur Verfügung gestellt werden. Geschieht dies nicht, werden immer mehr Kommunen größere Flächen an den Stadträndern ausweisen müssen. Das gefährdet zum einen das Primat der Innenentwicklung und damit die Ziele der Klimapolitik6, zum anderen bergen randstädtische Siedlungen in nicht integrierten Lagen das negative Potenzial der Gettoisierung und die Gefahr des Scheiterns sozialer Integration und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Ein Grund, weshalb dies nicht erkannt wird, liegt an der Zuständigkeit. Die Liegenschaften des Bundes sind beim Finanzministerium angesiedelt und werden dort von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) verwaltet – mit der Maßgabe, nicht benötigte Immobilien meistbietend zu veräußern. Diese rein monetäre Bewertung der Liegenschaften müsste dringend durch einen strategischen Blick auf deren planerische Bedeutung in den Kommunen ergänzt werden. Am Beispiel des Berliner Dragoner Areals wird ein Umdenken bereits sichtbar.7 Idealerweise sollte die BImA beim BMUB angesiedelt werden, wo entsprechende Fachkenntnis vorhanden ist.
Neue Stadtviertel mit erschwinglichen Mieten bauen
Das sozial-räumliche Gefüge in unseren Städten hat sich umgestülpt. Nach mehreren Jahrzehnten der Suburbanisierung ist die Mittelschicht in die Großstädte zurückgekehrt und mit ihr die Spekulation. Gerade in den angespannten Wohnungsmärkten ist kostengünstiger Wohnungsbau in zentralen Lagen kaum mehr möglich. Der Bau von 350.000 Wohnungen pro Jahr auf innerstäd-tischen Flächen oder durch Nachverdichtung allein ist nicht realistisch, insbesondere wenn vergünstigte Konversionsflächen des Bundes nur limitiert zur Verfügung stehen. In der Summe deutet vieles auf die Entwicklung von neuen, größeren Quartieren auf kommunalen Flächen hin. Der Hamburger Senat hat beispielsweise im Oktober 2015 alle sieben Bezirke der Stadt zum Ausweis von 8 ha großen Flächen verpflichtet, um darauf Sozialwohnungen zu errichten, die bis Dezember 2016 bezugsfertig sein sollen. Auf jeder Fläche wird der Bau von ca. 800 Sozialwohnungen angestrebt, die zunächst in enger Belegung je 4.000 Flüchtlinge aufnehmen sollen. Die Sozialbindung ist auf 15 Jahre angelegt. Danach wird mit einem Rückgang der Bewohnerdichte auf ca. 2.000 Bewohner gerechnet.8 Auch Berlin hat ein ähnliches Vorhaben unter dem Schlagwort »Pionierwohnungsbau« angekündigt, bei dem Flüchtlinge die Pionierfunktion der Erstbesiedelung einnehmen sollen.910 Das bleibt nicht ohne Gegenreaktion. In Hamburg haben sich bereits mehrere Bürgerinitiativen gegründet, die im Zusammenschluss ein Volksbegehren planen.
Nicht nur deshalb gilt es, bei der Neuauflage von Quartieren in Stadtrandlage alte Fehler zu vermeiden. Vernetzung und Anschluss an den Siedlungskörper, wie auch eine hochwertige Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, müssen Voraussetzung sein. Die ideale Korngröße dieser Quartiere muss definiert werden. Sie sollten so klein wie möglich, aber so groß wie nötig sein, damit sich eine Mindestausstattung mit KiTa, Grundschule und Nahversorgung lohnt. Die Analyse von stadtteilspezifischen Altersgruppen kann einen Anhalt dafür geben, wie viele Wohnungen in welcher Stadt dafür erforder lich sind.
