Stadtland Thüringen – Modellentwicklung für die Landstadt von Übermorgen
1. Stadtland Thüringen
Stadtland ist das Thema und die Arbeitsthese der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen. Stadtland ist zugleich eine Beschreibung der kleinteiligen Siedlungsstruktur des Freistaates Thüringen (Abb. 1). Der Begriff steht für veränderte Beziehungen zwischen Individuen und Natur, Siedlung und Landschaft sowie Gesellschaft und ihren Ressourcen. Stadtland vollzieht eine Einbettung der Siedlungstätigkeit in natürliche, landschaftliche, stoffliche und Ressourcenzusammenhänge, wo einige Jahrhunderte lang Abkopplung im Vordergrund stand. Der IBA Thüringen geht es um einen veränderten, gesellschaftlichen ›Stoffwechsel‹. Aus gleichberechtigten und innovativen Stadt-Land-Beziehungen entstehen neue Lösungen. Der Begriff Stadtland Thüringen beruht auf einer gleichnamigen Publikation zur Stadtentwicklung.1 Der Regionalbezug wird zur thematischen Klammer für die Diskurse und Projekte der IBA Thüringen. Mit der Erweiterung des Horizonts von Stadt und Dorf in das Stadtland setzt sie den Wandel im regionalen Maßstab auf die Tagesordnung und nimmt systemische Lösungen in den Blick.
Angesichts der üppigen und vielerorts untergenutzten Siedlungskulisse wird der Umgang mit dem Vorhandenen zur wichtigsten Entwicklungsaufgabe. Anstelle stetig zu wachsen, neue Flächen zu verbrauchen und immer wieder neu zu bauen, vertreten die Projekte der IBA Thüringen das Weiter- und Wiederverwenden sowie das Umnutzen und Umbauen von Standorten und Gebäuden. Die IBA Thüringen interessiert sich für den kleinstmöglichen Eingriff in das gebaute Thüringen. Wir fragen, wie man sich im Bestand von gestern auf die Anforderungen von morgen vorbereiten kann.
Die IBA konzentriert sich in ihrer Arbeit auf fünf Baustellen, in denen Umdenken und Umbauen, Kooperationen und eine Kultur des guten Planens und Bauens im Mittelpunkt stehen: ›LeerGut‹ heißen Modellfälle zur Aktivierung von Leerständen. ›Selbstverantwortungsland‹ zielt auf gesellschaftliche Innovationen. ›Land in Sicht‹ meint u. a. die grüne Infrastruktur in Städten und eine vielfältige Produktivität und Erlebbarkeit von Landschaften. Die ›Landstadt von Übermorgen‹ meint einen attraktiven und nachhaltigen Lebensort. Eine ›Baukultur Made in Thüringen‹ erwächst aus den örtlichen Herausforderungen und Ressourcen, zeigt sich jedoch konsequent zeitgenössisch.
Die IBA Thüringen verfolgt das Thema Stadtland als Fortschrittsidee für Thüringen. Kultur und Bildung betrachtet sie nicht als Privileg der Städte, sondern sucht Impulse für die Zukunftsgestaltung auch im ländlichen Raum. Damit ruft sie einen inhaltlichen – nicht politisch-administrativen – Raumbegriff auf, der gleichzeitig die besondere Raumstruktur Thüringens und den Wandel des Verhältnisses von Stadt und Land beschreibt.
2. Reallabor Bauausstellung
Die IBA Thüringen versteht sich als Reallabor bei der Entwicklung und der Gestaltung neuer Strukturen in der Stadt und in der Kulturlandschaft. Ziel ist es, den demografischen, energetischen und damit vielerorts auch gesellschaftlichen Wandel aktiv zu gestalten und ihm einen zeitgenössischen baulichen Ausdruck zu verleihen.
