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Sozialräumliche Differenzierung und Bevölkerungs­entwicklung auf regionaler, städtischer und 
Quartiersebene


Einleitung


Im September 2015 fand der Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik unter dem Titel »Städtische Energien – Integration leben« statt. Von zahlreichen Rednern aus Politik und kommunaler Praxis wurden die Herausforderungen aktueller und künftiger Stadtentwicklung benannt. Dabei nahm das Flüchtlingsthema eine zentrale Rolle ein – zu diesem Zeitpunkt durchaus nachvollziehbar, war doch auf kommunaler Ebene weithin unklar, mit welchen Strategien und Maßnahmen man die bevorstehenden immensen Aufgaben ­bewältigen könnte. 


Dennoch darf diese neue Thematik die anderen, nach wie vor ebenso aktuellen Themen nachhaltiger, zukunftsorientierter Stadtentwicklung hinsichtlich sozialräumlicher Differenzierung und residentieller Segregation nicht verdecken. Die Fragestellungen nach den Ursachen, dem Ausmaß und den Auswirkungen von Ungleichverteilung von Bevölkerungsgruppen im Raum hinsichtlich ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit, Berufsgruppe, Religion, ethnischen Zugehörigkeit oder Alter werden dann zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, wenn damit gesamtgesellschaftliche und individuelle Integrationshemmnisse verbunden sind, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben begrenzt wird und die betroffenen Bevölkerungsgruppen in lokaler Pfadabhängigkeit gefangen sind. Segregation wird zu einem gesellschaftlichen Problem, wenn Quartiere in sich geschlossen sind, im Sinne einer sozialen Adresse mit Stigmatisierungskraft existieren und als Orte der Konzentration von anomalem Verhalten, Armut und Kriminalität wahrgenommen werden.1 Es werden damit klassische Fragen der sozialen Ungleichheit, die sich im Stadtraum abbilden, durch die Flüchtlingsthematik verstärkt, nicht neu geschaffen. Somit handelt es sich um komplexe Herausforderungen, die zeitlich und räumlich jüngst eine völlig neue Dynamik erhalten haben und auf verschiedenen geographischen Skalen von der regionalen Ebene über die städtische bis hin zur Quartiersebene spürbar sind. Sie verlangen detaillierte, kontextspezifische Analysen, deren Erkenntnisse zur Förderung urbaner Transformationen hin zu nachhaltiger Stadtentwicklung beitragen.


Diese Herausforderungen werden im Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen2 mit dem Titel »Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte« thematisiert. Sie sind Bestandteil komplexer und umfassender Fragestellungen hinsichtlich der Gestaltung der ›Zukunftsstadt‹. Hiermit ist eine ganzheitliche Perspektive verbunden, die soziale, demographische, ökonomische, ökologische, städtebauliche und politische Dimensionen miteinander verbindet. Wir verstehen unter urbanen Transformationen grundlegende, radikale Änderungen von Stadtentwicklung. Das Einstellen auf nichtlineare Entwicklungen, der Umgang mit und die Inkaufnahme von Brüchen und Sprüngen, der Mut zum Experiment, veränderte Akteurs- und Machstrukturen sowie transparente und partizipative Strukturen und Entscheidungswege sind Komponenten urbaner Transformationen.3

Kurzum, veränderte Rahmenbedingungen und spezifische Kontexte verlangen die Behandlung von Konfliktthemen, die durchaus bekannt, aber hinsichtlich ihrer jetzigen Geschwindigkeit des Wirkens und der Notwendigkeit ihrer Lösung, ihres Umfangs und ihres Einflusses auf das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben neu sind.


Unsere Forschungen sind auf verschiedenen Skalen angelegt. In diesem Beitrag wird zunächst die regionale Ebene mit Bezug auf Mittedeutschland angesprochen. Danach wird die städtische Ebene mit Bezug auf Leipzig beleuchtet. Es folgt die Quartiersebene, auf der kleinteilige Differenzierungsprozesse mit ihren Ausprägungen und Konsequenzen untersucht werden.