Die Quartiere sollten neue integrationsfördernde Bautypologien besitzen. Schule, KiTa und andere Bildungseinrichtungen sowie Räume zur Religionsausübung könnten beispielsweise in einem Integrationshaus in der Quartiersmitte aufgehen. Nutzungsmischung sollte ebenso selbstverständlich sein wie die Produktion von erneuerbaren Energien zur dezentralen Selbstversorgung. Manche Städte wie Freiburg wachsen seit längerem in größeren Baufeldern an den Rändern. Sicher sind das Rieselfeld und Vauban Mittelstandsmodelle, aber sie zeigen auch, dass der Erfolg von der Korngröße abhängt und von der Frage, wer investiert. Sind es viele kleine Baugruppen, die sich zur Zuwanderung bekennen und alternative Wohnmodelle ausprobieren wollen, sind Mischung, Integration und Identifizierung mit dem Stadtteil im Fundament bereits verankert, ohne dass der Staat dies großartig finanzieren müsste. In den Fokus rücken auch die Großwohnsiedlungen und ihre Flächenressourcen mit dem Potenzial zur Nachverdichtung.
Bestehende Großwohnsiedlungen urbanisieren
Erfolgreiche Ankunftsquartiere zeichnen sich durch preiswerten Wohnraum und Aneignungspotenzial aus, durch Stadt- und Gebäudestrukturen, die den Aufbau von Mikroökonomien ermöglichen. Vor der Phase der Reurbanisierung war diese »Zone in Transition« in erster Linie in den ehemaligen gründerzeitlichen Arbeitervierteln angesiedelt, die nach ihrer Gentrifizierung keinen kostengünstigen Wohnraum mehr bieten. Die neuen Ankunftsorte sind jetzt die monostrukturellen Großwohnsiedlungen der Spätmoderne, weil anerkannte Flüchtlinge zunächst nur dort freie und erschwingliche Wohnungen finden werden. Die Siedlungen müssen umgebaut und urbanisiert werden, ihre Strukturen bieten keine adäquaten Räume für Integration und Selbstorganisation. Insbesondere in den Erdgeschosszonen muss Raum für Aneignung, Begegnung und informelle Mikroökonomien geschaffen werden. Für die Großwohnsiedlungen ist das eine enorme Chance, denn ihre Flächenressourcen bieten auch das Potenzial zur Nachverdichtung mit ergänzenden Typologien und damit zur stärkeren sozialen Durchmischung. Gelingt dies nicht, sind auch die Aufstiegschancen der Neuankömmlinge minimiert. Es droht die Gefahr der Gettobildung und der weiteren Stigmatisierung der Siedlungen. Ein gelungenes Beispiel ist die Nachverdichtung der Hamburger Siedlung am Altenhagener Weg von Heidenreich & Springer. Urbanität durch Mischnutzung ist hier zwar weder geplant noch gewollt, aber die respektvolle Fortschreibung der Siedlung mit hochwertigem Wohnungsbau in modernem Raumbild dient der Stabilität des Quartiers und fördert die soziale Mischung.
Standards neu denken
Die überinstrumentalisierten Energieeinsparverordnungs- (ENEV) und Passivhäuser sind keine Antwort auf die Wohnungsfrage. Einen Beitrag zum Klimaschutz kann man auch durch reduzierte Wohnflächen oder durch eine Pufferzone leisten, die nur in wärmeren Jahreszeiten ein großzügiges Wohnzimmer bietet. Zudem bedürfen nicht alle Menschen derselben Standards, benötigen barrierefreie Wohnungen, haben dasselbe Lärmempfinden oder dieselben Heizgewohnheiten. Viele können auf einen Keller oder einen teuren Bodenbelag verzichten, aber immer mehr benötigen günstige Mieten. Nach Jane Jacobs gehören auch Gebäude verschiedenen Alters und Zustands zu den Voraussetzungen für die Mannigfaltigkeit eines Quartiers.11 Es ist also von Vorteil, wenn ein gewisser Anteil an Gebäuden in einem neuen Quartier mit geringeren Standards gebaut und ausgestattet werden, um über einen Mix an Mieten auch ein gemischtes Milieu zu gewährleisten. Auch das BMUB arbeitet an der Überprüfung von Baustandards und Normen, um das Bauen bezahlbarer zu machen, und hat im »Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen« im Juli 2015 eine Baukostensenkungskommission eingesetzt. Beispielhaft wird auf den Umgang mit dem Stellplatznachweis bei Bauantragsverfahren hingewiesen. In Hamburg und Berlin ist dieser wegen veränderten Mobilitätsverhaltens gänzlich abgeschafft, in Bremen wird für intelligente Mobilitätskonzepte eine Reduzierung der Stellplatzverpflichtung auf bis zu 20 % in Aussicht gestellt. Es ist sicher kein Zufall, dass es gerade die Stadtstaaten sind, die hier eine Vorreiterrolle spielen. Denn hier decken sich Landeskompetenz und kommunale Erfordernis.
