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»Brainworks«

Über die Rolle von Philosophie und Geisteswissenschaft in der Strukturierung unserer Wissenschaftslandschaft1

I.

Man spricht heute gern von einer Informations- und von einer Wissensgesellschaft. Informationen beziehen sich dabei aber zunächst immer bloß auf besondere Einzelereignisse, im Grunde auf das, was traditionell historia hieß. Des Weiteren gehört dann auch alles, was man auswendig lernen kann, zu dieser historischen Information, etwa auch der je gegenwärtige Stand der Wissenschaft, soweit diese bloß als das verbal bzw. aus Büchern lernbare theoretische Wissen aufgefasst wird. Wir können dabei heute immer nur das lernen, was gestern entwickelt wurde. Eine bloß gelernte Theorie ist daher selbst schon historisches Wissen. Erst recht aber gehören das Feuilleton ebenso wie das Konversationslexikon, die Realenzyklopädie und am Ende sogar das einführende Lehrbuch zum Bereich der Information. Während Schule und Ausbildung der Informationsweitergabe dienen, ist Bildung die Voraussetzung für jede aktive Entwicklung von Wissen. Wissenschaft beginnt, sozusagen, erst nach der Schule. Wir sollten daher Information nicht schon für Wissen halten, schulische Ausbildung nicht schon für Einführung in eine Wissenschaft. Und wir sollten die Universitäten nicht in Schulen verwandeln.2

Echtes und volles Wissen ist, dem Anspruch nach, allgemeine Kompetenz der Entwicklung und der freien, immer auch neuen, Anwendung von Information und Theorie. Es umfasst Können und Urteilskraft. Als solches ist Wissen praktische Expertise. Wissenschaft ist Wissensgenerierung. Sie verlangt, erstens, eine gute Ausbildung, also Information über den Stand des verbalisierten, verschriftlichten, auch mathematisierten Wissens. Aber das reicht bei Weitem nicht. Unabdingbar ist darüber hinaus, zweitens, was man im Deutschen »Bildung« nennt und was nicht etwa mit »education« (Ausbildung) oder auch »erudition« (Gelehrsamkeit) ins Englische zu übersetzen ist. Am ehesten passt im Englischen das Wort »formation«. Nur personale Bildung schafft autonome Kompetenz. Nur diese wiederum schafft neues Wissen und neues Können.

Eine echte Wissensgesellschaft wäre daher eine Gesellschaft, die ihre Entscheidungen auf die Kompetenz und Exzellenz von Experten gründet. Sie reicht eben damit über eine bloße Informationsgesellschaft weit hinaus. Im Grunde meinen wir mit dieser Kompetenz und Exzellenz nichts anderes als die Idee der Arete und Aristi der alten Griechen. Am besten erkennen wir Kompetenz im Kontext eines technikförmigen Könnens. Information betrifft aber auch in diesem Bereich eher die Verbreitung, Wissen hingegen immer schon die Entwicklung von Kompetenz. Aber technologische Kompetenz ist bei Weitem nicht genug. Warum dem so ist, wird genauer zu zeigen sein.

Denn gerade zur Generierung von Wissen brauchen wir nicht bloß technisch- instrumentelle, sondern auch ethische Bildung. Es gibt keine Wissenschaft und keine Wissensgesellschaft ohne die Werte bzw. Ideale der Kooperativität, Solidarität und des gegenseitigen Vertrauens, samt der zugehörigen Vertrauenswürdigkeit. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit sind die wohl wichtigsten, wenn auch schwierigsten Leitideen jeder Ethik, vor und über jeder Gleichheit und Gerechtigkeit, Pflicht und Nützlichkeit. Aber das gehört schon in ein anderes Kapitel. Zu unserer Frage gehört nur der Teilaspekt der notwendigen Rolle der Ethik für die Wissenschaft und eine Wissensgesellschaft. Da diese Frage noch kaum zureichend behandelt worden ist, ist noch ganz offen, ob wir wirklich wissen, was eine gut verfasste Wissensgesellschaft sein kann, ob wir über eine bloße Informationsgesellschaft schon hinausgekommen sind oder ob wir uns heute vielleicht gerade deswegen von einer Wissensgesellschaft weg bewegen, weil wir Wissen mit Information, Bildung mit Ausbildung, Universität mit einer höheren Schule verwechseln.

Auch in Bezug auf die Selbstzuschreibung von wissenschaftlicher Aufklärung weiß unsere Zeit offenbar nicht genau, was sie ist und was sie tut. Man meint zwar gemeinhin, einen religionsbasierten Aberglauben und bloß ›mantische‹ Weisheitslehren3 einer vermeintlich vor- oder proto-wissenschaftlichen ›Philosophie‹ nach und nach durch echte Wissenschaft ersetzt zu haben. Doch dies ist selbst eine durchaus noch unaufgeklärte Meinung über das Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Weisheit. Weder ist nämlich die Idee einer wissenschaftsbasierten Gesellschaft erst in der so genannten Neuzeit entstanden noch ist erst unsere Gegenwart bei der Umsetzung dieser Idee auf die Grundprobleme gestoßen, welche uns heute beschäftigen und in Zukunft beschäftigen werden. Dazu ist eine Erinnerung an die Entstehung und den Begriff der Philosophie als reflexives Begleitunternehmen zur Entstehung und zum Begriff der Wissenschaft wohl nötig. Denn es war Platons Protest sowohl gegen eine raunend-ahnende Weisheitsmantik, vom Orakel in Delphi bis zu bezahlten Wanderlehrern, als auch gegen selbsternannte Experten, welche zum Projekt einer Philosophie geführt hat, deren erste und vornehmste Aufgabe in der Kritik an Sophistik und damit auch an der notorischen Selbstüberschätzung von Experten besteht. Hier stoßen wir auf ein basales Problem des Begriffs bzw. der Idee einer Wissensgesellschaft. Es betrifft die Differenz zwischen wirklich kompetenten Experten und Scheinexperten, welche nicht zuletzt aufgrund der ihnen zu Gebote stehenden rhetorischen Kompetenz und Informationstechnologie von einer notwendigerweise bloß teilinformierten Öffentlichkeit für Experten auf ihrem Gebiet gehalten werden.4 Wer aber ist ein echter Experte?

Philosophie ist von vornherein, nämlich seit Platons Zeiten, eine Unternehmung zur Unterscheidung zwischen zum Teil selbsternannten, zum Teil von Laien akklamierten Scheinexperten und echten Experten. Da jedoch echte Experten von Experten, nicht von Laien, zu kontrollieren und anzuerkennen sind, gibt es offenkundig immer auch die Gefahr der kollektiven Selbstgerechtigkeit, wenn sich die Experten bloß als esoterische Gruppe selbst bestätigen. Diese Gefahr ist seit der antiken Debatte um den Pythagoräismus und sein Sektenwesen im Grundsatz bekannt. Sie ist deswegen aber noch keineswegs schon angemessen begriffen.

Philosophie erweist sich dabei seit Sokrates gerade in ihrer Kritik sowohl an exoterischen Laienpredigern als auch an einem esoterischen Expertentum als kritisches Selbstbewusstsein einer sich auf ›echte‹ Experten gründenden Wissensgesellschaft. Hinzu kommt die Kritik an allzu feinsinnigen und eben damit wissensskeptischen Sophismen. Alle drei sokratischen Kritiklinien sind daher für Wissen und Wissenschaft notwendig: die Kritik an einer Wissensesoterik ohne echte Außenkontrolle, die Kritik an einem allzu groben Populärwissen und die Kritik an einer allzu feinen, wissensskeptischen Wissenskritik. Eine solche Wissensskepsis kann das relevante Allgemeine nicht unterscheiden vom unausschöpflich Einzelnen, das für sich, ohne Bezug auf das Allgemeine, keine Relevanz haben kann. Philosophie ist also, wenn man sie recht versteht, gerade deshalb notwendig für die Wissenschaft und für eine Wissensgesellschaft, weil der bloß abstrakten Idee objektiv wahren Wissens immer die Subjektivität in jedem realen Wissensanspruch ambivalent gegenübersteht. Dabei ist seit Platon klar, dass diese Ambivalenz im Bereich der Technikwissenschaften insofern am geringsten ist, als sich hier der faktische Erfolg und Misserfolg des angestrebten oder behaupteten Wissens in der techne, im Können, nicht bloß im Reden oder in Texten zeigt. Die Technik als solche hat daher am Wenigsten Bedarf an Philosophie. Ja, sie dient seit Platon sogar der Philosophie als Muster für die reale Erfüllung von Wissensansprüchen.5

Soweit dann aber Wissen generell mit gegebener Technik identifiziert wird, erscheinen Philosophie und Geisteswissenschaft überflüssig. Man zählt sie gerade aus der Sicht der Technikwissenschaften leider oft nur zum Bereich einer Feierabendästhetik und Feiertagsethik. Übersehen wird dabei, dass die Wissensentwicklung gerade auch in der Technik selbst kein bloß technisches Problem ist. Verlangt ist dafür vielmehr eine gute Kooperation. In Wissensansprüchen über gute Kooperationen stehen dann aber schon, wie in den Geisteswissenschaften generell, die Kriterien des Richtigen selbst zur Diskussion. Denn das Gute und Richtige zeigt sich hier nicht unmittelbar im faktischen Erfolg, zumal auch in der Technik der bloß zufällige Erfolg oder der kontingente Misserfolg noch wenig besagt. Das nachhaltig und nicht bloß zufällig Gute und Richtige zeigt sich gerade im Falle von Institutionen nur im Vergleich zu einer möglicherweise besseren allgemeinen Erfolgsstrategie oder einer besseren allgemeinen Vermeidung von Misserfolg. Daher nützt uns ein bloßes Wissen post hoc noch wenig.