Regionale Ebene


Die Analyse der Raummuster in Deutschland, mit ihrem Fokus auf einwohnerbezogene Siedlungsentwicklung, zeigt eine räumlich und zeitlich unterschiedliche Entwicklung.4 Es wachsen die größeren Städte, hierin eingebunden die Universitätsstädte. Für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist ein anhaltendes Bevölkerungswachstum in den Städten Leipzig, Dresden, Chemnitz, Halle, Magdeburg, Erfurt und Jena nachzuweisen.5 Noch vor wenigen Jahren als stark schrumpfende Städte bekannt, haben Leipzig und Halle den Wachstumspfad eingeschlagen.6 Dieses Wachstum wird unter anderem von überregionalem Zuzug gespeist. Er geht aber auch mit einer Umverteilung von Bevölkerung einher. So findet beispielsweise im Freistaat Sachsen das Bevölkerungswachstum der drei großen Städte in einem insgesamt bevölkerungsseitig schrumpfenden Bundesland statt. Seit 1990 zählt Sachsen 700.000 Einwohner weniger. Von 4,77 Mill. ist die Bevölkerungszahl auf 4,08 Mill. zurückgegangen.7 Dies ist ein Verlust von 15 %. Im Zuge dessen ist das Durchschnittsalter seit 1990 um 7 Jahre auf 46,6 Jahre (2015) angestiegen.8

Die Auswirkungen dieser Entwicklungen schlagen sich in ländlichen Räumen, insbesondere peripher gelegenen, nieder. Diese Spezifizierung ist wichtig, denn ländliche Räume im Pendlereinzugsgebiet von Großstädten weisen Stabilitätsmerkmale auf. Beispielweise reicht die Strahlkraft Berlins bis 40 km ins Hinterland; nach dieser Entfernung setzt Schrumpfung ein. Diese Dimension ist auch für andere Regionen übertragbar. Im Leipziger Hinterland wirbt z. B. Eilenburg, das nordöstlich, 20 km entfernt von der Großstadt liegt, um Einwohnerzuzug. Dafür hat die Stadt eine Wohnstandortkampagne mit dem Slogan »Lieblingsstadt Eilenburg – das Beste an Leipzig« gestartet.9 Geworben wird u. a. mit dem Angebot preiswerter und attraktiver Wohnungen sowie der guten Verkehrsverbindung nach Leipzig. Des Weiteren bieten die Seenlandschaften im Leipziger ›Neuseenland‹ südlich der Stadt interessante Wohn­standorte. Allerdings ist auch hier für deren Inanspruchnahme und damit für die Entspannung des Wohnungsmarktes in Leipzig die Kombination aus attraktiver Wohnlage und Pendelerreichbarkeit der Städte Leipzig oder Chemnitz entscheidend. 


Demgegenüber erfahren die eher peripher gelegenen Räume weiteren Einwohnerverlust. Damit sind qualitative Auswirkungen wie demographische Verschiebungen im Sinne von zunehmender Alterung, ökonomischer Schwäche, geringe Steuereinnahmen und Infrastrukturreduzierung, in deren Folge die öffentliche Daseinsvorsorge nicht mehr gewährleistet ist, verbunden. So­ziale Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit, resignative Stimmung, ausgedünnte Zivilgesellschaft und deprivierte Lebenslagen treten gehäuft auf.10 Die Lebensqualität in den betroffenen Kommunen sinkt und setzt eine Abwärtsspirale in Gang. Weiterer Wegzug, Wohnungsleerstand sowie geringe Pass­fähigkeit des Wohnungsbestandes in Anbetracht der Zunahme von Senioren und Pflegebedürftigen sind weitere Herausforderungen vor Ort.11 Damit vertiefen sich die sozialräumlichen Unterschiede zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen weiter. 


Diese regionale Perspektive soll nun auf städtischer Ebene am Beispiel von Leipzig präzisiert werden.