Die Überprüfung unserer Überregulierung darf aber nicht zu einer Deregulierung und zu Substandards führen, mit dem Ziel, Wohnungen schnell und als möglichst billige Ware herzustellen. Vielmehr sollte im Vordergrund stehen, wie mit reduzierten Standards auch neue Spielräume für soziale Innovationen hervorgebracht werden können. Das Berliner Baugruppenprojekt in der Ritterstraße 50 (von ifau, Jesko Fezer und Heide & von Beckerath) zeigt, wie das gelingen kann: Hier gibt es ein ausgefachtes Betonskelett mit Sonnendeck auf dem Dach, einen Gemeinschaftsraum im Souterrain, der das Haus in der Nachbarschaft verankert, und eine platzsparende, innenliegende Treppe, die das Haus zusammenhält. Mehr braucht es nicht. Umlaufende, vorgehängte Balkone bilden eine ästhetische Klammer und sind Zeichen gebauter Gemeinschaft, denn die Bewohner haben sich bewusst für den Austausch und gegen den Bau von Balkontrennwänden entschieden. Auch André Kempe und Oliver Thill, zwei deutsche Architekten mit Büro in Rotterdam, drehen seit Jahren an der Standardschraube im Wohnungsbau. Sie sparen am ganzen Haus, nur um sich an einer Stelle richtig auszutoben, um sich beispielsweise eine schmucke Eingangstür, eine geschosshohe Verglasung oder einen Luftraum im beengten Reihenhaus leisten zu können.
Eine weitere Strategie, die in diese Richtung zielt, ist die des wachsenden Hauses. Der Berliner Stadtbaurat Martin Wagner hat diese Konzeption bereits in den 1930er Jahren im Rahmen eines großen Wettbewerbs erprobt. 24 Prototypen von Anbauhäusern, entworfen von den prominentesten Vertretern des Neuen Bauens, konnten danach in der Schau »Sonne, Luft und Haus für Alle« im Jahr 1932 in Berlin gezeigt werden. Es waren minimale Grundmodule, die durch Addition bedarfsgerecht wachsen konnten.12 Auch das Vorzeigeprojekt Quinta Monroy in Iquique (Chile) von Alejandro Aravena, dem Direktor der Architekturbiennale 2016 in Venedig, gehört in diese Kategorie. Mit der Projektreihe »Elemental« wurde Wohneigentum für die Ärmsten geschaffen, mit Baugrund, Infrastruktur und Rohbau. Anders als bei Wagner ist alles, was darüber hinaus benötigt wird, Sache der Bewohner. Sie bauten ihre Häuser selbst aus und erweiterten diese nach Bedarf im Rahmen des gegebenen Systems.