Ganz allgemein gilt: Echtes Wissen ist immer in einem gewissen Ausmaß situationstranszendent. Damit ist echtes Wissen immer auch ein Vorherwissen, ein Wissen über allgemeine Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Dass dem so ist, zeigt sich in der Gegenwart nicht zuletzt im Zusammenbruch einer Ökonomie, die im Grunde ein bloßes ›Immer-Weiter-So‹ gepredigt hatte, als könnte man induktiv aus dem, was bisher im Einzelnen und in diesem Sinn ›bloß empirisch‹ oder bloß kontingenterweise geschah, auf das, was weiter geschehen wird, unmittelbar schließen. Der Glaube, die Häufigkeit des bisherigen Erfolgs einer Strategie rechtfertige schon probabilistische Erwartungen, erweist sich in der Krise nicht bloß als katastrophales Fehlurteil der Ökonomen, sondern auch als Fehler einer oberflächlichen Methodologie der Wirtschaftswissenschaften. Die bloße Mischung von empirischen Informationen post hoc und einer mathematischen Darstellungsmethode kann nicht ausreichen, wobei sich zudem nicht nur auf dem Gebiet der Ökonometrie immer wieder große methodologische Probleme stellen, sondern auch die empirischen Informationen selbst zumeist unterbestimmt und vage bleiben. Die entsprechenden formalen Wahrscheinlichkeits-, Entscheidungs- und Spieltheorien stehen außerdem immer in der Gefahr, dass sie einen möglichen Schein von Kausalwissen und Expertentum vorspiegeln. Erst in einem qualitativen Wissen über institutionelle Entwicklungen jedoch käme eine Wirtschaftswissenschaft methodologisch zu sich selbst. Diese Einsicht von Karl Marx bleibt richtig, obgleich er die Schwierigkeiten bei ihrer konkreten Umsetzung maßlos unterschätzt hat. Mit der ökonomischen Krise ist daher durchaus auch die methodologische Krise der Wirtschaftswissenschaften und der Ratschläge ihrer Weisen im Prinzip sichtbar geworden. Logisch gesehen ist hier insbesondere das Folgende zu beachten: Bloß zufällige Vorhersagen, etwa des derzeitigen Zusammenbruchs des Bankenwesens und der Aktienmärkte, sind dringend von der Einsicht zu unterscheiden, dass sich eine wirtschaftliche Steuerung menschlicher Arbeitsteilung, welche sich in ihrer Ordnungspolitik und ihren Investitionen an den höchsten Renditeversprechen, dem ominösen ›share holder value‹, orientiert, in die Gefahr begibt, von monetären Wettspielen und Wettspielern abhängig zu werden. Nicht also die Globalisierung per se, und nicht die Finanzmärkte per se, sondern die einseitige Diät der Steuerung von Investitionen durch versprochene oder erwartete Verrentungsmargen und die Missachtung der einfachen Tatsache, dass jeder nicht bloß nominale Mehrwert am Ende real zu erwirtschaften ist, hat die Krise herbeigeführt. Dabei hat man auf die wenigen sachkundigen Warner, die es gab, nicht gehört. Aber eben diese Tatsache wird heute, in der Krise, auch gern und schnell wieder vergessen. Denn sonst gäbe es kein ›Weiter-So‹, oder es gäbe die Anerkenntnis der beschränkten Reichweite wirtschaftswissenschaftlicher Expertise.

Das Beispiel soll uns hier dazu dienen, analoge Fehler im Wissenschaftsund Bildungsbereich zu vermeiden. Auch in diesem Bereich kann es nämlich geschehen, dass eine unmittelbare, sich an bloß quantitativen Kennzahlen orientierende ›Leistungsbewertung‹ von Forschern, Lehrern und Studieren- den im Widerspruch steht zu einer nachhaltigen, nicht bloß ephemeren, Leistung und dass sie die Entwicklung und Erhöhung von echter Leistung sogar verhindern kann.

Insgesamt sehen wir jetzt wohl auch die Bedeutung einer Struktur- und Institutionen-analytischen Geschichtsschreibung, als Kernbereich der Geisteswissenschaften. Eine sich ihrer eigenen Lage bewusste Gesellschaft ist eine Wissensgesellschaft, die ihre Strukturen, Chancen und Gefahren kennt. Was wir dazu über die historischen Erinnerungen hinaus brauchen, ist eine explizit artikulierte Übersicht über die allgemeinen Funktionsweisen kooperativer Institutionen. Im Fall des Wissens ist dabei die Kontrollform von Wissensansprüchen von besonderer Bedeutung. Es reicht dazu nicht, mit immer neuen technischen und dann etwa auch historischen oder philologischen Details aufzuwarten. Es gilt, diese Details in einen Zusammenhang zu setzen und so imormal">Eusammenhang des Wissens zu positionieren. Dabei ist ein Wissen, das uns zunächst über uns selbst orientiert und damit auch die Voraussetzungen unseres Wissens und unserer Urteilsbildungen mit abbildet, Vorbedingung dafür, die kooperative Form des Wissens und der Wissenskontrolle selbst und ihre konstitutive Rolle für eine gute, nicht bloß zufällige, Wissens- und Technikentwicklung zu begreifen und diese entsprechend zu steuern. Zugleich stellt ein solches Wissen die conditio sine qua non für die Generierung von sinnvollen und nicht bloß zufälligen Details in solchen Expertisen sowie für ein Verständnis ihrer möglichen Bedeutsamkeit dar.

In der Vielfalt der Kommunikations- und Kooperationsprozesse bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung disziplinärer Fachkulturen in der wissenschaftlichen Arbeitsteilung ist eine solche Steuerung oder Orientierung dringend notwendig.6 Dies zeigt sich insbesondere in der komplexen Interaktion zwischen den verschiedenen Disziplinen. Ohne eine stabile Orientierung, zunächst durch einen sicheren Umgang mit den Methoden der eigenen Disziplin, können interdisziplinäre Kommunikationsprozesse nicht sinnvoll sein. Denn auch wenn sich die Gegenstände nicht immer an die Disziplinengrenzen halten, so können sie doch gar nicht erst als solche identifiziert werden, wenn die jeweilige methodische und damit eben disziplinär-kanonische Perspektive auf den Gegenstand unreflektiert bleibt. Ohne Disziplinarität wird Forschung methodisch unsauber und bleibt unkontrolliert. Ohne Interdisziplinarität aber verlieren wir u. U. die Phänomene aus dem Blick. Die daher notwendige doppelte Positionierung, aus der kanonischen Sicht der etablierten Disziplinen und im Hinblick auf das möglicherweise sperrige reale Phänomen, schließt auch eine Reflexion auf die jeweilige Sprachpraxis ein. Denn die in den verschiedenen Einzeldisziplinen genutzten ›Fachsprachen‹ bringen insbesondere je verschiedene Sprachideale mit sich. Diese erlauben und gebieten Unterscheidungen, wie sie die Natur selbst nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, anbietet oder erlaubt.

Es kommt also darauf an, das immer lokale Wissen und Können der Disziplinen nicht bloß aus der provinziellen und fragmentarischen Perspektive des (momentanen) Fachinteresses in einer bloß historisch gegebenen akademischen Tradition zu begreifen, sondern dieses in eine umfassende Perspektive stellen zu können. Nur in einer solchen globaleren Einordnung finden die Lokalkulturen der Einzelwissenschaften ihren Halt und werden konkret anwendbar. Nur aus dem Globalprojekt der Entwicklung einer Wissensgesellschaft heraus können wir dann auch bewerten, was wir wie weiter machen sollten, und wovon wir besser die Finger zu lassen hätten.7 Dies sind selbst schon institutionelle, wenn man so will, wissenschafts- und technikpolitische Fragen, die sich wieder nicht rein technisch beantworten lassen können. Um sie zu beantworten, müssen wir vielmehr unsere Position in der Gesellschaft und der ›Natur‹ begreifen. Hinzu kommt das Wissen über die Grenzen unseres Wissens sowohl über die Natur als auch über technische Möglichkeiten.8

II.