Für viele Aufgaben gibt es keine einfache Blaupause: Stadtentwicklung ohne externes Kapital, gemeinschaftlich organisierte Infrastruktur, postfossile Mobilität in einer Region, dezentrale Stromversorgung, Einwanderung auf das Land zur Sicherung von Arbeitskräften sind nur einige Beispiele. Vertraute Erklärungsmuster historischer Entwicklungen greifen nicht mehr. Es gilt, die neuen Ideen praktisch zu erproben. Viele Lösungen ergeben sich erst im intensiven Austausch, im Planungsprozess oder auf der Baustelle.
Die Arbeitsweise der IBA ist gemeinschaftlich und kooperativ. Sie sucht Allianzen und Koproduktionen zwischen Zivilgesellschaft, Markt und Staat und setzt auf interdisziplinäre Entwicklungsprozesse. Um Innovationen zu generieren, initiiert die IBA Thüringen Wettbewerbe und Workshops. Sie bezieht künstlerische Positionen ein und regt Leitbildprozesse an. IBA-Projekte beruhen auf einem Netzwerk von Akteuren sowie einem Austausch, der die Grenzen von Fachkompetenzen und Gebietskörperschaften überschreitet.
Die IBA Thüringen verfolgt ein Programm der radikalen Innovation und des Experiments. Sie will der Zukunft von Thüringen anhand von beispielgebenden Projekten ein überzeugendes Gesicht und eine Gestalt verleihen. Ihre Erfahrungen sind eine ›Open Source‹ und werden anderen Interessierten bereitgestellt. Voraussetzung für das Umdenken ist, Thüringen anders zu sehen und zu erklären.
Das IBA-Projektverfahren ist dreistufig angelegt. Mit einer Ideenskizze können Akteure den Status eines IBA-Kandidaten erhalten. Hierzu kann die IBA Thüringen gezielt aufrufen oder selbst initiativ werden. Nach einem Qualifizierungsprozess empfehlen sich die IBA-Kandidaten für den IBA-Projektstatus. Erreichen die IBA-Projekte dann in der Realisierungsphase den geforderten Grad an Qualität und Innovation, erhalten sie das IBA-Label und werden Teil der Ausstellung. Diese Schritte erfordern alle ein positives Votum des IBA-Fachbeirates.
Für die Meilensteine Zwischenpräsentation 2019 und Ausstellung 2023 sorgt die IBA Thüringen für nationale und internationale Wahrnehmung. Angesichts der laufenden dynamischen Projektprozesse geben die nachfolgenden Kapitel lediglich die Thesen und Erfahrungen der ersten Schritte wieder. Die Qualifizierungsprozesse der IBA-Kandidaten sind auf www.iba-thueringen.de zu verfolgen.
3. Landstadt von Übermorgen
Zum 31.12.2015 wies der Freistaat Thüringen mit seinen 2,17 Mio. Einwohnern (1990: 2,61 Mio. EW) noch 849 Gemeinden aus, wovon ein Großteil zu Verwaltungsgemeinschaften zusammengeschlossen war. Der Freistaat hatte nur vier Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern, dies waren Erfurt, Weimar, Jena und Gera. Alle anderen 122 Gemeinden mit der Bezeichnung Stadt lagen darunter, ihre Einwohnerzahl betrug im Durchschnitt 7.416.3 Die amtliche Bevölkerungsprognose rechnet für Thüringen im Jahr 2035 noch mit 1,87 Mio. Einwohnern. In den meisten Landstädten nimmt die Bevölkerung weiterhin ab. Zwar weist Thüringen eine üppige und bis auf die Bergregionen regelmäßig gestreute Siedlungsstruktur auf (vgl. Abb. 1), gleichzeitig ist die Mehrzahl der kleineren Orte von Leerstand und Funktionsverlust geprägt.
Entsprechend hat die IBA Thüringen die Landstadt von Übermorgen für sich als Baustelle erklärt. Hierzu hat sie sieben Arbeitsthesen formuliert:
- Die Landstadt – Die Städte leben seit Langem nicht mehr von und mit dem Land, das sie umgibt. Welche Flächen, Produkte und Dienstleistungen sind geeignet, um neue Beziehungen zwischen Ortschaft und Landschaft zu knüpfen?