Städtische Ebene


Leipzig verzeichnet seit Anfang der 2000er Jahre einen Einwohnerzuwachs. Dieser ist seit 2010 auf einen Wert von jährlich über 10.000 neuen Einwohnern (2–3 %) stark angestiegen. Darüber hinaus kann Leipzig seit 2014 ein Geburtenplus aufweisen. Leipzig gilt derzeit als die am schnellsten wachsende Großstadt in Deutschland (pro EW).12 Gegenüber dem Tiefststand im Jahr 1998 mit ca. 440.000 Einwohnern hatte Leipzig am Ende des 2. Quartals 2016 bereits 572.890 Einwohner zu verzeichnen. Allein seit dem 2. Quartal 2015 wurde ein Einwohnergewinn von ca. 16.000 Personen registriert.13 Damit wurden die bisherigen Einwohner-Prognosen bei weitem übertroffen. Denn Ende der 1990er Jahre war Leipzig noch als ›Schrumpfungshauptstadt‹ bekannt. Jetzt ist ein massives Wiederwachstum eingetreten, dass mit erheblichem Bedarf an Wohnraum und sozialen Infrastruktureinrichtungen verbunden ist. Leipzig ist eine Stadt der Extreme14, die in zeitlich relativ kurzen Abschnitten exemplarisch für unterschiedliche städtische Entwicklungspfade steht. Je nach konzeptionellem Ansatz werden sie als Wachstum, Schrumpfung, Reurbanisierung, Wiederwachstum bezeichnet.


In allen Pfaden, also sowohl in der schrumpfenden als auch in der wieder wachsenden Stadt, sind sozialräumliche Differenzierungsprozesse bis hin zu residentieller Segregation festzustellen. Bislang stets als Merkmal knapper Wohnungsmärkte in wachsenden Städten betrachtet, auf denen Verdrängungen stattfinden, treten auch unter Schrumpfungsbedingungen sozialräumliche Differenzierungen auf. Entsprechende Belege konnten unsere Forschungen erbringen. Um das Jahr 2000 sah sich der Wohnungsmarkt in Leipzig mit 60.000 leeren Wohnungen, das waren 20 % des Bestandes, konfrontiert. Somit war die Wohnmobilität hoch (›Mieterhopping‹). Ein intensives und problemloses Umzugsverhalten insbesondere jüngerer und statushöherer Gruppen führte zu Veränderungen sozialräumlicher Strukturen auf lokaler Ebene. In den von Leerstand, Brachen und Verfall gekennzeichneten Teilräumen blieben ältere und weniger mobile Bewohner zurück. Somit war der Bevölkerungsrückgang sozio-demographisch selektiv. In den weniger begehrten Teilräumen konzentrierten sich statusniedrige Gruppen trotz allgemein sinkender Mietpreise. Somit bleiben Segregationserscheinungen unter Schrumpfungsbedingungen nicht nur erhalten, in einzelnen Quartieren prägen sie sich neu aus und in manchen verschärfen sich auch15

Das aktuell starke Bevölkerungswachstum hat eine große Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt ausgelöst. Infolgedessen hat im Jahr 2015 die Leipziger Baubürgermeisterin die Förderung des Abrisses von Wohnhäusern beendet. Auf die hohe Wohnungsnachfrage reagiert der Markt mit steigenden Miet- und Kaufpreisen, wodurch Verdrängungseffekte in begehrten Lagen ausgelöst werden. Anzeichen von Gentrifizierung und Segregation sind zu registrieren.16 In wenigen Jahren hat sich der Wohnungsleerstand auf ein geringes Maß von ca. 5 % reduziert, so dass Abriss heute kein Thema mehr ist und die Mieten steigen. Der Wohnungsneubau hat in den letzten Jahren zugenommen. Allerdings konzentrieren sich die geschätzten 8.000 neu gebauten Wohnungen fast ausschließlich im hochpreislichen Segment (>8 € pro qm).17 Eingestreut in zentrumsnahe gute Lagen entstehen »Mittelschichtinseln«18, die auf eine Distinktion der Bewohner und eine kleinräumige Segregation hinweisen.