Jetzt wird wohl auch klar, warum das Wissen über uns selbst, den menschlichen Geist, von anderem Typ ist als das technische Wissen. Wissen über uns darf nicht im Sinne einer Individualpsychologie missverstanden werden. Diese interessiert sich etwa für angeborene Vorbedingungen des Lernens oder für Ausfälle gewisser normaler Kompetenzen, von der Aphasie bis zum Gedächtnisverlust von Einzelwesen oder für automatisiertes Verhalten. Thema der Geisteswissenschaften als Wissen vom menschlichen Geist sind dagegen kulturelle Institutionen in ihrer Ausdifferenzierung, geschichtlichen Entwicklung und ihrer Bedeutung für unsere gegenwärtigen Möglichkeiten, ein personales menschliches Leben zu führen. Zu diesen Institutionen gehören erstens das Rechtswesen, und damit der gesamte Rechtsstaat mit seinen Subinstitutionen und der entsprechenden teils ›republikanischen‹, teils bürokratischen, teils mitbestimmungsrelevanten (›demokratischen‹) Teilung von Macht, Verantwortung und Kontrolle, zweitens das ökonomische System der Aufteilung von Arbeitsleistungen und Gütern. Die Wirtschaft wird dabei nicht bloß durch Technik und durch zielgerichtete Organisation bestimmt, sondern ist selbst als System von Kooperation, Solidarität und Vertrauen zu begreifen. Fehlt letzteres, können Krisen gar nicht ausbleiben. Diese Einsicht aber wird in der gegenwärtigen Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft systematisch unterschätzt, was die Krisenanfälligkeit des Systems wiederum verstärkt.

Drittens ist die Institution Wissenschaft zu betrachten. Zu dieser gehört nicht etwa bloß eine wissensbasierte Technikentwicklung, sondern das gesamte Bildungswesen. Es kommen dann noch die Institutionen eines vielleicht mit dem Wort »frei« zu versehenen Kulturbereichs hinzu, nämlich erstens die allgemeine Institution oder Kultur der Sprache, Literatur und der Kunst, zweitens die Zivilisation oder Kultur freier Sittlichkeit mit ihrem Ethos der Familie, der Liebe und Freundschaft, und schließlich, drittens, der Kulturbereich der Religion mit ihrer zumeist öffentlichen Liturgie von Feiern und Festen, zu denen wir auch alle Zeremonien einer Zivilreligion zählen sollten. Gerade was die äußeren Ausprägungen dieses freien Kulturbereichs angeht, gibt es eine große Variabilität und Pluralität äußerlicher und besonderer Lebensformen. Diese sind nicht etwa bloß zu tolerieren, sondern gerade auch in ihrer freien Ästhetik als etwas Gutes und Schönes zu begreifen und zu kultivieren. Sie sind also nicht als Gefahr für die Einheit der Menschheit anzusehen, sondern stehen der allgemeinen Humanität als innerer, allgemeiner und wesentlicher Lebensform des Menschen ebenso wenig antagonistisch gegenüber wie die Ausdrucksweisen verschiedener Sprachen einem gemeinsamen Inhalt. Doch wie dem auch sei: Wir brauchen die Einsicht in die verschiedenen institutionellen Themen- und Arbeitsteilungen von Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften. Wir brauchen die Einsicht, dass die geschichtliche, institutionelle, ethische, methodologische und, was die Darstellungsformen und Argumente angeht, logische Verfassung aller dieser Wissenschaftsbereiche Themen der Philosophie sind. Nur dann wird es möglich, die Verankerung unseres Wissens und dessen Geltung in einer gemeinsamen Kultur der Vernunft zu bestimmen. Dabei sind die Vernetzungen zwischen ausdifferenzierten Handlungspraktiken und Perspektiven in unserem Fragen und Antworten zu erfassen. Jede Aussage über die Natur und unser Verhalten in ihr findet selbst schon in diesem Rahmen statt. Sie ist daher nicht bloß in ihrer empirischen Passung im Hinblick auf faktische Beobachtungen zu bewerten. Sie ist in ihrer Relevanz für eine gute Handlungsorientierung und eine gute Entwicklung des Wissens und der Wissenschaften selbst zu begreifen. Dazu sind die damit verbundenen Effekte gerade auch als Folgen unserer eigenen Erwartungen und Handlungsorientierungen zu bestimmen. Das wiederum geschieht (und das sollte jetzt ganz offensichtlich sein, obwohl es faktisch immer wieder vergessen wird) in einem anderen Möglichkeitsraum als dem einer von jedem technischen und politischen (kooperativen) Handeln freien Natur, die von selbst lebt, wo sie lebt, und in welcher Ereignisse von selbst geschehen, wenn sie geschehen.

amie solche Bestimmung der Geltungsansprüche, die für die Aussagen einer Disziplin in diesen Vernetzungen erwachsen, ist gerade für die jeweils in spezifische Methodiken eingegrenzten naturwissenschaftlichen Disziplinen notwendig, um den Anspruch der Aussagen der Disziplin erstens im Zusammenhang der verschiedenen Naturwissenschaften, zweitens im Zusammenhang des technischen Könnens und damit des menschlichen Handelns und drittens in ihrer ethischen, kooperativen und (bildungs)politischen Dimension bestimmen zu können. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, ein metastufiges Wissen über unsere Art, Sachverhalte zu erforschen und sprachlich, auch mathematisch, darzustellen, auf kontrollierte Weise zu entwickeln und zu sichern.9 Der jeweiligen Darstellungsart korrespondiert dabei oft auch der Abstraktionsgrad und Möglichkeitsraum einer Theorie, wie es etwa in der Atomphysik die Abkehr vom Kugelteilchen-Modell und die höhere Leistungsfähgkeit der nachfolgenden Modelle zeigt. Dies kann aber immer nur der spekulative Blick auf die Darstellung und nicht diese selbst aufzeigen.

Solch ein ›Sich Orientieren‹ über uns selbst mag zunächst nicht spektakulär erscheinen. Und es mögen sich solche globalen, also globus-artigen oder besser topischen, also sozusagen wissenschaftskartographischen Übersichten, Reflexionen und Selbstanalysen scheinbar viel weniger direkt durch Einzelbeobachtungen empirisch validieren lassen als z. B. ein typisches Verhalten oder regelmäßige physiologische (Hirn-)Reaktionen oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Formenvielfalt tropischer Fische. Das liegt natürlich auch daran, dass die planartigen Darstellungen einer solchen ›Wissenschaftsgeographie‹, nicht anders als ein Streckenplan für U-Bahnen, eher auf ihre Leistungen in einer entsprechend guten allgemeinen Handlungsorientierung als auf ihre Abbildeigenschaften hin als richtig oder wahr zu beurteilen sind. Das heißt, solche schematisierende Grobdarstellungen werden auf besondere Weise relevant, nämlich so, dass die Unübersichtlichkeit der Details durch angemessene Komplexitätsreduktion behandelbar wird. Das aber ist ein Verfahren, das auf die eine oder andere Weise in jeder Wissenschaft nötig ist und von dem auf verschiedenste Weise faktisch Gebrauch gemacht wird. Daher verlangt ja auch jede Wissenschaft in ihren Anwendungen gebildete Urteilskraft und nicht bloß eine schematische Umsetzung lernbarer Regeln.

Ohne eine zugehörige Relevanzbewertung ist eben daher auch eine bloße Detailkritik wertlos. Und ohne verallgemeinernde, generalisierende Schematisierungen ist gelehrtes Einzelwissen per se noch nicht brauchbar. Das gilt für philologisches und historisches Wissen ebenso wie für das Wissen der empirischen Naturwissenschaften.

Dabei ist unser Denken zunächst und vor allem geprägt durch die Sprache, in der wir uns artikulieren und unsere Fragen finden. Jene wiederum ist geprägt durch ein allgemeines, als selbstverständlich geltendes, insofern relativ zu dem jeweils konkret Gesagten a priori unterstelltes Vorher-Wissen. Dieses bestimmt nämlich den Gehalt des Gesagten, also das, was wir aus ihm folgern können. Diese Folgerungen sind im Gesagten sozusagen als Inhalt implizit enthalten. 10 Insoweit muss sich eine Bewertung unseres Wissens nicht nur um die im Wissenszusammenhang dargestellten Sachverhalte, sondern auch um die begrifflichen Voraussetzungen der Darstellungsformen, die Zuordnung von Sprache und Welt bzw. von einer qualitativen und erfahrungsnahen Normalsprache und einer quantitativ-schematisierten und damit erfahrungsferneren mathematischen Theorie kümmern.11

Wenn wir daher nicht bloß, objektstufig, auf die Gegenstände und parzellierten Themen der Einzelwissenschaften fokussieren, sondern auch, metastufig, auf ihren Rahmen, ihre Voraussetzungen, Zielsetzungen und ihre Darstellungsformen, verzahnen sich scheinbar vollständig voneinander abgetrennte Wissenschaftsbereiche, also auch die Natur- und Technikwissenschaften auf der einen Seite, die Geistes- und Sozialwissenschaften unter Einschluss der Staatswissenschaften auf der anderen.

