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Zukunftsstadt für Menschen – Soziale Nachhaltigkeit und die Transformation der Städte


Das 21. Jahrhundert könnte das Jahrhundert der Städte werden. Die Stadt­bevölkerung dürfte sich bis 2050 weltweit von heute etwa 4 Milliarden auf dann 6,5 Milliarden Menschen vergrößern, etwa zwei Drittel der Menschheit werden dann in Städten leben. Knapp 90 % dieses Wachstums der Stadtbevölkerungen in diesem Zeitraum werden in Asien und Afrika erwartet.1 Angesichts dieses gewaltigen sozialen Wandels in nur etwas mehr als einer Generation stellt sich die Frage nach seiner Richtung: Wird die Zukunftsstadt eine ›grüne Stadt‹ sein, eine nachhaltige Utopie, eher eine Dystopie zwischen Megalopolis und Slum oder wird es die Zukunftsstadt überhaupt nicht geben, sondern ein Potpourri von Stadttypen je nach regionaler und nationaler Regulierungspotenz? Ich werde diese Frage in drei Schritten diskutieren. Zunächst wird das Konzept ›Zukunftsstadt‹ mit einigen Überlegungen der Zukunftsforschung korrespondiert. Im zweiten Schritt wird ein komplexer Mehrebenenfokus auf die deutsche und europäische Stadt im globalen Kontext versucht. Im dritten Schritt soll das Denkprogramm ›Soziale Nachhaltigkeit‹ auf das Konzept ›Zukunftsstadt‹ angelegt werden. Ziel wäre die Identifikation einiger Bedingungen, die die Stadt der Zukunft zugleich menschlich und naturverträglich gestalten.


1. Zukunftsstadt


Was können wir über die Zukunft wissen? Wir werden uns im Folgenden mit verschiedenen Prognosen, Voraussagen über künftige Situationen beschäftigen. Vielleicht sind daher einige epistemische Überlegungen zu den Möglichkeiten von Prognosen hilfreich. Philip E. Tetlock, ein ausgewiesener Empiriker auf dem Gebiet der Politischen Psychologie, berichtete in seinem jüngsten Buch Superforecasting über ein Forschungsprojekt, das durch das Intelligence Advanced Research Projects Activity (IARPA), einer Organisation des Office of the Director of National Intelligence der USA, gefördert wurde. Geheimdienste sind auf Prognosen angewiesen. Doch Prognosen scheinen keineswegs verlässlich: »In meinem Experiment mit politischen Experten waren Prognosen über einen Zeitraum von fünf und mehr Jahren hinweg reines Glücksspiel.«2 Noch bemerkenswerter erschien Tetlock, dass Prognosen so gut wie nie im Nachhinein überprüft wurden. Im Good Judgment Project der IARPA sollten in einem mittleren Vorhersagebereich Methoden zur korrekten Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten entwickelt werden. Rekrutiert wurden knapp 2.800 Freiwillige (›Normalbürger‹), von denen sich ein kleiner Teil (58) zu ›Superprognostikern‹ entwickelte. Letztere zeichneten sich vor allem durch zwei Eigenschaften aus: Sie aktualisierten ihre Vorhersagen häufiger und – vor allem – aktualisierten sie ihre Überzeugungen.3 Das Nachdenken über die ›Zukunftsstadt‹ operiert offensichtlich in einem weiteren Vorhersagebereich, der Zeithorizont ›2050‹ wurde bereits angesprochen. Dennoch dürften die beiden genannten Eigenschaften auch für diese Forschungsperspektive ertragreich sein. Beginnen wir also unseren Blick in die Zukunft mit einem Blick auf vergangene Vorstellungen der Zukunft der Stadt.


