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Bildnis der Charlotte von Stein, um 1790; Klassik Stiftung Weimar, Museen Bildnis der Charlotte von Stein, um 1790; Klassik Stiftung Weimar, Museen

Charlotte von Stein – Schriftstellerin, Freundin und Mentorin


Herausgegeben von Elke Richter und Alexander Rosenbaum


Supplemente zu den PROPYLÄEN. Forschungsplattform zu Goethes Biographica


Herausgegeben von der Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. De Gruyter, Berlin/Boston 2018


Obgleich ihr Name in zahlreichen Publikationen Erwähnung findet, obwohl ihr Lexikonartikel und Biographien gewidmet sind, wird Charlotte von Stein noch immer meist nur im Bezug zu Goethes Leben und Werk wahrgenommen. Auch wenn die Freundschaft mit ihm ihre geistige und künstlerische Entwicklung nachhaltig prägte und sie ohne diese Beziehung heute wohl nur noch wenigen bekannt wäre, führte sie kein Leben ›aus zweiter Hand‹ und ist nicht zu reduzieren auf ein Dasein als ›Goethes Muse‹ oder ›Goethes Bildungserlebnis‹. Neben ihren Repräsentationspflichten als Angehörige des Hofadels und Frau des herzoglichen (Ober-)Stallmeisters, oblagen Charlotte von Stein die Organisation und Planung des Haushalts in Weimar und Kochberg und die Sorge für die Erziehung der Kinder, das Wohlergehen ihres Ehemanns sowie weiterer Familienmitglieder und Freunde. In keiner Phase ihres Lebens aber beschränkte sich ihr Betätigungsfeld auf diese traditionell weiblichen Rollen. Literarisch gebildet und geistig eigenständig, trat sie selbst als Autorin hervor, verfasste Dramen, Erzählungen und Gedichte, zeichnete und musizierte, trieb botanische Studien, interessierte sich für Gesteinskunde, Astronomie, Philosophie und das Zeitgeschehen. Als Hofdame der Herzoginmutter Anna Amalia (bis 1764), als enge Vertraute der jungen Herzogin Louise, befreundet mit Herzog Carl August, Christoph Martin Wieland, Caroline und Johann Gottfried Herder, Charlotte und Friedrich (von) Schiller sowie lebenslang verbunden mit dem Prinzenerzieher, Übersetzer, Dichter und Goethe-Freund Carl Ludwig von Knebel, war Charlotte von Stein eine der zentralen Figuren im Weimar des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise ist sie im Unterschied zu anderen Freundinnen Goethes nicht mit ihrem Vor­namen, etwa als ›Lotte‹ oder gar ›Lottchen‹, in die Literatur eingegangen, sondern als ›Frau von Stein‹. Dieser zwar einen gewissen Respekt bezeugende, zugleich aber Distanz wahrende Name, erscheint symptomatisch für das Verhältnis der Nachwelt zu ihrer Person. Als eine der »widersprüchlichsten Erscheinungen« in der deutschen Literaturgeschichte hat Susanne Kord sie in der Einleitung zur Neuausgabe der Steinschen Werke bezeichnet.1 Ein stärkeres Bemühen, Charlotte von Stein als eigenständige, von ihrer Beziehung zu Goethe unabhängige Persönlichkeit zu würdigen, setzte erst in den 1990er Jahren ein. Dies ging einher mit der Wiederentdeckung ihrer literarischen Werke, die man bis dahin entweder gar nicht oder allenfalls als Schlüsseltexte und Goethe-Persiflagen zur Kenntnis genommen hatte.