Einen neuen Bauwirtschaftsfunktionalismus verhindern
Die vom BMUB eingesetzte Kommission zur Baukostensenkung könnte mit ihren Vorschlägen nicht nur das Bauen günstiger machen, sie könnte auch neue Spielräume für Experimente sozialer Innovation schaffen. Andererseits könnte die Reduzierung von Standards einen neuen, wiederum staatlich geförderten Bauwirtschaftsfunktionalismus hervorbringen, der bessere Barackenbauten produziert. Besonders aufmerksam sind die großen börsennotierten Wohnungskonsortien zu beobachten, deren Geschäftsmodell schon heute aus einer einträglichen Kombination besteht. Sie bieten stark nachgefragte Sozialwohnungen bereits heute in Teilen mit fragwürdigen Substandards auf dem Wohnungsmarkt an und beziehen dafür sichere Transfermittel der Sozialämter. Es besteht die Gefahr, dass diese nichtgemeinnützigen Unternehmen ihr Geschäftsmodell auf den Neubau von Sozial- und Flüchtlingswohnungen ausdehnen werden.
Die Top-Down Verordnung von Baustandards, auch deren vereinheitlichte Reduzierung, ist daher eine Sackgasse. Wohnungsmärkte sind divers und regional sehr verschieden. Standards können daher besser von kommunalen Instanzen gesetzt und von diesen flexibel und ganzheitlich bewertet werden. Es gilt auf der einen Seite, den billigen Substandard windiger Investoren zu verhindern, und auf der anderen Seite, preiswerten Wohnraum mit spezifischen räumlichen Qualitäten zu ermöglichen. Dabei könnte eine organisierte Qualitätskontrolle helfen. Vergleichbar mit Gestaltungsbeiräten, die sich um eine Verbesserung der Baukultur bemühen, könnten unabhängige ›Kommunale-Standard-Räte‹ Bebauungskonzepte hinsichtlich ihres spezifischen Ansatzes für einen reduzierten, aber bedarfsgerechten Standard mit Blick auf soziale Innovation beurteilen.
Sonder-AfA als Instrument zur Förderung preiswerten Wohnraums?
Eine ungelöste Frage ist nach wie vor, wie der private Sektor stärker für den Wohnungsneubau aktiviert werden kann und welcher Anreize oder Förderprogramme es dafür bedarf. Bereits im Jahr 2015 wurde vom BMUB eine degressive, zeitlich limitierte Sonder-AfA für den Wohnungsneubau ins Gespräch gebracht, die schließlich im Februar 2016 von der Bundesregierung durch das zuständige Ministerium für Finanzen als Gesetzesentwurf vorgelegt wurde. Demnach sollten zusätzlich zu der normalen (linearen) 2 %-igen AfA13 innerhalb von drei Jahren 29 % aller Herstellungskosten bis zu einer Summe von 2.000 Euro/m2 abgeschrieben werden können. Vorausgesetzt, dass die Herstellungskosten von 3.000 Euro/m2 nicht überschritten werden, die Wohnungen in einer Wohnungsmarktregion mit angespannter Wohnungslage erstellt – und mindestens zehn Jahre vermietet werden. Das BM für Finanzen schätzte die Gesamtkosten dafür bis 2020 auf 1,2 Mrd. Euro, in Form von Steuermindereinnahmen.
Die Gesetzesinitiative wurde von der Opposition, aber auch von Teilen der SPD-Fraktion kritisch diskutiert. Angemahnt wurde vor allem, dass der Gesetzesentwurf keine Sozialbindung oder Mietpreisobergrenzen vorsieht, sodass es nicht zu der anvisierten Herstellung von preiswertem Wohnraum kommen würde und stattdessen Mitnahmeeffekte für den Bau von Wohnungen im oberen Mietsegment zu erwarten seien.14 Die Linke mahnte zudem an, dass weder kommunale Wohnungsunternehmen noch Genossenschaften in den Genuss der Förderung kommen würden und verwies darauf, dass der Städte- und Gemeindetag sich deshalb gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen habe. Ergänzend kann angeführt werden, dass weder städtebaulich integrierte Lage, Bautypologie, noch funktionale Mischung als Förderkriterien verbindlich festgeschrieben wurden, sodass in der Summe die Gegenargumente überwogen und der Bundestag den Gesetzesentwurf nicht gebilligt hat.