In Robert Zemeckis Film Zurück in die Zukunft II gelangen zwei Männer mit einem fliegenden Zeitmaschinenauto aus dem Jahr 1985 in das Jahr 2015. Sie sehen vieles, das uns unterdessen vertraut ist, Videotelefone, intelligente Kleidung, Häuser, die mit ihren Bewohnern kommunizieren, Uhren, die das Wetter voraussagen, Bezahlung mit Fingerabdruck. Manches gibt es bis heute nicht, wie Fusionsreaktoren mitten in der Stadt oder eben auch die fliegenden Autos. Anderes sah man nicht voraus, weder den Aufstieg des Internet noch die damit einhergehende Vernetzung und Digitalisierung, die das damals neue Faxgerät schon wieder weitgehend überflüssig macht. Der Beitrag der Science-Fiction in Kunst, Literatur und Video für Stadtzukünfte ist zumindest inspirierend: »Science-Fiction-AutorInnen nutzen die Stadt als Handlungsort, um einen gesellschaftlichen Entwurf zu erzählen, der meist als Kritik an die Gegenwart gerichtet ist. Dabei sind bestimmte Formen von Stadt besonders hilfreich. Eine von einer Mauer oder Kuppel umzogene Festungsstadt hilft, ­einen Konflikt zwischen Gemeinschaften vor den Toren und innerhalb der Stadt plastisch vor Augen zu führen. Die jeweilige Stadt wird für die ­Geschichte pointiert, radikalisiert, übertrieben dargestellt und in eine eindeutige Form gebracht. Die am häufigsten genannten Stadtformen sind extrem besiedelte, unabhängige Megastrukturen, die Kuppelstadt, die fliegende Stadt, die totale Stadt bzw. Sprawls, die zu einer Megastadt zusammenwachsen, die unterirdische Stadt und die schwimmende Stadt. Die digital überwachte Stadt, oftmals von totalitären Strukturen und mysteriösen Computern, ist ein weiteres typologisches Muster.«4 Freilich, ernsthafte Projektionen der Zukunft, gar ein Beitrag zur Zukunftsforschung sind aus der Science-Fiction nicht zu erhalten. 


Auch in der Zukunftsforschung selbst dominierten lange Zeit technologische Fokussierungen, wie Elke Seefried in ihrer zeitgeschichtlichen Arbeit Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung zwischen 1945 und 1980 zeigen konnte.5 Die Planungswissenschaften – vor allem die Stadt- und Regionalplanung – nahmen seit den 1950er Jahren einen enormen Aufschwung. Neben der Forstwirtschaft – aus der bekanntlich die Ökologie als Disziplin oder zumindest Nachhaltigkeit als Konzept entstand (der sächsische Kammer- und Bergrat Hans Carl von Carlowitz gilt als ihr Begründer)6 – waren es die Planungswissenschaften und die Demographie, die weit vorausliegende Zeithorizonte zum Forschungsgegenstand machten. Freilich auch hier: Nachhaltigkeit war lange Zeit kein Normativ. 


Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden stadtreformerische Ideen formuliert, um auf die sozialen, räumlichen und ökologischen Auswirkungen zu ­rea­gieren, die insbesondere infolge der Industrialisierung entstanden sind. Neue städtebauliche Leitbilder versuchten Antwort zu geben auf die Fragen, wie man mit Bevölkerungswachstum, den daraus resultierenden Anforderungen an Verkehr und Logistik, städtischen Ver- und Entsorgungsprozessen sowie mit der Neuordnung von Produktion und Handel umgehen könne: das ›Gartenstadtkonzept‹ von Ebenezer Howard (1898), die in der »Charta von Athen« von Le Corbusier (1933) beschriebene funktionale Stadtplanung, die ›Broadacre City‹ von Frank Lloyd Wright (1932), die ›Stadtlandschaft‹ von Hans Scharoun (1946) oder die ›Autogerechte Stadt‹ von Hans Bernhard Reichow (1959). »Mit der Rückbesinnung auf die Qualitäten der funktional und sozial­räumlich durchmischten, kompakten und gewachsenen europäischen Stadt wurde spätestens seit Ende der 1970er Jahre ein Paradigmenwechsel in der europäischen Stadtentwicklung eingeleitet. Stadtplanung stand nicht mehr nur unter einem modernistisch-funktionalistischen Paradigma, sondern der behutsame Umbau der gebauten Stadt mit ihrem historischen Erbe mit entsprechenden sozialen und ökonomischen Transformationsprozessen rückte zunehmend in den Fokus und führte zu ersten Ansätzen einer integrierten Stadtentwicklungsplanung.«7 Während Städte im weltweiten Maßstab gewaltig wachsen – 50 % des Baubestandes des Jahres 2050 entstehen noch – haben wir in Regionen wie Deutschland oder Österreich eine herausfordernde Gleichzeitigkeit von Wachstum und Schrumpfung. Auch das macht konzeptionelle ­Innovationen drängend, die beispielsweise mit dem Gedanken des ›Genug‹, des ›Post-Growth‹ bzw. der ›Suffizienz‹ verbunden werden. Hilfreich erscheint hier das in der Nachhaltigkeitsdebatte präsente Modell der drei Prozesse »Effizienz-Konsistenz-Suffizienz«, das teils auf unternehmerische Nachhaltigkeitsstrategien bezogen wird,8 sinnvollerweise aber für alle stoffbezogenen Nachhaltigkeitsstrategien gelten kann. Joseph Huber hatte schon in den 1990er Jahren »Konsistenz vor Effizienz vor Suffizienz« und eine »Gesamtstrategie der abgestuften Präferenzen« gefordert. Sie müsse »zuerst und vor allem versuchen, die ökologische Angepasstheit der Stoffströme durch veränderte Stoffstromqua­litäten zu verbessern (Konsistenz), um dann, auch aus ökonomischen Gründen, die Ressourcenproduktivität dieser Stoffströme optimal zu steigern (Effizienz), und wo beide Arten von Änderungen in ihrem Zusammenwirken an Grenzen geraten, da müssen wir uns eben zufrieden geben (Suffizienz).«9