Hier manifestieren sich die Schwierigkeiten bei der Einteilung verschiedener Wissenschaftsbereiche in Sciences und Humanities. Sie lassen sich jetzt nämlich nicht mehr klar am jeweiligen Gegenstand festmachen, sondern hängen mit der Stufung unseres Wissens zusammen. Allein schon dann, wenn es um die Geschichte und Sprache des Wissens und der Wissenschaften geht, ist eine Trennung der Bereiche der Sciences von denen der Humanities kontraproduktiv. Sie führt zu einer gewissen Selbstprovinzialisierung der jeweiligen Horizonte. Daher ist ja auch eine allgemeine ›Literacy‹, die Lese- und Schreibfähigkeit auch über das jeweilige Fach weit hinaus, unabdingbare Voraussetzung für die Karriere jedes echten Wissenschaftlers. Diese bleibt in der Regel, und mit Recht, höchst begrenzt, wenn eine Person nur fachtechnische Fertigkeiten mitbringt. Daher lässt sich eine Ausbildung, in welcher die disziplinären Horizonte bestenfalls mit Surrogaten wie den so genannten Schlüsselqualifikationen der neuen Bachelor-Studiengänge überschritten werden, ganz im Gegensatz zu den politischen Ansprüchen, gerade als dramatische Weichenstellung in eine flächendeckende Entbildung und damit am Ende Entprofessionalisierung unserer Gesellschaft erkennen.

Die übliche Abgrenzung der Bereiche der so genannten Sciences von denen der Humanities geht daher völlig an den Aufgaben und Problemen einer höheren, universitären Bildung vorbei. Sie verkennt ihr Verhältnis. Denn die Sciences umfassen die disziplinär, thematisch, ausbildungs- und sprachtechnisch schon vorschematisierten, in einem gewissen Ausmaß oft schon teilmathematisierten Wissensbereiche. Daher, und nur daher, nicht weil sie eine ›Naturwissenschaft‹ wäre, zählt man die Mathematik zu den Sciences. Analoges gilt inzwischen auch für Teile einer quantitativen und empirischen Humanpsychologie. Die Humanities oder verstehenden Wissenschaften (unter Einschluss der Staats- und Sozialwissenschaften) haben dagegen weiterhin die Aufgabe einer freien Versprachlichung von diffusen Praxisformen, Institutionen und kooperativen Strukturen gemeinsamen Lebens, von der Geschichte des Wissens und der Literatur über die Philosophie und Ethik bis zur Entwicklung von Recht und Politik. In ihnen geht es immer auch darum, ein strukturelles Denken, das sich verschriftlichen und damit nachhaltig nachvollziehbar machen lässt, in nicht schon vorstrukturierten Bereichen allererst zu ermöglichen. Das nicht zu sehen geht an der grundsätzlichen Problemlage unserer Wissens- und Wissenschaftskultur vorbei.

Eine adäquate Selbstbestimmung ihrer Organisation muss freilich berücksichtigen, dass wir mit vielen Wissenschaften, auch wenn sie noch unter den Titel einer Naturwissenschaft gestellt sind, zu guten Teilen Technologien bedienen. Die Naturwissenschaft wird damit zur Grundlagenforschung für die Technikwissenschaft. Das wird methodisch schon dadurch einsichtig, dass jedes Können immer auch von einem Wissen darüber abhängt, was ohne unser weiteres Zutun mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nach Erreichen eines Zustandes von selbst (weiter) geschieht, und nicht nur davon, welche Zustände wir tätig herstellen bzw. erzwingen können. Nicht zu vergessen aber ist, was Platon wohl als erster gesehen hat. Eine Wissensgesellschaft als Großform menschlicher Kooperation fußt nicht etwa einfach auf einer Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und Technik. Eine solche Zusammenarbeit wird erst relativ spät möglich. Zunächst bedarf es nämlich der politischen und gesellschaftlichen Institutionen, welche eine hinreichend breite ›literarische‹ Bildung (paideia) allererst ermöglicht, die als solche weit über eine bloße Alphabetisierung hinausreicht. Diese Bildung wiederum verlangt einen gemeinsamen Kooperationsrahmen, eine Polis oder Republik, mit ihren Rahmengesetzen (nomoi), der (ethischen) Verfassung von Staat (politeia) und Bürger (der psyche und arete der Personen) und der Ökonomie, der wirtschaftlichen Ordnung der Haushalte (oikos) bzw. der Gesamtgesellschaft als Großhaushalt. Zentral für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik ist daher, wie Platon klar sieht, die ›weiche‹ Infrastruktur des Bildungswesen. Die Vernachlässigung der Aufgaben der Geisteswissenschaften, durchaus auch durch ihre eigenen Vertreter, aber erst recht durch die Verkennung ihrer Rolle in einer bloß auf Technik und Ökonomik und damit die Ziele und nicht die Wege fokussierten Welt, führt gerade weg von einer Wissensgesellschaft oder höhlt diese aus.

Ziel der Ausbildung in einer hoch-›literalisierten‹ Gesellschaft mit ihren diversen ›Wissenstechnologien‹ sollten daher auch nicht einfach Forscher sein, die sich in ihrer Neugier und ihrem Fokus auf ein vorparzelliertes Thema verlieren, sondern Leute, die ihren Kopf in der rechten Weise gebrauchen können. Wenn wir heute, dem Zeitgeist gemäß, so reden, steht natürlich das Wort »Kopf« oder sogar »Brain« metaphorisch für »Geist«. Dieser Geist wiederum wird in der Philosophie seit 2 500 Jahren, nämlich seit Heraklit und Sokrates, als »Logos«, als Fähigkeit zur Teilnahme an einer in gemeinsamer Sprache und Schrift explizierten und eben damit gemeinsam kontrollierten Wissenschaft erkannt. In diesem Sinn den Kopf gebrauchen müssen wir schon dann, wenn wir mittels bestehender Technologien zu neuen Lösungen kommen wollen. »Brainwork« bedeutet dabei, Unstrukturiertes intelligent zu strukturieren, etwa neu zu versprachlichen. Es reicht dazu nicht, eine bereits vorhandene Technik, ein schematisch lernbares Handwerk zu beherrschen. Man kann, wenn auch in der Form einer Katachrese, von einem Bedarf an Kopfwerkern sprechen, um in Parallele zum Handwerker analogisch auf die Aufgabe der Geisteswissenschaften und Intellektuellen zu verweisen.

Wer in den modernen Technologien in der ersten Liga zu spielen gedenkt, wie der Zeitgeist den Wettbewerbscharakter der Wissensgesellschaft auszudrücken beliebt, muss daher in der Lage sein, nicht bloß komplizierte technische Verfahren umzustrukturieren und, bezogen auf eine bestimmte Problemstellung, weiter zu entwickeln. Er muss diese Verfahren menschlichen Kooperationsformen anpassen und Faktoren wie die Arbeitsteilung bedenken. Dies wird nirgends so klar wie im Bereich der IT-Branche: Man stellt sich auf naive Weise vor, der Einsatz von Rechnern, etwa in den diversen Verwaltungen, sei ein bloß technisches Problem. Er ist hingegen in erster Linie ein kooperationspraktisches Strukturproblem der Prozessorganisation. Solange das nicht begriffen ist, bleiben wir weit hinter unseren Möglichkeiten zurück. Um diesen Mangel zu beheben, brauchen wir ›Kopfwerker‹, die in der Lage sind, Organisationsprozesse schriftlich zu artikulieren und damit allererst gemeinsam diskutierbar und planbar, aber auch überhaupt verstehbar zu machen.

III.

Das, was sich schon in einer so genannten »craftsman-and-scholar-thesis« abzeichnete, nämlich dass bereits der Beginn der modernen Wissenschaften gerade nicht in einer klaren Trennung zwischen Praxis und Theorie bestand, sondern dass vielmehr die Konstituierung der modernen Wissenschaften aufs Engste mit der Hinwendung zu den Praktikern zusammenhing (z. B. in der Person Galileis), wird in den Notwendigkeiten, die sich durch die gegenwärtige informationstechnologische Überformung von Kooperationsprozessen stellen, im Grunde nur konsequent fortgeführt. Moderne Wissenschaftler müssen daher, vielleicht in einem gewissen Gegensatz zu den philologisch und historisch Gelehrten der Scholastik und der frühen Neuzeit, immer hybride Zwischentypen sein. Damit bleiben Technologien, ihre Entwicklung in den zugehörigen Wissenschaften und die dafür allererst notwendige soziokulturelle und sprachlich-intellektuelle Bildung des einzelnen Forschers eng verwoben. Schwierig wird es hingegen, wenn ein bloß affektives Staunen vor den neueren Technologien uns diese Kontinuität verkennen lässt.

Es ist daher wohl noch einmal darüber nachzudenken, wie unser Wissenschaftssystem umfassend zu strukturieren ist, wo es neu zu modellieren ist, welche guten und schlechten Erfahrungen der Vergangenheit erst noch zu rekonstruieren und welche zielgerichteten Formen autonomer Bildung und verantwortungsvoller Wissenschaft wieder zu restaurieren wären.