In den neuen Ländern machte man bereits kurz nach der Wiedervereinigung folgenschwere Erfahrungen mit dem Instrument einer Sonder-AfA. Zur Erinnerung: Die Sonder-AfA-Ost war ein zeitlich begrenztes Sonderabschreibungsprogramm für Immobilien in den neuen Bundesländern und Berlin, die nach dem 31.12.1990 und vor dem 1.1.1995 fertiggestellt wurden. Neben der normalen (linearen) 2 %-igen AfA konnten danach innerhalb der ersten fünf Jahre zusätzlich 50 % aller Herstellungs- oder Anschaffungskosten eines Gebäudes abgeschrieben werden. Dies führte in der Spitze zu Steuereinbußen im zweistelligen Milliardenbereich pro Jahr bei der veranlagten Einkommenssteuer.15
Die Sonder-AfA wurde damals eingeführt, um privates Kapital für die Finanzierung des Aufbau-Ost zu mobilisieren. Dabei kam es zu erheblichen Fehlallokationen mit negativen Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Investoren agierten in der Regel als Zwischenhändler. Wohnungsgrößen und Typologien wurden daher weniger am tatsächlichen Bedarf als an der Kaufkraft von Kleinanlegern ausgerichtet. Zudem wurde oft in nicht integrierten Lagen gebaut, da sich die meisten innerstädtischen Grundstücke noch in der Rückgabephase an die rechtmäßigen Eigentümer befanden. Zentraler Grund war hier der im Einigungsvertrag festgeschriebene Restitutionsgrundsatz mit der Prämisse: »Enteignetes Grundvermögen wird grundsätzlich […] zurückgegeben.«16 Die Klärung der Eigentumsverhältnisse und oftmals damit verbundene juristische Streitigkeiten dauerten Jahre. Also flossen die Mittel hauptsächlich in die jungfräulichen Speckgürtel der Städte. Dort waren Grundstücke ohne Restitutionsansprüche zu erwerben, sie waren zudem günstiger und, da in der Regel keine Bauleitplanung vorlag, mit einer höheren Grundstücksauslastung und ohne funktionale Vorgaben zu realisieren. Gebaut wurde daher viel Falsches, zudem am falschen Ort. Die hohen Leerstände der 1990er Jahre im Wohnungs- wie im Bürosektor zeugen davon. Viele Kleinanleger haben ihr Geld verloren, weil ihre Wohnungen entweder leer standen oder nicht die versprochene bzw. erhoffte Miete einbrachte.
Will man von dieser Fehlentwicklung lernen, dann darf es heute keine Sonder-AfA ohne funktionelle und lokale Steuerung durch die Kommunen mehr geben. Wirkungsweise, Verfügbarkeit und Lage der Grundstücke sowie das potenzielle Agieren der Immobilienmarktakteure sollte in Szenarien durchgespielt werden, um Fehlallokationen vorrauschauend zu begegnen. Eine Sonder-AfA könnte zum Beispiel auf gut integrierte aber schwer entwickelbare Grundstücke begrenzt werden, um diese für den privaten Sektor attraktiv zu machen. Es gibt keinen Grund, Mitnahmeeffekte für Filetgrundstücke durch Steuergelder zu fördern.
Gasträume: Willkommens-Systeme der Flüchtlingsunterbringung fördern
Viele Ursachen für Migration stehen in zeitlich versetzter Wechselwirkung mit Handlungen der westlichen Welt. Dazu gehören neben den Irakkriegen und dem Syrienkonflikt insbesondere der Nachhall der Kolonialzeit oder etwa CO2-Emissionen der Industrienationen, die klimabedingte Umweltverschlechterungen in Drittweltstaaten hervorrufen. Europa steht in der Verantwortung und wird sich auf Migrationsereignisse dieser neuen Art einstellen müssen. Die aktuelle Überforderung in den Städten zeigt, dass wir darauf nicht vorbereitet waren und keine geeigneten Systeme entwickelt haben, auf die wir jetzt zurückgreifen können. Die zu Beginn unerwartet herzliche Willkommenskultur der Deutschen bietet einen Ansatz für ein resilientes System. Staatlich geförderte Gästehäuser und -zimmer könnten die Spitzen künftiger Migrationswellen kappen. Auch Geringverdienende könnten in ihren Wohnungen enger zusammenrücken, Zuwanderer aufnehmen und dabei von staatlicher Förderung profitieren. Zeltstädte wären verzichtbar, Container bei Bedarf preiswert und die dezentrale Unterbringung bei hilfsbereiten Bürgern böte sprachliche und kulturelle Integration von der ersten Minute an.