Die Initiative Zukunftsstadt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist eine gute Plattform für diese Diskurse. Zugleich steht sie für die Ambivalenzen und Widersprüche des Diskursfeldes, so heißt es in der Strategischen Forschungs- und Innovationsagenda (FINA): »Die Zukunftsstadtinitiative ist ein Wachstumsmotor und damit auch ein Schlüssel für die Marktpositionierung der deutschen Wirtschaft in einer immer stärker globalisierten Ökonomie. Während in der Vergangenheit Versorgungssicherheit Haupttriebfeder für urbane Regionen war, muss die Stadt der Zukunft dies nun mit einer Agenda der Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz verbinden, um zum einen die Kosten, z. B. für die Infrastruktur, zu senken, aber auch gleichzeitig im Wettbewerb der Städte attraktiv zu bleiben. Die Verbindung mit der globalen Welt drückt sich – anders als in der Vergangenheit – weniger über die Magistralen physischer Mobilität als vielmehr durch die Vernetzung mit modernen Informations- und Kommunikationssystemen aus. Damit entstehen neue Verbindungen zwischen den städtischen Ökonomien. Es entstehen aber auch neue Räume der Kommunikation in den Städten, die neuartige Produzenten-Konsumenten-Beziehungen ermöglichen. Neue intelligente industrielle Fertigungsprozesse (Industrie 4.0) eröffnen neue Chancen für die Produktion in Ballungsräumen.«10

Man kann an solchen Überlegungen kritisch sehen, dass sie Zukunft zunächst als eine Arena des Ökonomischen betrachten, dessen Nebenfolgen kompensativ bearbeitet werden sollen: »Die Zukunftsstadt sozialverträglich gestalten.«11 Wäre aber eine Herangehensweise, eine Denkweise der Zukunftsstadt möglich, die vom Menschen her, vom Sozialen her kommt? Die systematisch nicht nur ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit reflektiert, sondern Soziale Nachhaltigkeit? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen im nächsten Schritt einige Befunde zur Stadtentwicklung im globalen Zusammenhang diskutiert werden.


2. Große Transformation und Urbanisierung


Im 2011 veröffentlichten und breit rezipierten Gutachten Welt im Wandel skizzierte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) einen ›Gesellschaftsvertrag‹ für eine zweite ›Große Transformation‹ der Weltgesellschaft.12 Der vom Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi geprägte Begriff der »Great Transformation« bezeichnete die tiefgreifenden Veränderungen zunächst der westlichen (und nördlichen) Gesellschaftsordnungen in Richtung Marktwirtschaft und Nationalstaat vor allem im 19. Jahrhundert und ihre weltweite Ausdehnung im 20. Jahrhundert. Umweltschäden und insbesondere die bedrohlichen Veränderungen des Weltklimas sollten, so der WBGU, im 21. Jahrhundert durch eine zweite Große Transformation in Richtung einer nachhaltigen Weltordnung gestoppt werden. Auf diesen Überlegungen baut nun das 2016 veröffentlichte Gutachten Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte auf: »Von den Entscheidungen, die in Städten in den nächsten wenigen Jahren und Jahrzehnten getroffen werden, hängt der Fortgang der Großen Transformation wesentlich ab. Hier muss ein Paradigmenwechsel stattfinden: Weg von inkrementellen Ansätzen, die im Wesentlichen von kurzfristigen Anforderungen getrieben sind, hin zu transformativen Änderungen mit strategischem, langfristigem Blick auf die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit und die Schaffung von Urbanität, die menschliche Lebensqualität dauerhaft befördert.«13 Auch dieses Gutachten verdient eine breite Rezeption und wird sie erhalten. Es ist für unsere Überlegungen nicht nur einschlägig, sondern zeichnet sich auch dadurch aus, dass es die zentrale Bedeutung kulturellen und institutionellen Wandels diskutiert und nicht davor zurückschreckt, genau und programmatisch in einer Zeit zu argumentieren, in der politische Diskurse zunehmend abgekoppelt sind von einer Gegenwart, die von Spaltung, Extraktion der Naturgrundlagen, Gewalt und Intoleranz geprägt scheint. 