Aber vielmehr ist bezahlbarer Wohnraum erforderlich. Verfügbare Flächen sind gut zu nutzen, mehrgeschossige Neubauten sind geplant. Laut Aussage von Leipzigs Oberbürgermeister Jung wird ein soziales Wohnungsbauprogramm gebraucht, das ca. 1.800 gestützte Wohnungen pro Jahr mit 6,50 € Kaltmiete umfasst. Dies sei eine zentrale Voraussetzung, um das Ziel zu erreichen, bis zum Jahr 2030 700.000 Einwohner zu beherbergen.19

Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Analyse zeigen, dass unter den in den letzten 12 Monaten nach Leipzig Zugewanderten alle Altersgruppen vertreten sind. Das Durchschnittsalter beträgt 33 Jahre; es sind demnach nicht nur Studierende und Auszubildende. Obwohl der Arbeitsplatz oder der Stu­dienplatz die zentralen Gründe sind, stehen laut der Befragung familiäre Bezüge und der betonte Wunsch, in einer attraktiven Stadt zu leben, an vorderer Stelle. Das Zusammenspiel der genannten Merkmale ist entscheidend. Gesucht werden Wohnungen in zentrumsnahen Gebieten, wo bereits in der jüngeren Vergangenheit Zuwanderung stattgefunden hatte. Hier gibt es jedoch Engpässe. Doch interessant ist, dass kein Stadtgebiet per se völlig abgelehnt wird. Somit gilt es, die Potenziale der verschiedenen Stadtteile noch stärker in die Öffentlichkeit zu rücken und diese als reizvolle Wohnstandorte zu empfehlen.20 Diese Perspektive soll am Beispiel der Großsiedlung Leipzig-Grünau weiter verfolgt werden.


Quartiersebene


Wird die Quartiersebene stärker beleuchtet, dann ist in Leipzig die räumliche Diversität von Baustrukturen und Lagebeziehungen sowie sozialen, infrastrukturellen und ökologischen Merkmalen zu beachten. Jedes Quartier weist eine spezifische Charakteristik auf. Um einen Überblick über die Diversität von Quartieren und damit eine Grundlage für weitere Analysen zu erhalten, wurde von uns eine systematische Erfassung von Typen sozialer Räume im Rahmen der Erarbeitung des »Sozialatlas der Stadt Leipzig« vorgenommen.21 Es konnten sieben Typen sozialer Räume ausgewiesen werden. Für die weitere Diskussion wird der Typ ›Hochverdichtetes Großneubaugebiet mit gemischter Bewohnerstruktur‹, heute benannt als ›Großwohnsiedlung‹, ausgewählt. 


Als prominentes Beispiel steht dafür Leipzig-Grünau. Der von 1976 bis 1989 errichtete Plattenbaubestand umfasste zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung etwa 35.000 Wohneinheiten für ca. 85.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Aktuell wohnen ca. 42.000 Personen in der Großwohnsiedlung. Im Zuge der Stadtumbaumaßnahmen sind ca. 7.000 Wohnungen abgerissen worden. 


Großwohnsiedlungen gelten gemeinhin als die städtischen Quartiere, in denen sich soziale Probleme konzentrieren und die für Segregation stehen. Die Prozesse nach der gesellschaftlichen Wende in Ostdeutschland manifestierten sich besonders in den Großwohnsiedlungen, die als bauliches Spiegelbild einer untergegangenen Gesellschaftsordnung deklariert wurden.22 Massiver Wegzug und Leerstand, der bis zu Abrisserfordernissen führte, wurden als Belege dafür betrachtet. Jedoch setzte sich in den Folgejahren die Erkenntnis durch, dass Großwohnsiedlungen sehr unterschiedliche Potenziale aufweisen und deren baulichen und sozialen Entwicklungschancen differenziert und kontextspezifisch zu bewerten sind.23