Der Typus bzw. das Selbstverständnis des bloß gut informierten bzw. technologisch orientierten Wissenschaftlers ähnelt nämlich (leider) immer noch in Vielem dem Gelehrten der philologischen Jahrhunderte. Damals stand die Wiedergewinnung in Texten schon vorhandenen Wissens im Zentrum der Forschung, und damit das hermeneutische Verstehen, nicht aber die Erfindung und gemeinsame Entwicklung. Diesem Typus und dieser Ideologie des verstehenden Entdeckens des »Buchs der Natur« gegenüber waren aber schon die Ideen, die wir traditionell mit dem Humboldtschen Bildungsideal verbinden, ausgesprochen modern. Bei Humboldt wird, wie später noch bei Harnack, Wissenschaft und Forschung als freie Tätigkeit von frei gebildeten, autonomen Personen gefasst. Denn nur von ihnen ist etwas Neues und die Souveränität im Umgang mit neuen Situationen zu erwarten. Humboldts Überlegungen fußen dabei auf den Denkschriften Fichtes und Schleiermachers zur Gründung der Berliner Universität. Diese Schriften wiederum bauen auf die Erfahrungen auf, welche die beiden Autoren an den damals fortschrittlichsten deutschen Universitäten gemacht hatten, nämlich in Jena und Halle. Auf dieser Grundlage skizziert Humboldt, wie der institutionelle Rahmen für die Möglichkeit einzurichten ist, die in Wissenschaft und Forschung notwendigen personalen Kompetenzen auszubilden und zu erhalten.12

Humboldt weist dabei nicht nur auf das Ziel hin, die Studierenden sich zu autonomen, selbstbestimmten Individuen entwickeln zu lassen, sondern er hält diese Autonomie auch für die Universität selbst als Institution für unabdingbar. Ohne Autonomie gibt es keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Dieser generische Satz wird nur scheinbar widerlegt dadurch, dass es auch in einer Tyrannei lokale Autonomien gibt. Aber auch die Bürokratie, Politik und Ökonomie einer Republik kann sich am Ende als wissenschaftsfeindlich erweisen. In solchen Fällen lebt man am Ende, wie schon das spätere Rom, das Mittelalter oder die DDR, um ein gegenwartsnäheres Beispiel zu nehmen, in weiten Teilenauch voon fremdem, ererbtem oder geborgtem, Können und einem am Ende nur zufällig noch nicht vergessenen Wissen.

Hier liegt die Gefahr einer rein historisch, technisch oder ökonomischzweckgerichteten Ausbildung, wie sie seit dem Bologna-Prozess flächendeckend für ganz Europa eingeführt wird. Die oft unter der Fahne eines Hochschulfreiheitsgesetzes versteckte Ent-Autonomisierung der Universität, ihrer Forscher, Professoren und auch Studierenden, macht am Ende Forschung, Wissenschaft und Universität als Institution immer abhängiger von externen, auch ökonomischen Faktoren und unterminiert damit nicht bloß Humboldts Konzeption der Universität, sondern zugleich die Idee einer Wissensgesellschaft selbst.

Vielleicht hilft hier ein geschichtlich tieferer Blick zurück auf frühere Formationen einer Wissenslandschaft. Versetzen wir uns also in eine Zeit zurück, in welcher ein Handwerker einer Zunft, sagen wir im Nürnberg des 16. Jahrhunderts, eine Uhr verfertigte. Vielleicht ist es ein Meisterstück. Als solches könnte man es als historisches Pendant zu den Spitzenproduktionen gegenwärtiger Hochtechnologie, als eine Art angewandtes Wissen verstehen. Gefordert war und ist hier ein enormes praktisches Wissen. Es bedurfte und bedarf spezieller Kenntnisse der Konstruktionsverfahren des zu verwendenden Materials und damit auch immer etwas mathematischen Wissens. Auch wenn die Verfahren komplexer sind und die erforderlichen Grundkenntnisse weiter ausgreifen, werden in den modernen technologisch bestimmten Wissenschaften ähnliche Voraussetzungen geschaffen. Um die hier gewonnenen allgemeinen Kenntnisse in konkrete Verfahren umsetzen zu können, ist dann aber immer auch ein praktisches Wissen über die jeweiligen Strategien notwendig.

Unterschätzt wird nun oft nach wie vor das Organisationswissen, das Wissen um die Strukturierung von Kooperationsprozessen in freier Anerkennung der eigenständigen Rollen von Mit-Arbeitern, ohne das eine subsidiär strukturierte und nur als solche effiziente Arbeitsteilung gar nicht umgesetzt werden kann.

Je komplexer dabei die zu bewältigenden Problemstellungen werden, und zwar immer auch im Hinblick auf die Beherrschung interdisziplinärer Arbeitsteilung oder Kooperation, desto kleinteiliger müssen die Entwicklungsschritte und explizit gemachten Planungen werden. Damit müssen sich Einzelleistungen immer mehr in eine Gruppe von Leistungsträgern einfügen, da nur durch die Kombination unterschiedlicher Begabungen und Kompetenzen, Vorkenntnisse und Partialexpertisen in einer solchen Gruppe der zunehmenden Komplexität von Verfahren und Theorien Rechnung getragen werden kann.

Dies hat zur Folge, dass sich auch neue Probleme der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz und der Organisation von Wissensvermittlung und Wissensarchivierung stellen, zumal die einzelnen Entwicklungsschritte für Außenstehende kaum mehr nachvollziehbar sein können. Daher werden auch zusehends Technologien der Wissensakkumulation, der Problembearbeitung und der Formation neuer Fragestellungen notwendig, mit deren Hilfe ein durch eine Gruppe getragenes Vorgehen allererst vermittelbar und steuerbar wird. An den einzelnen Forscher wird der Anspruch gestellt, sich in die so anzulegenden Strukturen einzuordnen und so das Gesamtgefüge der wissenschaftlichen Leistungsträger zu optimieren.

Können in dieser Skizze wissenschaftlicher Fortentwicklung, die derart durch ›Kopfarbeiter‹ im skizzierten Sinne getragen ist, dann aber die Vorstellungen einer ›heroischen‹ Wissenschaft von Einzelkämpfern noch Geltung haben? Ist es nicht bloß ein neuer Wissenschaftsmythus, den wir in die heroisierenden Biographien eines Einstein oder Darwin lesen, und den manche Physiker, etwa Feynman, und manche Philosophen, etwa Russell13, zu ebenso bravourösen wie sachlich problematischen Selbstdarstellungen auf ähnliche Weise nutzten wie Caesar die Form der Darstellungen der Alexanderzüge?14 Physik, Biologie oder Mathematik waren immer schon ein Gemeinschaftswerk, in dem als Akteure neben Einstein und Feynman ein ganzes Heer von Mitstreitern steht, von Max Planck und Niels Bohr bis Max Born, von Arnold Sommerfeld bis Werner Heisenberg und die Curies, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Für die Biologie oder mathematische Logik gilt dasselbe. Die Stars der Fächer spielen dann eher die Rolle der historischen Vereinfachung, nicht anders als die Darstellung der Landnahme Attikas durch die Figur des Theseus, die Ausbreitung der Griechen im Mittelmeer durch die Figur des Herakles oder eben die extrem publikumswirksame Selbstmythisierung Caesars in seiner Darstellung der Eroberung Galliens.

Ganz im Gegensatz zur landläufigen Meinung sind die mit der Organisation von Wissensentwicklung und Technikeinsatz beschäftigten ›Kopfwerker‹ keineswegs per se die schlechteren Wissenschaftler. Vielmehr müssen sie zunächst fachlich sehr gut sein, aber zugleich weit mehr können und tun als es ein reiner Gelehrter traditionell können und tun musste. Man könnte daraus folgern, dass es Aufgabe der Gesellschaft ist, gerade diese Arbeit aufzuwerten, indem sie die Leistung in der Artikulierung und Planung von Wissenschaftsorganisation und Prozessen der Arbeitsteilung durch Sozialprestige und finanzielle Anreize stärker honoriert. Es müssten zudem Anreize geschaffen werden, gerade die besten Nachwuchskräfte für diese Aufgaben auszubilden. Sie wären nicht in der Mehrzahl an die rein technologischen Felder mit ihren direkten Pay-offs zu ›verlieren‹, selbst wenn die Ausbildung sowohl für die Nachwuchswissenschaftler selbst als auch für die Universitäten erst in einer späteren Berufsphase relevant werden kann. Dies müssen wir festhalten und nicht versuchen, die derzeit laufende Fehlentwicklung mit unpassenden Begriffen zu bemänteln.

Es sind also nicht die technisch lehrbaren Sciences und die freien Künste der Humanities, die hier einen Gegensatz bilden. Letztere umfassen dabei weit mehr als bloß literarische und ästhetische Bildung oder Kultur-Wissenschaft, also die so genannte Pflege des Geistes (cultura animi). Vielmehr steht das freie Denken der ›Kopfwerker‹, die Versprachlichung von kooperativen Prozessen, sowohl im Hinblick auf das, was geschichtlich hinter uns liegt, als auch auf Zukunftsprojekte, neben einem technischen Wissen. Jede konzeptionell orientierte Forschung hat sich in das skizzierte kooperationsorientierte Wissenschaftsgefüge einzubinden. Dabei wird es zusehends schwieriger, die vielleicht erst in mittelfristigen Zielstellungen greifbaren Ergebnisse so vorwegzunehmen, dass eine sinnvolle positive Bewertung und damit Rechtfertigung etwa der Finanzierung eines Projektes in der Gegenwart möglich wird.