Für die Umbruchsituation des ›Jahrhunderts der Städte‹ entwickelte der WBGU zunächst einen ›normativen Kompass‹ mit drei Dimensionen:


  • erstens die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Beachtung planetarischer Leitplanken und den Schutz der lokalen Umwelt,

  • zweitens die Sicherstellung substanzieller, politischer und ökonomischer Teilhabe der Stadtbewohner und

  • drittens die Sicherung der soziokulturellen wie räumlichen Diversität der Städte und ihrer Stadtgesellschaften und die Gestaltung einer Pluralität urbaner Transformationspfade: »Jede Stadt muss auf ›ihre eigene Art‹ den Weg in eine nachhaltige Zukunft suchen. Diese ›Eigenart‹ ist nicht nur von großer Bedeutung für die Herstellung urbaner Lebensqualität und Identität, sondern ist auch unverzichtbare Ressource im Sinne der Entfaltung jeweils stadtspezifischer Kreativitäts- und Innovationspotenziale.«14

Bemerkenswert ist die Einführung der kulturwissenschaftlich geprägten Kategorie der ›Eigenart‹ der soziokulturellen und räumlichen Diversität in die Nachhaltigkeitsdiskussion, die auf den Einfluss des Kommissionsmitgliedes Claus Leggewie zurückgehen dürfte. Der normative Fokus basiert damit auf drei Dimensionen von Nachhaltigkeit, die sich vom (seit der Klimakonferenz in Rio des Janeiro 1992) üblichen ›Dreieck der Nachhaltigkeit‹ – ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit15 – nicht unerheblich unterscheiden: Die Kategorie der ökonomischen Nachhaltigkeit wird auf die Bürgerebene ­gebrochen – als ökonomische Partizipation – und um politische Partizipation erweitert; die Kategorie der sozialen Nachhaltigkeit wird auf soziokulturelle und räumliche Diversität konzentriert oder begrenzt. Allein die Kategorie ökologische Nachhaltigkeit verbleibt im üblichen Diskursrahmen. Mit diesem Kategorienwechsel des WBGU geht eine weitere kulturwissenschaftliche Pointe einher, die Soziologen durchaus befremdet (eine Disziplin, die dem WBGU-Gutachterkreis leider nicht angehört): Während die Kategorialisierung von Nachhaltigkeit bislang – wenn auch meist implizit – sowohl die Akteurs- als auch die Systemsicht einnahm, wird die Kategorie Ökonomie hier – erweitert um Politik – auf Partizipation (der Stadtbewohner) konzentriert, Funktionsinteressen von Wirtschaft treten zurück. Genau das war jedoch das Problem relevanter Akteure vor jener paradigmatischen Überlegung der Rio-Konferenz, sie befürchteten eine Dominanz des Natur- bzw. Umweltschutzes gegen ökonomische Systemimperative. Die Bewegungsjournalistin Naomi Klein hat den Konflikt auf den Nenner »Kapitalismus vs. Klima«16 gebracht. Im weltweiten UN-Maßstab wurden wirtschaftliche Interessen allerdings nicht nur in kapitalistischen Marktgesellschaften gegen Naturinteressen in Anschlag gebracht. Umgekehrt ist der Verlauf bei der dritten Kategorie ›Eigenart‹, die praktisch die Dimension der sozialen Nachhaltigkeit beerbt: Hier ist im WBGU-Normativ nur noch die Systemperspektive prägend, die Stadt bzw. die Stadtgesellschaft.

Wir werden sehen, dass diese kategorialen Entscheidungen den Weg dafür bahnen, bestimmte Fragestellungen an die Zukunft der Städte innerhalb des nationalen und internationalen Governance-Gefüges zu unterlassen. Vor allem fehlt der WBGU-Perspektive, wie praktisch der gesamten Nachhaltigkeitsdiskussion, bislang ein systematischer Einbezug moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit, als Normativ wie als Würdigung von Akteuren und geronnenen Institutionen. Wir werden diese enorme Herausforderung im dritten Schritt vertiefen, wenn wir genauer beschreiben, was unter Sozialer Nachhaltigkeit als Urbanisierungsprogramm verstanden werden kann. Doch zunächst wollen wir die Erträge der WBGU-Perspektive skizzieren und würdigen.