Wichtige Argumente für dieses Herangehen liefert die »Intervallstudie Grünau«24, eine über 35 Jahre geführte soziologische Langzeitbeobachtung der Prozesse in der Leipziger Großwohnsiedlung aus Bewohnerperspektive. Die Studie zeigt den Wandel von einem homogenen zu einem heterogenen Stadtteil aus der Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner. Es wurden bisher 10 repräsentative Befragungen von 1979 bis 2015 durchgeführt.25 Die Ergebnisse belegen, dass die Beschreibung der Plattenbausiedlung als ›homogene graue Masse‹ längst der Vergangenheit angehört. Wird kleinteilig nach Ortsteilen bzw. Quartieren unterschieden, dann können sowohl sozialstrukturell als auch baustrukturell und bezogen auf das Wohnumfeld unterschiedliche Teilräume festgestellt werden. Sie unterscheiden sich demographisch, sozialstrukturell und hinsichtlich ihres Images. Imagekampagnen und gezielte gebietsinterne Differenzierungen werden durch äußere Attribute untersetzt, z. B. durch Betitelungen wie ›Quartier am See‹ oder ›Regenbogenviertel‹, durch intensive Farbgebung kombiniert mit hochwertigen Freiraummöblierungen und/oder durch die Umzäunung von Blockstrukturen. Dadurch soll hohe Wohnqualität, soziale Intaktheit und Sicherheit sowie eine Distinktion zu benachbarten, vermeintlich schwächeren Quartieren demonstriert werden. Die beginnende Ergänzung und Durchmischung des Plattenbaubestandes mit anderen Baustrukturen durch mehrgeschossige Neubauten innerhalb des Gebietes und durch Einfamilienhäuser und Zeilenbauten unmittelbar räumlich angrenzend an die Großwohnsiedlung sind Zeichen für die Stabilisierung und die Zukunftsfähigkeit des Stadtteils. Denn nach Jahren des Einwohnerverlustes sind nunmehr nicht nur eine Stabilisierung der Einwohnerzahl sondern auch ein leichtes Anwachsen festzustellen. Die jüngsten Befragungsergebnisse zeigen, dass der Zuzug durch unterschiedliche sozialstrukturelle und demographische Gruppen getragen wird und nicht allein durch Niedrigeinkommensbezieher.26 Hierfür sind das differenzierte Wohnungsangebot und die ansprechenden Wohnumfeldbedingungen verantwortlich, welche auch Besserverdienende und Gutqualifizierte ansprechen.


Die Ergebnisse der soziologischen Erhebung von 2015 im Rahmen der »Intervallstudie Grünau« bestätigen, dass die Einwohner des Stadtteils sich anhaltend in hohem Maße wohlfühlen (Abb. 1). 


Abb. 1: Vergleich des Wohlfühlens in Grünau in den Stichproben 1979–2015. Quelle: Kabisch u. a., Grünau 2015 (Fn. 25). 
 Abb. 1: Vergleich des Wohlfühlens in Grünau in den Stichproben 1979–2015. Quelle: Kabisch u. a., Grünau 2015 (Fn. 25). 


Mehr als zwei Drittel aller Befragten (68 %) antworten 2015 auf die Frage, ob sie sich in Grünau wohlfühlen, mit ›ja‹. Knapp ein Drittel machte Einschränkungen geltend. Nur insgesamt elf Personen antworten mit ›nein‹. Seit 1979 wird diese Frage in der Intervallstudie Grünau gestellt. Nach anfangs hohen Zufriedenheitswerten, ging die Zustimmung zum Stadtteil Grünau in den 1990er Jahren zurück. Langsam hat sich dies wieder gewandelt. Seit 2004 werden wieder anhaltend hohe Zufriedenheitswerte erreicht. 


Damit wird die hohe Zustimmung der Befragten zu ihrem Stadtteil signalisiert. Werden die Befragungsergebnisse nach den Altersgruppen differenziert, dann zeigen sich Unterschiede. Ältere, insbesondere die Gruppe der über 65jährigen, stimmen mit fast 80 % uneingeschränkt der Aussage zu, dass sie sich in Grünau wohlfühlen. Jüngere machten dagegen in stärkerem Maße Einschränkungen geltend. Das Ergebnis wird auch durch die Zustimmung zu der Aussage »Die alten Grünauer hängen an Grünau« untermauert. Auf einer 5er-Antwortskala wurde der sehr hohe Mittelwert von 4,4 erreicht, allein 58 % aller Befragten wählten die höchste Kategorie ›stimme voll zu‹ (5). 