- Die vernetzte Stadt – Viele Landstädte sind zu klein, um autark zu bestehen. Mit wem und wie müssen sie sich vernetzen, um lebensfähig zu bleiben? Wie organisieren sie ihre soziale und kulturelle Infrastruktur und die Mobilität hierzu?
- Die Heimat Stadt – Das Internet macht die Bürger ortsunabhängig. Wo und wie bilden Bauen und Wohnen im Bestand eine regionale Identität mit Bindungskraft aus?
- Die offene Stadt – Schrumpfende Städte sind auf Zuwanderung angewiesen. Wo begegnen sich Einheimische und Fremde, wo docken die Neuen an? Wie verändert das die Baukultur?
- Die Provinzstadt – Viele Thüringer Städte liegen ›unterm Radar‹. Wo und wie wird ihr mittlerer Maßstab produktiv und ihr Charme sichtbar?
- Die Stadt zum Altwerden – Der demografische Wandel ist vorprogrammiert. Wie und wo kann man in den kleinen Thüringer Städten gut alt werden?
- Die enkeltaugliche Stadt – Infrastruktur, Baukulisse, Verwaltungsaufwand und Ressourcenverbrauch sind zu groß. Welche angepassten, regionalen und flexiblen Lösungen hinterlassen wir der nächsten Generation?
Eine Diskussion dieser Thesen fand in einer IBA-Planungswerkstatt mit 25 Vertretern aus Landstädten, Hochschulen und Planungsbüros am 3. und 4. März 2016 in Tabarz statt. Hieraus entstanden fünf Arbeitsgruppen. Das Team Thüringen DNA wollte den Eigensinn und individuellen Charakter der Landstadt herausarbeiten. Dies war auch Grundlage für das Team Zielgruppen, dem es um die Ansprache potenzieller Neubürger ging. Mit Stadt-Land-Band bezeichnete die dritte Gruppe eine neuartige Achse zwischen Landstadt und Landschaft, die die jeweiligen Qualitäten erlebbar macht und in Beziehung setzt. Die Gruppe Landschafts-Windpark versuchte, die Schaffung eines regionalen Energiekreislaufes mit der bewussten Gestaltung der Kulturlandschaft zu verbinden. Das Team Selbstverantwortung überlegte, wie die Schnittstelle zwischen Staat und Bürgern in Orten mit geringer Investitions- und Verwaltungskraft effizienter zu gestalten ist. Für die IBA Thüringen zeigte sich, dass Lösungen am besten vor Ort gemeinsam mit den Akteuren zu erarbeiten sind.
Schauplätze mehrerer IBA-Kandidaten sind Städte, die in Thüringen ›in der zweiten Reihe‹ stehen. Sie alle schöpfen für ihre Modellprojekte Impulse aus neuen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Akteuren und zwischen Stadt und Land. So will Nordhausen in der Stadtregion und gemeinsam mit ihren Bürgern zur Modellstadt im energetischen Wandel werden. Die Stadt strebt für zwei Quartiere eine innovative Energieversorgung an. Zeulenroda-Triebes und die ansässigen Unternehmen zielen gemeinsam auf eine Willkommenskultur, die ausländische Auszubildende und Fachkräfte in die Region anzieht und ihnen Perspektiven zum Bleiben eröffnet. In Gera arbeiten ein Bürgerverein und die Stadtverwaltung intensiv auf Augenhöhe zusammen, um mit einem experimentellen Städtebau eine große zentrale Brachfläche wieder für das städtische Leben und damit auch für die Region zurückzugewinnen.