3. Soziale Nachhaltigkeit als Urbanisierungsprogramm


Sie nehmen ihren Ausgang im ›Capabilities‹-Konzept des Nobelpreisträgers für Ökonomie aus dem Jahr 1998, Amartya Sen. Der Capabilities Approach17 liefert die theoretischen Grundlagen für den Human Development Index und den Human Poverty Index, über die u. a. in den Weltentwicklungsberichten seit 1990 Rechenschaft abgelegt wird. Im Vordergrund steht die Frage, was der Mensch für ein gutes, gelingendes Leben benötigt. Materielle Güter und Ressourcen werden für diesen Zweck nur als, allerdings wichtige, Mittel und nicht als Selbstzweck betrachtet. Es geht um Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann. Wir müssen dann für die Stadt der Zukunft fragen: Was benötigen die Menschen der Zukunft für ein gutes Leben? 


Ich möchte dies anhand von drei Themen untersuchen und dabei nicht, wie in der Science-Fiction, die Zukunft als eine soziale Fortschreibung der ­Gegenwart mit technologischen Zaubereien verstehen: (1) Demographie, (2) Diversity und (3) Sharing. 


Wenn wir über die demographische Entwicklung nachdenken, fällt zunächst ihre enorme Spreizung im Weltmaßstab auf. Das Gutachten des WBGU zum ›Umzug der Menschheit‹ und zur ›transformativen Kraft der Städte‹ beschreibt das eindrucksvoll.18 Gemeinsam ist allerdings allen Regionen die Zunahme der Lebenserwartung und damit die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Alter und Pflegebedürftigkeit. Wir können davon ausgehen, dass durch die Zunahme der Hochbetagtheit im Jahr 2050 50 % mehr Pflegebedürftige leben. Während heute noch etwa 70 % der Pflege in und von den Familienangehörigen geleistet wird, erscheint völlig offen, ob dies auch in Zukunft geschehen kann. Gerade das urbane Leben ist von einer Zunahme mobiler Einpersonenhaushalte geprägt, Gemeinschaft und Verantwortung müssen neu inszeniert werden. Die technologische Utopie einer biochemischen Heilung von Demenz oder noch zugespitzter: Der medizinische Aufschub von Alterungsprozessen – 
›Forever young, then die quickly‹ – versuchen, die sozialen und psychologischen Erfordernisse zu vermeiden. Selbstverständlich gibt es auch technologische Innovationen mit gewaltigen sozialen Folgen, im Bereich der Demographie war dies beispielsweise die orale Empfängnisverhütung, die zugleich Familienplanung und sexuelle Libertät möglich machte. Ganz sicher werden neue Technologien, von Gesundheits-Apps über intelligente Häuser, Smart Homes, bis hin zu Pflegerobotern den Umgang mit Alter und Pflege beeinflussen. Zugleich wird die Diskussion um einen selbstbestimmten Tod, angetrieben von einer eher materialistisch-hedonistischen Freiheitskultur, einer auch beängstigenden technologischen Überstimmung der Altersmedizin und einer Durchökonomisierung sozialer Beziehungen, möglicherweise zu ganz neuen Konflikten führen, in denen sich Kranke, Pflegebedürftige und Behinderte umfassend davor fürchten müssen, als nicht mehr Lebenswerte stigmatisiert zu werden. Das ›sozialverträgliche Ableben‹ würde dann von der Ironie zur Bedrohung. Kann die Zukunftsstadt ihre Bewohner dazu befähigen, menschlich zu sein und gemeinschaftlich zu leben? 