Die Frage nach dem Grad des Wohlfühlens wurde mit der Bitte um Erläuterung der Antwort mit eigenen Worten kombiniert. Zunächst ist festzustellen, dass etwa doppelt so viele zustimmende Erläuterungen gegeben wurden wie ablehnende. Vier Kriterien dominierten: der hohe Grünanteil, die gute Versorgungsinfrastruktur, die geschätzte Verkehrsanbindung und die Ruhe. Die hohe Zustimmung zu der Aussage »In Grünau kann ich städtisch wohnen und naturnah leben« (Mittelwert 4,1 auf einer 5er-Antwortskala) bestätigt das Ergebnis. 


Demgegenüber bestimmen drei Aspekte die ablehnende Perspektive der Befragten: das als kritisch angesehene soziale Umfeld, die mangelnde Sauberkeit und Sicherheitsbedenken (Diebstahl). Dabei ragt die kritische Betrachtung des sozialen Umfeldes deutlich heraus. Es ist demnach festzuhalten, dass die materiell-physischen Merkmale der Großwohnsiedlung Grünau gewürdigt werden. Dagegen sind soziale Merkmale, die das Zusammenleben betreffen, der Hauptgrund der Einschränkungen. Diese Einschätzungen und Wahrnehmungen aus Bewohnerperspektive konnten in den vorangegangenen zwei Erhebungen ebenfalls herausgefiltert werden. Sie sind offensichtlich die prägenden Bestandteile des Eigenbildes der Bewohnerinnen und Bewohner von ihrer Großwohnsiedlung. 


Diese Komponenten haben auch in der differenzierten Betrachtung der fünf Ortsteile Grünaus Bestand. Allerdings erfahren sie in der detaillierten Analyse wichtige Ergänzungen. So erhalten z. B. die Angebote für Kinder hinsichtlich Kindertagesstätten, Schulen oder Spielplätzen und die Qualität derselben eine unterschiedliche Bewertung. Es kristallisiert sich der Ortsteil Grünau-Mitte als derjenige heraus, in dem die kritischsten Merkmalsausprägungen hinsichtlich der Zufriedenheit mit den Wohnbedingungen und auch bezüglich der Zukunftsperspektiven geäußert werden. Die detaillierte Betrachtung soziodemographischer Merkmale (z. B. relativ geringes Äquivalenzeinkommen, notwendige Unterstützung bei Mietzahlung) und der Beurteilung der Wohnbedingungen vor Ort stößt sogar auf Differenzierungen zwischen Blockstrukturen. Damit sind kleinteilige sozialräumliche Unterschiede, die von hoher Zustimmung zum Wohnstandort bis zur Ablehnung und einem problematischen Zusammenleben reichen, belegbar.


Um den Verweis auf die Flüchtlingsthematik zu Beginn dieses Beitrages wieder aufzunehmen: Anhand der Untersuchungsergebnisse kann gezeigt werden, dass in der ortsteilspezifischen Analyse die Wahrnehmung des Zusammenlebens mit Migranten auffällig war. Gefragt nach den Vorzügen und Schwächen ihre Ortsteils antworteten die Bewohner in den Ortsteilen, in denen Flüchtlingsunterkünfte existieren und in denen darüber hinaus der Anteil von Migranten an der Wohnbevölkerung sehr hoch ist, dass dies eine Schwäche des Ortsteils sei. Dies trifft für den bereits erwähnten Ortsteil Grünau-Mitte besonders zu. Hier führt die Überlagerung von Mängeln an den Wohnbedingungen, kritischen sozialstrukturellen Merkmalen und einem hohen Migrantenanteil zur Herausbildung von Problemen im Zusammenleben. In der Konsequenz denkt ein überdurchschnittlich großer Anteil der Befragten über einen Wegzug aus dem Quartier nach. 


Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Umgang mit Migranten und Asylbewerbern Verunsicherung, Zurückhaltung bis hin zu Ablehnung unter den Bewohnerinnen und Bewohnern in der Großwohnsiedlung anzutreffen ist. Dies ist umso erstaunlicher, da etwa die Hälfte der Befragten bis zum Zeitpunkt der Erhebung keinen Kontakt zu Migranten und Flüchtlingen hatte. Doch gerade dann überwogen Sorgen und Ängste. Deshalb werden sachliche und wiederholte Informationsangebote zum aktuellen Stand der Entwicklung vor Ort erwartet.


Zusammenfassung


Die Analyse sozialräumlicher Differenzierung mit Bezug auf Prozesse der ­Bevölkerungsentwicklung lassen sich, wie gezeigt wurde, auf unterschied­lichen Skalen und für verschiedene Entwicklungspfade aufzeigen. Wachstums- und Schrumpfungsprozesse im Sinne von Bevölkerungsgewinn oder -verlust auf regionaler, städtischer oder Quartiersebene werden von sozialräumlichen Ausprägungen begleitet. Unterschiedlich geprägte Siedlungsstrukturen gehören zur Vielfalt des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sozialräumliche Differenzierungen werden erst dann problematisch, wenn sie verfestigte Strukturen bilden, die ungleiche Chancen an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben produzieren – wenn die Wohnadresse zur stigmatisierten sozialen Adresse wird. 


Diese Perspektive erlangt in Bezug auf Potenziale und Zukunftschancen von Großwohnsiedlungen besondere Bedeutung. Wie am Beispiel von Leipzig-Grünau gezeigt wurde, treffen hier Gunstfaktoren (bezahlbares Wohnungsangebot für unterschiedliche Bewohnergruppen, viel Grün und Ruhe, gute infrastrukturelle Versorgung) mit Herausforderungen des sozialen Zusammenlebens zusammen. Es sind kleinräumige Unterschiede festzustellen, die sich in einer Großwohnsiedlung voraussichtlich weiter ausprägen werden. Diese Differenzierung auf verschiedenen Ebenen ist aber nicht zwangsläufig und in jedem Fall als residentielle Segregation zu identifizieren. Gerade in dieser Unterschiedlichkeit der Teilräume und damit einer möglichen Auflösung des Gesamtkörpers Großwohnsiedlung liegen dessen Zukunftschancen.


Auch in Zukunft werden die Fragen sozialräumlicher Differenzierung bis hin zu Segregationserscheinungen für die Stadt- und Quartiersentwicklung zentral bleiben. Insbesondere sind durch die Notwendigkeit der Integration von Migranten neue Herausforderungen entstanden, die bislang durch die Forschung nur zum Teil aufgegriffen wurden. 


  1. 1Tilmann Harlander, Gerd Kuhn und Wüstenrot Stiftung (Hg.), Soziale Mischung in der Stadt, Stuttgart 2012; Hartmut Häußermann, Martin Kronauer und Walter Siebel (Hg.), An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung, Frankfurt a. M. 2002.

  2. 2WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (Hg.), Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte, Hauptgutachten,Berlin 2016.

  3. 3Sigrun Kabisch und Christian Kuhlicke, »Urban Transformations and the Idea of Resource Efficiency, Quality of Life and Resilience«, in Built Environment 40/4 (2014), S. 475–485.

  4. 4Manuel Wolff und Tim Leibert, »Deutschlands neue Raummuster – Bevölkerungsentwicklungen auf Gemeindeebene 1990 bis 2014«, in Nationalatlas aktuell 10/3 (2016).

  5. 5Ebd., Karte 1, Mittlere jährliche Bevölkerungsentwicklung 2011–2014.

  6. 6Manuel Wolff und Annegret Hasse, »Stadtregion Leipzig-Halle jenseits der Schrumpfung: neues Wachstum und Stabilisierung«, in Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen (Hg.), Statistischer Quartalsbericht I/2015, Leipzig 2015, S. 36–42.

  7. 7Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hg.), Bevölkerung im Freistaat Sachsen, Kamenz 2016, https://www.statistik.sachsen.de/download/010_GB-Bev/K_Tabellen_2015.pdf (20.7.2017).