Anlässlich des 275. Geburtstages von Charlotte von Stein im Jahr 2017 präsentierte das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar in einer Kabinettausstellung Erinnerungsstücke, Werkmanuskripte, Briefe und Bildnisse aus den Beständen der Klassik Stiftung Weimar, des Freien Deutschen Hochstifts/Frankfurter Goethe-Museum und des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Begleitend zur Ausstellung widmete sich eine internationale Tagung der Persönlichkeit und dem Werk Charlotte von Steins im zeithistorischen Kontext. Ausstellung und Tagung stehen im Zusammenhang mit der Arbeit an der historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen, zu der der Band ein Supplement bildet. Insgesamt haben sich mehr als 1.700 Briefe Goethes an Charlotte von Stein erhalten, so viele wie an keine andere Person. Die Briefe erscheinen nach und nach im Rahmen der Gesamtausgabe, neu ediert nach den Handschriften und erstmals umfassend wissenschaftlich erläutert. Für den Kommentar werden neben der Sekundärliteratur auch bislang ungedruckte handschriftliche Quellen herangezogen, was zur Neubewertung der Persönlichkeit der Adressatin und ihres Verhältnisses zu Goethe führt. Die Ergebnisse der bisherigen Recherchen sind u. a. in die einleitende Erläuterung zur Korrespondenz Goethes mit Charlotte von Stein aus den Jahren 1776 bis 1779 eingeflossen; auf dieser Einführung beruht der den Band eröffnende Beitrag von Elke Richter. Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Person und dem Werk Charlotte von Steins ist ihr Nachlass, von dem sich größere Teile in öffentlichen Archiven und Bibliotheken befinden, darunter im Goethe- und Schiller-Archiv. Vor allem dieser Nachlassteil wird in einem nachfolgenden Beitrag vorgestellt, an den sich die Faksimile-Edition von Charlotte von Steins frühem Dramolett Rino anschließt, dessen lange verschollene Handschrift im Frühjahr 2017 für das Archiv erworben werden konnte.


Im zweiten Teil folgen die Tagungsbeiträge und ergänzende Aufsätze zu den thematischen Schwerpunkten. Den Auftakt bilden drei Beiträge zur »Schriftstellerin Charlotte von Stein«, die sich jeweils einem ihrer Dramen zuwenden. Gaby Pailer stellt am Beispiel der Zwey Emilien (1803), der originellen dramatischen Adaption einer englischen Romanvorlage, Fragen nach den Strategien weiblicher Autorschaft und geht auf die ungewöhnliche Publika­tionsgeschichte dieses einzigen zu Lebzeiten Steins gedruckten Werkes ein. Die Transformation eines antiken Stoffes untersucht Ariane Ludwig anhand der Tragödie Dido (1794/95), die sich durch den souveränen Umgang mit den literarischen Quellen und deren produktive Aneignung auszeichnet. Ausgehend vom vieldeutigen Titel des Lustspiels Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe (1798/1799) weist Linda Dietrick die (komischen) Bezüge zum Freiheitsbegriff der Französischen Revolution, zum botanischen System Carl von Linnés und der Fichteschen Wissenschaftslehre nach. 


Der Schwerpunkt »Weibliche Briefkultur« ist nicht allein der Briefschreiberin Charlotte von Stein gewidmet, sondern stellt diese in das Umfeld der zeitgenössischen Epistolografie. Der Verflochtenheit verschiedener Ebenen epis­tolärer Netzwerke spürt Jörg Paulus am Beispiel einiger Briefe Charlotte von Steins an Knebel nach, die als Teil der erst im späteren 19. Jahrhundert entstandenen »Sammlung Culemann« im Stadtarchiv Hannover neue »Assemb­lagen« konstituieren. Versuch über die Liebe im ständischen Zeitalter überschreibt Ulrike Leuschner ihre vergleichende Analyse zweier ›empfindsamer‹ Liebesbriefwechsel, die auf unterschiedliche Weise Gattungsgrenzen sprengen und den Funktionswechsel des Mediums im ausgehenden 18. Jahrhundert veranschaulichen. Anhand der Briefe Charlotte von Steins an Charlotte von Schiller geb. von Lengefeld untersucht Helga Meise Lektüregewohnheiten und mediale Funktionszusammenhänge von Buch und Brief sowie die Möglichkeiten und Paradoxien weiblichen Schreibens. Neben den Ausleihjournalen der Herzoglichen Bibliothek in Weimar sind es vor allem die Briefe an Knebel, aus ­denen Annette Mönnich Aufschlüsse über die Art und den Umfang der Lektüren Charlotte von Steins gewinnt. Beeindruckend ist die Spannweite ihrer literarischen Interessen, die sich keineswegs auf deutsche Autoren oder bestimmte Genres beschränken, sondern die französischen Aufklärer, philosophische, naturkundliche und historisch-politische Schriften ebenso umfassen wie die antike Literatur. 