Nicht weniger bedeutend erscheint unter der Perspektive sozialer Nachhaltigkeit die Frage, wie die Zukunftsstadt das Thema Diversität lösen kann. Michel Houellebecqs eindrucksvoller Roman Die Unterwerfung zeichnete ein Modell der Auflösung von Homogenitäten, ein Aufgehen hergebrachter natio­naler und kultureller Identitäten in einem Amalgam der Vorteilsnahme und des Egoismus.19 Stadtplaner und Architekten leben üblicherweise in schönen Häusern, die möglichst dem goldenen Schnitt folgen, in der Regel in gut sanierten Altbauten; sie leben in Gebäuden, die für eine weite Zukunft gebaut wurden und planen zumeist Häuser, die nach einer Generation den Abriss verdienen. Der Einzug der Peripherie in die alten Metropolen und der Aufstieg der Peripherie zu neuen Metropolen des globalen Südens und Ostens hat zu tiefen Verunsicherungen über das Verhältnis von Diversität und Homogenität geführt. Die Zukunftsstadt wird vor allem Räume sozialer Nachhaltigkeit20 zur Verfügung stellen müssen, die sich nicht aus dem technologisch-wirtschaftlichen Verlauf ergeben: Räume für Kultur, für Öffentlichkeit – Plätze, Säle, Kirchen. 


Als drittes Thema der sozialen Stadtzukunft möchte ich den Fokus auf Sharing legen. Nicht nur die Allmende Schweizer Bergbauern, die gemeinsam genutzten Weiden, legen Zeugnis des Öffentlichen ab, der Gemeingüter, der ›Commons‹, sondern die Stadt ist als Prinzip ein Feld des Geteilten: Der Klassiker des Sharing ist das Hotel. Bibliotheken, Straßenbahnen, ja das Öffentliche überhaupt wird geteilt, übertrifft das Private, Eigene, Partikulare, Egoistische. Wird die Zukunftsstadt mehr an Geteiltem kennen, werden AirBnB, Teilauto oder andere Innovationen die Zukunft prägen oder bleiben sie ein Feld für junge Leute mit Geldmangel?


Im neuen Jahrbuch für die urbane Debatte – Narango21 findet sich ein feines Bild: Das ›urbane Wohnzimmer‹. Das klingt moderner, anschlussfähiger als der alte Begriff ›Heimat‹. Aber er meint vielleicht dasselbe.


  1. 1UN DESA – United Nations Department of Economic and Social Affairs (Hg.), World Urbanization Prospects. The 2014 Revision. ST/ESA/SER.A/366, New York 2015; WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (Hg.), Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte, Hauptgutachten,Berlin 2016.

  2. 2Philip E. Tetlock und Dan Gardner, Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose, Frankfurt a. M. 2016, S. 259.

  3. 3Ebd., S. 168.

  4. 4Steffen Krämer, Carolin Pätsch und Belinda Rukschcio, »Die Stadt von Übermorgen: Von Science Fiction lernen«, in Detail – Das Architekturportal, 2015, http://www.detail.de/artikel/die-stadt-von-uebermorgen-von-science-fiction-lernen-13357 (4.8.2017).

  5. 5Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin/Boston 2015.

  6. 6Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010.

  7. 7BMBF (Hg.), Nationale Plattform Zukunftsstadt. Langfassung der Strategischen Forschungs- und Innovationsagenda (FINA), Berlin 2015, S. 8.

  8. 8Stefan Schaltegger, Roger Burritt und Holger Petersen, An Introduction to Corporate Environmental Management. Striving for Sustainability, Sheffield 2003, S. 25.

  9. 9Joseph Huber, Nachhaltige Entwicklung. Strategien für eine ökologische und soziale Erdpolitik, Berlin 1995, S. 157.
  10. 10BMBF, Nationale Plattform Zukunftsstadt (Fn. 7), S. 13 f.

  11. 11Ebd., S. 14.

  12. 12WBGU (Hg.), Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Hauptgutachten, Berlin 2011.

  13. 13WBGU, Der Umzug der Menschheit (Fn. 1), S. 3.

  14. 14Ebd., S. 4.
  15. 15Michael Opielka, »Soziale Nachhaltigkeit aus soziologischer Sicht«, in Soziologie 45/1 (2016), S. 33–46.

  16. 16Naomi Klein, Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, Frankfurt a. M. 2016.

  17. 17Amartya Sen, Commodities and Capabilities, New Delhi 2007.

  18. 18WBGU, Der Umzug der Menschheit (Fn. 1).

  19. 19Michel Houellebecq, Die Unterwerfung, Köln 2015.

  20. 20Opielka, Soziale Nachhaltigkeit aus soziologischer Sicht (Fn. 15) sowie Michael Opielka, Soziale Nachhaltigkeit. Auf dem Weg zur Internalisierungsgesellschaft, München 2017.

  21. 21Open Urban Institute (Hg.), Narango – Jahrbuch für die urbane Debatte, Frankfurt a. M. 2016.
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Heft 18 (2017)
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1867-7061

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