4. Neue Kulturlandschaft
Das IBA-Thema Stadtland steht auch für einen neuen Blick auf die Kulturlandschaft. Anstatt die Landesfläche weiter zu segregieren, unter anderem in Agrarindustrie, Schutzgebiete, Ausgleichsflächen und Gewerbeparks, sucht die IBA Thüringen die multifunktionale Landschaft. In dieser Vision ist sie produktiv, ökologisch und für den Menschen attraktiv. Die Landstädte und Dörfer sind dann keine Inseln in einer funktional aufgeteilten Fläche mehr, sondern werden wieder zu einem integralen Bestandteil der Kulturlandschaft. In Hinblick auf öffentliche Dienste und Infrastrukturen nimmt die IBA Thüringen weniger das Zentrum, als vielmehr die vernetzte Region in den Blick. Dabei setzt sie auf eine bewusste Inwertsetzung und Gestaltung der Landschaft.
Für dieses Verständnis von Stadtland schlägt die IBA Thüringen zunächst einen großmaßstäblichen und landschaftlichen Zugang vor. Dazu gehören die ›ewigen‹ Logiken, z. B. die Wasser- und Abwasserzusammenhänge, die Topografie oder die Landnutzung. Darüber liegen die ökonomischen, infrastrukturellen und lebenspraktischen Beziehungen der postindustriellen und postagrarischen Lebensstile. Damit lässt sich das Stadtland Thüringen als Austragungsort von kulturellen, technischen und ökonomischen Veränderungsprozessen darstellen. Angesichts von sozialen und demografischen Herausforderungen wie Urbanisierung, Landflucht und Flüchtlingsströmen erfährt das Stadtland Thüringen weitere Bedeutungsebenen und -verschiebungen.
Mit einem derart regionalisierten Stadtverständnis stellt sich auch die Frage nach der administrativen Struktur der Landstädte. In der Verflechtung mit dem Umland entstehen Verantwortungsgemeinschaften für unterschiedlich große Territorien. Hierin gilt es gleichzeitig ein effizientes Maß von Bürokratie zu organisieren und soweit möglich die Selbsthilfe in den Kleinstädten und Dörfern zu ermöglichen. »Der lebenspraktische Alltag schreibt hier die Tagesordnung und ein Globalbudget oder Bürgerhaushalt wird in die Hände der Verantwortlichen gelegt. Aus diesem kann man zahlen, ohne nach Programmen zu schielen und Förderquoten zu berücksichtigen. Die übergeordneten Verwaltungsebenen halten Spezialwissen für die komplizierten Verwaltungsabläufe bereit, sie verstehen sich als Helfer und Ermöglicher, wenn nicht gar als Dienstleister«.4
Die IBA Thüringen will diese spezifischen Stadtland-Beziehungen und Lebensverhältnisse sichtbar machen. Damit sind auch die Potenziale zur Bewältigung und Gestaltung der Wandlungsprozesse von Demografie und Klima angesprochen. Anhand der regionalen Ressourcen und mit den lokalen Akteuren will die IBA Thüringen an ausgewählten Standorten die Landstädte und Kulturlandschaft zukunftsgerecht und beispielhaft weiterentwickeln. Dabei gilt es eine neue Baukultur zu erproben. Aus der Einbettung in eine reizvolle Landschaft, einer regional verankerten Produktion und einer angepassten Verwaltung kann Stadtland Thüringen zu einer Lebensqualitätsformel werden.
- 1Bauhaus-Universität Weimar und Thüringer Ministerium für Bau und Verkehr (Hg.), Stadtland Thüringen – Wege des Städtebaus, Weimar 2007.
- 2Quelle: IBA Thüringen 2016, Kartenmaterial: GeoBasisDE/TLVermGeo, https://www.iba-thueringen.de/sites/default/files/termine/image/Stadtland.jpg (18.7.2017).
- 3Thüringer Landesamt für Statistik, http://www.statistik.thueringen.de (29.7.2016).
- 4Marta Doehler-Behzadi, »Keine Verwaltungseffizienzoptimierungsmaschine«, Gastbeitrag in Ostthüringer Zeitung, 18.6.2016, S. 7.