Die Kommune als Kommandozentrale ausstatten
Asyl- und Flüchtlingspolitik sind Bundessache. Der Bund ist aber auf Amtshilfe der Kommunen und auf das lokale Ehrenamt angewiesen. Zudem müssen die langfristigen Auswirkungen auf kommunaler Ebene gelöst werden: Wohnungsbau, Erstintegration, Ausbau der sozialen Infrastruktur und der Bildungseinrichtungen wie auch die Folgekosten gescheiterter Integration. Die Kommunen sind die Kommandozentralen dieser Krisenbewältigung. Sie benötigen dafür deutlich mehr und flexiblere Handlungskompetenzen und ein stärkeres Mitspracherecht bei der Ausgestaltung und der Implementierung von Förderprogrammen für den Wohnungsbau oder der Überlassung von Grundstücken durch die BImA. Auch werden investive Mittel allein nicht ausreichen. Bund und Länder werden zusätzliche kommunale Personalressourcen für Steuerung, Stadtentwicklung und soziale Aufgaben finanzieren müssen, die sich aus der Zuwanderung ergeben.
- 1Das Modell einer sozial gerechten Bodennutzung (SoBoN) wurde 1994 in München eingeführt, mit dem Ziel, Grundstückseigentümer an den Planungsfolgekosten zu beteiligen. Das Modell basiert inhaltlich auf der Münchner Mischung. Idealerweise soll ein Standort je zur Hälfte Wohnen und gewerbliche Nutzung vereinen. Das Wohnsegment folgt einem Drittelmix von Mietwohnungen, Eigentumswohnungen und Sozialwohnungen. Prämisse ist, dass den Planungsbegünstigten mindestens ein Drittel der durch die Überplanung erzielten Bodenwertsteigerung als Gewinn zugesichert wird.
- 2Wirtschaftsförderung Frankfurt – Frankfurt Economic Development – GmbH (Hg.), Büromarkt Frankfurt a. M. Überblick, 1/2014, http://frankfurt-business.net/wp-content/uploads/2014/10/BueromarktFrankfurtamMain_No1_2014.pdf (20.7.2017).
- 3Die Wohnungszahl entspricht dem Ansatz einer durchschnittlichen 2–3 Zimmer Wohnung mit 70 m2.
- 4Die Vertragsraumordnung wurde 1992 im Bundesland Salzburg eingeführt, um dem Phänomen der Bodenhortung zu begegnen und um innerstädtische Flächen für die Bebauung zu mobilisieren. Nach planungsrechtlicher Anpassung auf Grund von Verfassungsklagen kommt die Vertragsraumordnung mittlerweile in allen österreichischen Bundesländern zum Einsatz.
- 52015 wurde vom Haushaltsausschuss des Bundestages einer Richtlinie der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) zur verbilligten Abgabe von Konversionsgrundstücken (VerbRKonv) zugestimmt. Die Maßnahme ist ursächlich eine Umsetzung aus Kapitel 4.2 des Koalitionsvertrags der 18. Legislaturperiode und basiert nicht auf dem zusätzlichen Bedarf an Wohnraum durch Zuwanderung.
- 62010 betrug der Flächenverbrauch in Deutschland 77 ha pro Tag. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, die Flächeninanspruchnahme bis 2020 auf 30 ha je Tag zu reduzieren. Das sogenannte 30-ha-Ziel ist Bestandteil der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, die 2002 von der Bundesregierung festgelegt wurde.