Unterschiedliche wissenschaftliche Fragestellungen kennzeichnen auch die Beiträge zum Thema »Soziale Handlungsräume«. Ausgehend von der Differenz zwischen ›Hofdame‹ und ›Dame am Hof‹ charakterisiert Stefanie Freyer die Rolle Charlotte von Steins am Weimarer Hof zwischen 1760 und 1820 als die einer »machtvolle[n] Maklerin fürstlicher Gunst«, der es auf ungewöhnliche Art gelingt, beide Handlungsspielräume zu verknüpfen. Anja Stehfest stellt Charlotte von Steins 1803 unternommene Schlesienreise in den sozialhistorischen Kontext der Frauenreisen um 1800 als Ausdruck weiblicher Selbstbehauptung und Form der Emanzipation. Die Rollen als Ehefrau und Mutter untersucht Yvonne Pietsch auf Grundlage der mehr als 300 im Goethe- und Schiller-Archiv überlieferten Briefe Charlotte von Steins an ihren jüngsten Sohn Friedrich. Während das Verhältnis zu Josias von Stein im Wesentlichen den in adligen Konvenienzehen üblichen Beziehungen entsprach, bestand zumindest zum jüngsten Sohn eine besondere Nähe und emotionale Bindung, die über das gesellschaftlich zugedachte Maß einer Mutter-Kind-Beziehung weit hinausgingen und den Einfluss Rousseauscher Erziehungsideale wie den Perspektivwechsel im sozialen Rollenverständnis bezeugen. 


Die Vielfalt der geistigen und musischen Interessen Charlotte von Steins spiegeln die Beiträge zum letzten Themenfeld »Kunst und Wissenschaft«. In der Forschung kaum Beachtung fand die Zeichnerin Charlotte von Stein, mit der sich Alexander Rosenbaums Beitrag beschäftigt. Er bietet nicht nur eine Reihe bisher unbekannter Details zur Ausbildung Charlotte von Steins in der Herzoglichen Freyen Zeichenschule und zu ihrer Beteiligung an den jährlich stattfindenden Ausstellungen, sondern ebenso neue Erkenntnisse zu ihren wenigen überlieferten Zeichnungen und (Selbst)-Porträts. Ein verwandtes Thema behandelt Héctor Canal, der Charlotte von Stein als Porträtierte in Lavaters Physiognomischen Fragmenten in den Blick nimmt. Vor allem die 1783 in der französischen Ausgabe erschienene Ganzkörpersilhouette von Steins und ­deren enthusiastisch-idealisierende Beschreibung prägten das seit Mitte des 19. Jahrhunderts tradierte Bild der hochgesinnten, alle Affekte beherrschenden Goethe-Freundin und -Muse. Einen weiten Bogen zu Philosophie und Naturwissenschaft schlägt der den Sammelband beschließende Beitrag von Jutta Eckle. Eingangs wird ein bisher kaum beachteter Aspekt in Charlotte von Steins Biografie beleuchtet, ihre im Austausch mit Herder ausgeübte Vermittler-Rolle bei Goethes Spinoza-Lektüre sowie ihr Anteil an der Entstehung seiner erst postum erschienenen Studie nach Spinoza. Der zweite Teil des Beitrags widmet sich Steins naturkundlich-anthropologischen Interessen und ihrer Teilnahme an Goethes Mittwochsvorträgen zur Naturlehre.