IV.

Der damit aufscheinende Gegensatz zwischen einem immer langfristigeren Nachdenken über Kooperationsprozesse und einer eher am gegenwärtigen Objekt orientierten Forschung soll hier nun noch etwas weiter ausgeführt werden. ›Kopfwerker‹ sind in der so genannten Verwaltung längst schon Teil unserer Wissenschaft, Technik, Politik, Ökonomie und Industrie. Sie sind damit mittelbar oder unmittelbar fest eingebunden in die Arbeitsteilungen und Interessenvertretungen unserer leider immer kurzfristiger planenden Gesellschaft. Dabei werden sie aufgrund ihres Versprechens, mittelfristige Prozesse zielführend planen zu können, einerseits hofiert. Man betrachte dazu nur die Exzellenzinitiative und die sich dabei zeigende Honorierung gerade auch von ›Antragslyrik‹, wie der abschätzige Ausdruck für eine eigentlich wichtige Textsorte lautet. Andererseits droht diesen ›Kopfwerkern‹ stets die Gefahr der Selbst- und Fremdüberschätzung. Die Gefahr der sophistischen Überredung durch leere Worte, die das eben gebrauchte Wort »Lyrik« ja gerade vermitteln soll, wird durch ›empirische‹ und ›quantitative‹ power-point-Argumente nicht etwa gemildert, wie die US-amerikanischen Rechtfertigungen des zweiten Irakkrieges vor der UN gezeigt haben. Ohne Rhetorik-Kritik wird daher eine entsprechende Planung von Projekten und Prozessen ebenso oberflächlich und halbseiden wie die des Bankwesens der letzten Jahre. Und in der Tat: Die Probleme einer direkten ›ökonomischen‹, d. h. durch kurzfristige Renditen gesteuerten Ausrichtung sind dabei noch nicht einmal im Ansatz erkannt, von den praktischen Folgen gar nicht zu reden.

Hier wäre die Erinnerung an Humboldts Intentionen bei der Forderung nach einer Autonomie der Forscher wie auch der Universitäten von unmittelbaren ökonomischen und auch politischen Zwängen mehr als angebracht. Wissenschaftsbereiche, in denen der erwartbare Nutzen unmittelbar einleuchtet, entwickeln sich zwar gut. Andere aber, welche diffuse und langfristige, aber nicht weniger nachhaltige Folgen haben (können), nicht. Wir können eindeutig konstatieren, dass Forscher, die sich mit Chipdesign, der Optimierung von medizinischer Diagnostik, Nanotechnologien, Kristallisationsverfahren oder der Entwicklung von Psychopharmaka beschäftigen, ›von Natur aus‹ in einer ausstattungsmäßig besseren wissenschaftlichen Umwelt arbeiten als etwa Sprachwissenschaftler, Historiker oder Philosophen. Dass aber langfristig gerade auch die ›weichen‹ Vorbedingungen intelligenter Entwicklung ausschlaggebend werden, ist alles andere als erkannt, obwohl sich die Folgen ethischer Lokalkulturen durchaus klar zeigen, man denke etwa an die Unterschiede zwischen Süd- und Nordamerika oder zwischen Asien und Afrika.

Selbstreflexive Fragen, welche die bloße Bestimmung der Position des einzelnen Forschers oder eines Projekts in einem faktischen technologischen Fortschreiten transzendieren, scheinen in hochspezialisierten, anwendungsorientierten Forschungsfragen notwendigerweise vernachlässigt zu werden. Doch sobald die Frage nach der allgemeinen Qualität und dem allgemeinen Sinn oder Unsinn dieses Fortschreitens in einer globaleren Perspektive sowie die Frage nach den jeweiligen Rahmenbedingungen gestellt wird, gerät der Status dieser zunächst bloß faktischen und eben damit noch unreflektierten Wissensentwicklung in eine neue Perspektive. Er wird jetzt nämlich aus der Perspektive alternativer Möglichkeiten betrachtet, womit die kleinräumige Dimension des bloß gegenwärtig Gegebenen transzendiert und entprovinzialisiert wird. Solch ein Fragen greift auch über die Abwägung der direkten Folgen einzelner Technologien weit hinaus.

In einem Sinn sollte daher eine reflektierende Wissenschaft an (sozusagen voll alphabetisierten) ›Kopfwerkern‹ interessiert sein, welche mehrere Codes schriftlicher Darstellung beherrschen, und nicht zuletzt auch daher nicht bloß Auftragnehmer in einer scheinbar selbstgesteuerten Entwicklung von Techniken sind. Sie reflektieren zugleich auf die allererst zu schaffenden Bedingungen der Möglichkeit der Entstehung technischer und auch anderer Kenntnisse, indem es ihnen primär um die Entwicklung von Kooperationsprozessen und von praktischen Verständnissen der Rollen des Sozialen und Personalen für eine gemeinsame Entwicklung von Wissen und Können geht. Es geht dabei auch um die Frage nach der urteilskräftigen Umsetzung der allgemeinen und abstrakten Kondensate wissenschaftlicher Produktion, der Theorien und Texte ›reiner‹ Grundlagenwissenschaft, in konkreten, praktischen Problemstellungen. Diese Umsetzung ohnehin nie unreflektiert und ›direkt‹ erfolgen kann. Die Bewertung der verfügbaren Kondensate wissenschaftlicher Produktion und der in ihnen angelegten Potentiale erfolgt hier im Hinblick auf die Relevanz im Gesamtzusammenhang, also nicht bloß der momentan interessierenden Fragestellungen.

V.

Damit gelangen wir langsam zu einer Diskussion, in der das Wahre oder Erfolgsrichtige, das Gute oder Nützliche und das Schöne oder frei Anerkannte nicht nur mehr in ihrem weiteren Effekt bewertet, sondern selbst zu Teilen der Gesamtvorgabe für die Ausgestaltung möglicher Praktiken werden. Wir könnten demnach so diverse Positionen in ein Gesamtbild integrieren wie etwa die Ästhetik und Geschichtsphilosophie eines Benedetto Croce, die Zivilisations- und Kulturtheorie eines Michel Foucault, und, sagen wir, die Mathematik und Physik eines Albert Einstein, der in dem von ihm wesentlich mitentworfenen mathematischen System den gesamten Kosmos einer Raumzeit darstellbar machte, welche die Formen der Anschauung von gegenwärtigen Dingbewegungen weit übersteigt. Vielleicht fände sich in der zu antizipierenden Synthese reflektierenden Weltverstehens ein Ansatz, über den eine nur unter anderem auch technologisch geleitete Perspektivierung des Wissens in den Gesamtraum einer Kultur zu übermitteln wäre. Ohne Gegenwartsbezug und Zukunftsvision wäre freilich solch eine Darstellung immer nur historisch, als Rückblick, geformt.

Das, was uns zu denken möglich ist, kann und muss dabei immer erst in seinem Ausdruck dingfest gemacht werden. Das reflektierende Textwissen ist ohnehin immer zuerst und zuvörderst Wissen des Denkbaren, des Denkmöglichen. Die ›Kopfwerker‹ oder Intellektuellen der Geisteswissenschaften entwerfen ein solches Wissen der Möglichkeiten vor dem Hintergrund ihrer Kenntnis historischer Struktur-Entwicklungen und Erfahrungen mit den Institutionen. Dieses Gehäuse der Institutionen als kollektive Form unserer Lebensführung wurde von Hegel »objektiver Geist« genannt.15 Es handelt sich um die gemeinsame zivilisatorische Kultur, welche uns jeweils in dem Ausmaß zu autonomen Personen macht, wie wir gebildet sind. Indem der gebildete Intellektuelle aber seine Ausbildung überschreitet, überschreitet er auch eine bloß gegebene Wirklichkeit, in der es nur um technisches Können und historisches Einzelwissen im Sinne bloßer Information geht. Zugleich überschreitet er eine bloß technologisch orientierte Forschung.

Allerdings haben wir eben damit einen Perspektivenwechsel unternommen. Denn hier ist es das verbale Experimentieren, das sprachliche Vor- und Herantasten, und weniger das schon erprobte Produkt, das den Intellektuellen interessiert. Die Welt selbst wäre so zunächst als Produkt, als Kondensat eines Tuns zu begreifen, das für sich selbst zuerst als Entwurf von Möglichkeiten zu beschreiben ist. Dann erst, in einem zweiten Schritt, bewerten wir die erfolgreichen Möglichkeiten und erklären sie aufgrund unserer guten Erfahrungen zur Wirklichkeit oder setzen sie tätig in Wirklichkeit um. Die Theorien als Entwürfe von Möglichkeiten sind wie Netze, sagt Novalis, der romantische Dichter und zugleich realistische Montanwissenschaftler Friedrich von Hardenberg.16 Nur wer sie in Form von hypothetischen Vorschlägen auswirft, wird Wissen und Wirklichkeit in der Welt der praktischen Erfahrungen einfangen können und zu neu artikuliertem, verschriftlichtem Wissen gelangen können.