- 7Das Dragoner Areal ist eine 4,7 ha große ehemalige Kaserne in Berlin Kreuzberg, die seit 1923 als Finanzamt genutzt wurde. Als Bundesliegenschaft wurde das Grundstück nach dem Prinzip des Maximalerlöses in einem Bieterverfahren zum Verkauf ausgeschrieben. Der Haushaltsauschuss des Bundestages hat dem Verkauf an einen österreichischen Investor für 36 Mio. Euro zugestimmt. Der Haushaltsauschuss des Bundesrates, der ab einer Verkaufssumme von 15 Mio. Euro ebenfalls zustimmen muss, hat den Verkauf abgelehnt. Das Grundstück wird nun unter veränderten Verkaufsprämissen erneut ausgeschrieben.
- 8Magnus Kutz, »Flüchtlingsunterkünfte mit der Perspektive Wohnen«, Pressemitteilung der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen Hamburg vom 6.10.2015, http://www.hamburg.de/bsw/presse/4612224/2015-10-06-bsw-fluechtlingsunterkuenfte-perspektive-wohnen/ (20.07.2017).
- 9Berlin will kurzfristig zehn neue Siedlungen mit insgesamt 50.000 Wohnungen errichten. Unter dem Schlagwort Pionierwohnungsbau sind an zehn Standorten zunächst Wohnungen für Flüchtlinge nach vereinfachtem Planungsrecht (§ 246 BauGB) geplant, die dann durch Wohnungen für alle gesellschaftliche Schichten in einem geregelten Verfahren ergänzt werden sollen.
- 10Berliner Senat (Hg.), »Masterplan Integration und Sicherheit – Entwurf«, 15.03.2016, https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/politik-aktuell/2016/entwurf-masterplan-integration-und-sicherheit.pdf (20.07.2017).
- 11Jane Jacobs, »Tod und Leben großer amerikanischer Städte«, in Bauwelt Fundamente 4 (1963), S. 114.
- 12Martin Wagner, Das wachsende Haus, kommentierte Neuauflage, Leipzig 2015. Die Publikation von Martin Wagner wurde im Rahmen des Ausstellungsprojekts Wohnungsfrage von Jesko Fezer, Christian Hiller, Nikolaus Hirsch, Wilfried Kühn und Hila Peleg neu herausgegeben.
- 13AfA steht für Abschreibung durch Abnutzung. Schafft man Wohnraum, den man nicht selbst nutzt, gewährt der Gesetzgeber auf die veranlagte Einkommensteuer eine Abschreibung von 2 % pro Jahr auf alle Herstellungskosten. Dies gleichbleibend über 50 Jahre hinweg, als sogenannte lineare AfA. Man geht davon aus, dass nach 50 Jahren der Wert einer Immobilie vollständig aufgebraucht, also abgenutzt ist. Der Bestandswert nach 50 Jahren und evtl. Immobilienwertsteigerungen bleiben unberücksichtigt.
- 14Vom Verfasser wurde Ende Mai 2015 eine Presseanfrage an die Fraktionen zu dem Gesetzesentwurf einer Sonder-AfA für den Wohnungsneubau gestellt. Die hier aufgeführten Gegenargumente bilden eine Schnittmenge der Opposition mit der SPD-Fraktion. Die CDU-Fraktion hat den Gesetzesentwurf ohne Einschränkungen geteilt.
- 15Schäfer u. a., »Fehlsteuer-Ost«, in Der Spiegel Nr. 46/1997, S. 30–48.
- 16Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen, vom 15.6.1990 (BGBJ. II s. 1237). Als Anlage III wurde diese Erklärung gem. Art. 41, Abs. 1 Bestandteil des Einigungsvertrages. Zitiert nach: Lorenz Claussen, »Der Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung«, in Neue Justiz 7/1992, S. 297 ff.