Begleitend zu den Beiträgen werden im Anhang 25 Briefe Charlotte von Steins aus den Jahren 1776 bis 1825 an wichtige Korrespondenzpartner und -partnerinnen mitgeteilt, darunter an ihren Sohn Friedrich, den Freund Carl Ludwig von Knebel, die Schwägerin Sophie von Schardt und die Freundin Charlotte von Schiller. Die Texte sind bislang unveröffentlicht oder nur ungenau und in Auszügen gedruckt. Sie werden hier erstmals vollständig nach den Handschriften wiedergegeben. Der zweite Teil des Anhangs dokumentiert als Katalog die 2017 im historischen Mittelsaal des Goethe- und Schiller-Archivs veranstaltete Ausstellung Charlotte von Stein – Schriftstellerin, Freundin und Mentorin. Sie wurde am 19. Januar 2017 mit einer von Hanns Zischler gestalteten Lesung eröffnet und lief zunächst bis Mai. Aufgrund des großen Interesses wurde sie von September bis Dezember 2017 in leicht veränderter Form noch einmal gezeigt, nicht zuletzt deshalb, um die kurz zuvor für das Goethe- und Schiller-Archiv erworbene Rino-Handschrift erstmals der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nicht in der Ausstellung zu sehen war der im Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt überlieferte Brief von Josias von Stein an seine Frau, der im Katalog erstmals veröffentlicht wird.


Anliegen des Bandes ist es, einen Überblick zum derzeitigen Stand der Forschung zu geben und in Abgrenzung zu populärwissenschaftlichen und fiktiven Darstellungen die historische Person Charlotte von Stein aus dem ›Schatten‹ Goethes heraustreten zu lassen, ihre Eigenständigkeit zu betonen und die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit sichtbar zu machen. Anknüpfend an neuere literatur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse wird der Blick auf den Alltag Charlotte von Steins gelenkt, auf ihre Beziehungen zu Familie und Freunden, die Vielfalt ihrer geistigen Interessen und künstlerischen Begabungen, ihr literarisches Werk sowie ihre sozialen Rollen als Ehefrau, Mutter und Angehörige des Weimarer Hofadels um 1800. Unterschiedlich in ihren Fragestellungen und wissenschaftlichen Methoden, basieren alle Beiträge auf Primärquellen, darunter Briefe, Tagebücher und im Hauptstaatsarchiv Weimar überlieferte Aktenbestände. Im Zusammenspiel mit den im Briefanhang und im Katalogteil veröffentlichten Dokumenten zeigen sie Charlotte von Stein als eine Frau, die durch ihre Belesenheit, ihre Allgemeinbildung, Beobachtungsgabe und Intelligenz weit mehr war als nur eine ›gelehrige Schülerin‹ Goethes oder der ›Resonanzboden‹ für seine Ideen. Scharfsichtig und originell verarbeitete sie in ihren Dramen und Briefen die gewaltsamen Umbrüche und kriegerischen Auseinandersetzungen der Epoche und reflektierte die sozialen Zwänge und Ungerechtigkeiten, denen auch Frauen ihres Standes ausgesetzt waren. Der Band versteht sich als Baustein zu einem wissenschaftlich fundierten, von den Klischees und Ressentiments des 19. Jahrhunderts befreiten Charlotte-von-Stein-Bildes und als Beitrag zur literatur- und sozialwissenschaftlichen Forschung wie auch zur Goethe-Philologie.


Friedrich von Stein, Haus der Familie von Stein in Weimar, um 1824.
 Friedrich von Stein, Haus der Familie von Stein in Weimar, um 1824.

  1. 1Charlotte von Stein: Dramen (Gesamtausgabe). Hrsg. und eingeleitet von Susanne Kord (Frühe Frauenliteratur in Deutschland. Hrsg. von Anita Runge. Bd. 15). Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. V.
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Heft 19 (2018)
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1867-7061

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