  8. 8Freistaat Sachsen, Demografiemonitor Sachsen, http://www.demografie.sachsen.de/monitor/html/atlas.html (20.7.2017).
  9. 9Große Kreisstadt Eilenburg, Eilenburg, www.lieblingsstadt-eilenburg.de (20.7.2017).

  10. 10Patrick Küpper u. a., Regionale Schrumpfung gestalten, hg. von Johann Heinrich von Thünen-Institut und Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Braunschweig und Bonn 2013.

  11. 11Peter Bischoff und Dieter Rink, Nachhaltige Entwicklung im ländlichen Raum unter den Bedingungen von Schrumpfung, Leipzig 2013 (= UFZ-Bericht 02/2013).

  12. 12Annegret Haase und Dieter Rink, »Inner-city transformation between reurbanisation and gentrification: Leipzig, Eastern Germany«, in Geografie 120/2 (2015), S. 226–250.

  13. 13Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen (Hg.), Statistischer Quartalsbericht 2/2016, Quartalszahlen für das II. Quartal 2016, Leipzig 2016, S. 47–66.

  14. 14Dieter Rink, »Zwischen Leerstand und Bauboom: Gentrifizierung in Leipzig«, in Franz Eckardt, Renè Seyfarth und Franziska Werner (Hg.), Leipzig: Die neue Ordnung der unsichtbaren Stadt, Münster 2015, S. 88–107.

  15. 15Katrin Grossmann u.  a., »Sozialräumliche Segregationsmuster in schrumpfenden Städten«, in Peter A. Berger u. a. (Hg.), Urbane Ungleichheiten. Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, Wiesbaden 2014, S. 89–116; Katrin Grossmann u. a., »The influence of housing oversupply on residential segregation. Exploring the post-socialist city of Leipzig«, in Urban Geography 36/4 (2015), S. 550–577.
  16. 16Dieter Rink, »Leipzig – Stadt der Extreme«, in Leipziger Blätter, Sonderheft Leipzig wächst. Stadt. Mensch. Umland, Leipzig 2015, S. 4–7; Haase und Rink, Inner-city transformation (Fn. 12).

  17. 17Dieter Rink u. a., »Das gehobene Wohnsegment in Leipzig«, in Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen (Hg.), Statistischer Quartalsbericht II/2014, Leipzig 2014, S. 25–30.

  18. 18Susanne Frank, »Innere Suburbanisierung als Coping-Strategie: Die ›neuen Mittelschichten‹ in der Stadt«, in Berger u. a., Urbane Ungleichheiten (Fn. 15), S. 157–172.

  19. 19Leipziger Volkszeitung (LVZ), 8.9.2016.

  20. 20Juliane Welz, Sigrun Kabisch und Annegret Haase, »Meine Entscheidung für Leipzig. Ergebnisse der Wanderungsbefragung 2014«, in Stadt Leipzig, Statistischer Quartalsbericht II/2014 (Fn. 17), S. 19–24.

  21. 21Sigrun Kabisch, Annegret Kindler und Dieter Rink, Sozialatlas der Stadt Leipzig, hg. von UFZ –Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH, Leipzig 1997.

  22. 22Christine Hannemann, Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Berlin 2000; Carsten Keller, Leben im Plattenbau. Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt a. M. / New York 2004.

  23. 23U. a. Nico Grunze, »Stadtumbau Ost und die ostdeutschen Großwohnsiedlungen – bunte Vielfalt statt graues Plattenbaueinerlei«, in Uwe Altrock u. a. (Hg.), Jahrbuch Stadterneuerung 2012, Berlin 2012, S. 279–296.
  24. 24Alice Kahl, Erlebnis Plattenbau. Eine Langzeitstudie, Opladen 2003.

  25. 25Sigrun Kabisch, Maximilian Ueberham und Max Söding, Grünau 2015. Ergebnisse der Einwohnerbefragung im Rahmen der Intervallstudie »Wohnen und Leben in Leipzig-Grünau«, Leipzig 2016 (= UFZ-Bericht 02/2016).

  26. 26Ebd.
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Heft 18 (2017)
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