Neben Sprache und Text als Möglichkeitsbeschreibung ist auch das Bild ein Möglichkeitsentwurf. Es präsentiert eine Möglichkeit der Weltsicht. Gerade für einen romantischen Maler wie Caspar David Friedrich gewinnt daher das Bild oder Gemälde in seiner besonderen Art des In-Blick-Nehmens seinear zu einer Art Synekdoche. Aber es enert sowohl die bloße Abbildung als auch die Ikone oder das narrative Bild, von den mittelalterlichen Evangeliaren bis Giotto, das etwa ein reales oder mythologisches Ereignis darstellt und entsprechend zu lesen ist. Was im Gemälde der Moderne, nicht etwa erst seit der Romantik, sondern längst schon bei Caravaggio oder Velázquez, um nur einige Beispiele zu nennen, uns zu sehen gegeben ist, ist nicht etwas Festes, sondern führt eine besondere Art des Betrachtens vor Augen.17 Hier wird keine einfache message an einen möglichen Betrachter weitergereicht. Es geht vielmehr darum, Weltsichten und Sehweisen, Perspektiven und Ansichten zu zeigen, in diesem Sinn zur Ansicht zu bringen. Das geschieht durchaus in der Absicht, sie damit zur Diskussion zu stellen, so dass etwa noch Foucaults Kommentare zu Velázquez durchaus als Teil des Gehalts von dessen mit völligem Recht hochberühmtem Gemälde »Las Meninas« gelten können. In diesem Sinne kann man gerade auch die bildnerische Romantik als höchst realistisch verstehen. Nicht nur kommt sie der konzeptionellen Arbeit eines Wissenschaftlers durchaus nahe. Sie ist auch notwendiges Bindeglied zur Kunst des 20. Jahrhunderts, und zwar zunächst über Impressionismus und Expressionismus. Das, was die Arbeit der bildenden Künste ausmacht, ist dabei eine Art Tasten, der Versuch, Neues zu wagen und zu explorieren, Ansichten zu bilden, Weltsichten an- und auszudeuten. Eben damit werden sie explizit kommentierbar, wobei nicht nur an sprachliche Kommentare zu denken ist, sondern auch an bildartige Zitate und ›Diskussionen‹ zwischen Gemälden bzw. Plastiken oder zwischen verschiedenen Formen, Musik zu machen.

Am Ende tun wir offenbar gut daran, unter den zugegebenermaßen metonymischen Obertitel »Sprache« immer auch Diagramme, Bilder und andere Kompositionen zu zählen. Die Sprache ist demnach nicht nur in der Verbalpoesie, sondern auch in der Kunst generell kreativ. Gerade das gilt auch für die Wissenschaften. Sie findet zu neuen Darstellungsformen, Begriffen, schichtet alte Formen und Begriffe um. Auf dem Weg zum anerkennbaren Ergebnis spielen wir mit einer Assoziationsvielfalt. Wir belassen es aber nie bei dem bloßen Spiel. Denn das Ziel ist eine kanonisierbare Form bzw. ein Begreifen allgemeiner Formen und Strukturen. Auch hierin kommen sich Kunst und Wissenschaften nahe.

Es ist aber nicht einfach eine Sprache, die wir in den Wissenschaften, im Alltag und in der Kunst gebrauchen. Denn nicht jeder versteht sich hier auf alles gleich gut. Und doch ist es eine Sprache, die wir alle mit hinreichender Geduld und Engagement in einem je hinreichenden Ausmaß zu verstehen lernen können. Dabei sind Schematisierungen (»Definitionen«) der Wissenschaftssprache nur (notwendige) Hilfen für eine schnelle und möglichst unproblematische Verständigung innerhalb der Einzeldisziplinen. Die üblichen Klagen über Fachtermini oder die spezifischen Standardisierungen im Satzbau der Wissenschaften gehen an diesem Punkt allzu schnell vorbei. Es ist ja kein Wunder, dass der transdisziplinäre Diskurs mitunter, wenn nicht immer, in Sprach- und Verständigungsprobleme gerät. Noch schwieriger wird die fehlerfreie ›Übersetzung‹ in eine Sprache, die uns auch außerhalb der Wissenschaft und ihrer Disziplinen verfügbar ist. Von daher rührt das unpräzise Halbwissen einer gewissen Form des Wissenschaftsjournalismus, das besonders dort für die Wissenschaft selbst gefährlich wird, wo es auf diese zurückfällt, etwa durch die Meinungsführerschaft von in den Medien ständig präsenten Wissenschaftlern, wie wir dies in der Hirnforschung unter dem Einfluss Gerhard Roths oder Wolf Singers durchaus wahrnehmen können.18

Man könnte meinen, dass uns hier für ein Fortschreiten eine Art »genialer Collageur« fehlt, der analog dem zeichnerisch arbeitenden Max Ernst Begriffe nutzt, sie aus der Vielfalt der in ihnen angelegten Erlebnisformen herauslöst, sie aus einer vom Bekannten bestimmten Ordnung ausgrenzt, um dann eine eigene Ordnung zu schaffen.19 Max Ernst demonstrierte seinerzeit in seinen Collagen die Engführungen einer Abbildungskultur, die selbst dann noch verständlich schien, wenn er deren Zuordnungen in der Kollage völlig durcheinander gewirbelt hatte. Gutes Wissenschafts- Feuilleton macht Analoges, und nicht ganz ohne Erfolg, doch es bleibt damit immer noch Feuilleton.

Dabei gibt es eine sich gerade auch aus der Betrachtung von ›Computersprachen‹ ergebende Verwechslung von schematisierter Information mit Wissen. Schon Alan Turings Vorstellung, es ließe sich ›im Prinzip‹ eine Maschine konstruieren, welche (vermeintlich) alles Sagbare in eine Folge von zwei Zeichen umsetzt, zeigt die Radikalität einer solchen Sprachtheorie. Am Ende stellt sie sich aber doch nur als technisches Mittel der Darstellung schon gegebener Information dar, nicht als eine Methode des Gewinnens von Wissen. Wie in der Bibliothek von Babel bei Jorge Luis Borges werden auch in der Idee Turings bloß alle möglichen Bücher in ein ›Supersystem‹ beliebiger Buchstabenfolgen eingebettet. Am Ende reichen ein einziger Buchstabe und ein Leerzeichen aus. Die Bücher und Texte müssen zunächst aber geschrieben werden. Und keineswegs jeder Text, der so aussieht, als hätte er Sinn, hat in Wirklichkeit auch Sinn. Freilich ist es oft nicht einfach herauszufinden, ob bzw. wann ein Text von einer Maschine verfasst wurde und damit als Folge eines allgemeinen Schemas der Textproduktion zu begreifen ist (sozusagen mit einem ›Software-Entwickler‹ als verdecktem Autor), oder aber als tatsächlicher sinnvoller Sprechakt von einer realen Person.

Man sieht gerade auch hier, dass die Differenz zwischen bloßer Informationsverarbeitung und Wissen im Detail weiter zu klären ist. Man ahnt aber wohl schon, dass der Begriff des möglichen Wissens anspruchsvoller ist als das, worüber Computer verfügen können.20 Dass das per definitionem und aufgrund ihres Designs so ist, nicht (bloß) aufgrund (bisheriger) technischer Unzulänglichkeiten, ist dem Laien freilich nach wie vor schwer zu vermitteln. Hier ist eine zentrale Bildungsaufgabe für eine Philosophie der formalen Logik, Mathematik und der normalen Sprache noch allererst zu erfüllen.

Es scheint zur Zeit außerdem, als sei unsere Wissenschaftskultur auf dem Sprung, in den Welten digitaler Codierungen das Buch als Medium, und damit die aus der Antike übernommenen Formen der Fixierung, Vermittlung und Strukturierung von Wissen, zu ersetzen und sie in digital gespeicherte Texte, Diagramme und Bilder zu verlagern. Es bleibt aber fraglich, ob es sich hier tatsächlich um eine neue Sprache handelt, auch wenn die Aussage allzu trivial sein mag, dass auch die digital kodierten Wortfolgen doch nur Texte seien. Eher sollten wir, wie gesagt, unter Sprache mehr als nur ein Lautsystem verstehen und das symbolische Handeln, samt dem Umgang mit Diagrammen und Bildern, mathematischen Zeichen und Formeln etc. unter den Obertitel der »Sprache« stellen. Der Begriff der Sprachen wird dadurch zwar zu einer Art Synekdoche. Aber es enthält dann der linguistic turn auch den semiotic turn oder iconic turn bzw. platziert sie als selbstverständliche Erweiterungen der Einsicht in die enge Verbindung von Wissen, Können, Verstehen und symbolische, bildliche oder sonstwie kompositorische, etwa auch mathematische oder digitale, Darstellungstechnik und eben nicht als antagonistische Ansätze mit je völlig verschiedenem Gegenstandsbereich.

Es gibt dann intern differenzierbare Formen der in diesem weiten Sinn ›sprachlichen‹ Wissensspeicherung, die als solche äußerbar, entäußerbar, in ihrer Form frei reproduzierbar und in eben diesem Sinn ›lesbar‹ und in ihren richtigen Folgerungen ›verstehbar‹ sein müssen. Zu unterscheiden sind diese von einem bloß subjektiven Speicher, wie wir ihn aus Gefühlen und Gewohnheiten kennen. Wir sind in erster Linie an nachhaltigen und öffentlichen (und damit kontrollierbaren) Formen der Wissensdarstellung interessiert. Nur sie vermitteln Wissen im eigentlichen Sinne. Vieles, was im Vorübergehen skizziert ist, viele Preprints, digitale Notizen oder Ähnliches stellen dagegen eher Informationen mit einer sehr geringen Halbwertszeit dar, da sie von besseren, etwa auch nachhaltigeren Formen der Darstellung von Wissen schnell abgelöst werden. Glaubt man der DFG, so gilt es schon als Langzeit, wenn solche Notizen dreißig Jahre überdauern. Dazu gehört inzwischen die Mehrzahl aller gedruckten Bücher oder Qualifikationsarbeiten. Es wäre an der Zeit, zwischen ephemeren, wenn auch oft nicht unwichtigen, und wirklich nachhaltigen wissenschaftlichen Texten systematisch zu unterscheiden. Ohne eine Trennung dieser beiden Kategorien droht sich die Ordnung des Wissens in Chaos zu verwandeln.

In vielen Fällen genügt uns ein ephemeres knowing how, etwa ein kurzer Verweis auf die adäquate Rezeptur. Ein explizit und nachhaltig schriftlich artikuliertes Wissen ist dann entbehrlich. Die ›Wissensvermittlung‹ oder besser: Informationsweitergabe geschieht hier oft (wieder) bloß ›mündlich‹, ›oral‹, bzw. empraktisch. Es reicht dann ja oft, Kollegen zu besuchen und sich Handgriffe zeigen zu lassen. Die schriftliche Explikation dieser Rezeptur oder dieses Könnens bzw. ihre Geschichte wird meist nur dort wichtig, wo ihre Anwendung problematisch wird oder nicht gelingt oder die Kette der Weitergabe von Rezepten abzusichern ist. In solch einer Situation wird dann aber oft auch ein wesentliches Moment der Literatur aufgegeben. Diese erzählt nämlich nicht nur Geschichten, sondern stellt systematische Ordnungen des Wissens her, um in ihnen nicht nur einzelne Begriffe, sondern etwa auch Ansichten zu diesen Begriffen festzuhalten. Es entsteht ohne sie kein Kosmos des Wissens mehr, wie er etwa bei Alexander von Humboldt noch explizit beschrieben bzw. angezielt wird. Die Informationsgesellschaft operiert entsprechend am Ende immer nur mit vereinzelten Bruckstücken des Wissens, die in ihrer Gesamtheit von selbst eine Einheit darstellen sollen. Doch das ist eine problematische Hoffnung.

Eine über das Wissen und seine Genese systematisch geschriebene Geschichte wäre dabei auch keine bloße narratio. Der Zusammenhang, der Zweck und der Ursprung solch einer Geschichte, in der sich dann die einzelnen Sätze zu einer Ganzheit finden, ist in einer bloß verfahrensorientierten und empirisch- induktiv vorgehenden Wissenschaft aufgegeben. In ihr bilden die Sätze nicht mehr ein Netz von Hypothesen, das dazu dienen soll, um darin ein in sich unklares Bestimmungsverhältnis einzufangen und es dann mehr und mehr festzuzurren und »auf den Begriff« zu bringen. Das heißt, Wissenschaft ist hier nicht mehr Textarbeit – im Sinne des Tastens und Explorierens. Eine solche Wissenschaft dokumentiert ihre Erfolge und optimiert ihre Erfolgsanweisungen bloß noch lokal. Durch den Verzicht auf eine Textarbeit bleibt daher am Ende vollkommen unbestimmt, worin hier die Erfolge insgesamt eigentlich bestehen, was also den Rahmen des Guten und Richtigen ausmacht, innerhalb dessen wir überhaupt erst von Erfolgen oder Misserfolgen sprechen können. In den jeweils lokal zu optimierenden Regeln werden die vormals eingeschlagenen Seitenwege und damit das Möglichkeitsdenken ja auch oft wieder verworfen und – schnellstmöglich – vergessen. Eine Geschichte dieses Wissens, das nicht dessen Ziel, sondern bloß den Wegabschnitt der je gegenwärtigen ›Wissensgewinnung‹ dokumentiert, wäre freilich unnötig. Es wäre dann nicht mehr danach zu fragen, ob es in der eingeschlagenen Richtung vormals Abzweigungen, Nebenwege oder vielleicht weitere Horizonte gab. Die Entwicklung des ›Wissens‹ würde zur bloß faktischen Evolution, ohne Möglichkeitshorizont und entsprechende Zielkontrolle. Sie wäre bloß dem Gefühl der faktischen Zufriedenheit der Evaluatoren und Benutzer unterworfen. Wenn es aber nun ausschließlich darauf ankommt, das Hier und Jetzt in den Blick zu nehmen, und nur hierfür eine Ordnung, eine Methode und ein Archiv zu bilden, dann ist die Wissenschaft und mit ihr auch deren Geschichten am Ende.

Zwar gibt es dann weiterhin Biographien, aber sie gehörten dann zur Unterhaltungsliteratur. So können Russell oder Feynman ihre Leistungen in der Wissenschaft nutzen, um auf einer ganz speziellen öffentlichen Bühne aufzutreten und als »geniale« Intellektuelle zu erscheinen. Nur ist diese Performance nicht mehr die Geschichte eines sich aus sich selbst entwickelnden Welttextes. Diese Geschichte ist immer nur der Blick des Erzählers auf sich selbst, der es dann auch genügend schwer hat, andere für seine Ansichten zu begeistern und der deshalb darauf verfällt, sich selbst in den Mittelpunkt seiner Darstellung zu rücken.21

Die »Muße« des historischen Wissens meint sich nur derjenige nicht leisten zu können, der bloß am Einzelproblem interessiert ist. Dieses irritiere ihn nur. Er brauche feste Regeln und schnell beherrschbare, also schematisierte Verfahren, die »klar und deutlich«, im Sinne von weitgehend mathematisiert sind. Ein Mangel an schnell verständlichen schematischen Ausdrücken wird hingegen als Anzeichen für Unwissenschaftlichkeit gewertet. Quisquilien der Unklarheit einer sich oft nicht schematisch präsentierenden Welt oder Sprache und Meinungsverschiedenheiten über Kriterien des Richtigen und Guten sind ihm ein Gräuel. Diese halten ihn, so meint er, und den Fortschritt bloß auf. Er wünscht sich Techniken, die er allein steuern kann, ohne sich mühsam mit anderen einigen zu müssen. Der Weg und die Probleme, die zu diesen Techniken führen und die Probleme, die seine Anwendungen hervorrufen, interessieren ihn nicht weiter.

Sicher, man kann heute ehemals mögliche, aber nicht auf die heutigen Problemstellungen hin zugeschnittene Lösungswege keineswegs direkt nutzen. Insofern taugt eine sich bloß der Narration und Neugier verschriebene Wissenschafts- und Technikgeschichte nicht unmittelbar zur Verbesserung der Entwicklung gegenwärtiger Wissenschaft und Technik. Diese will gegenwärtig relevante Probleme lösen und sich nicht irgendwelche alten, nicht mehr relevanten Probleme als eine Art l’art pour l’art stellen. Doch das Wissen, das wir aus einer guten Geschichte über die Herkunft unserer Institutionen und die Entwicklung unseres Wissens und Könnens erhalten, liefert keine unmittelbaren Rezepte für das technische Handeln, eher ein besseres Verständnis der Bedeutung freier subsidiärer Kooperation in einer auf gegenseitigem Vertrauen und einem ethischen Ehrenkodex kurzfristig geplant. Aber eben dahhrheit und nicht bloß auf einer durch kurzfristige monetäre Interessen gesteuerten Arbeitsteilung.

VI.

Gerade in einer mehr an Themen und Gegenständen, weniger an einem internen Fachethos und der disziplinären Selbstkontrolle orientierten Kooperation zwischen verschiedenen Wissenschaftsbereichen werden derartige Dinge höchst relevant. Hier wird das Teilwissen oft derart komplex, dass es sinnvoll erscheint, ggf. neue Hybridfächer zu gründen, um bestimmte Problemstellungen überhaupt bewältigen zu können. Die Neuroinformatik, die in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends direkt als eigenständiges Fach etabliert werden sollte, ist eine solche Funktionsdisziplin. Ob sich dabei aber die dichte ethische Kontrolldisziplin der Fachkulturen erhalten lässt, ist fraglich, wie andere Hybridfächer zeigen, von den Kultur- und Medienwissenschaften bis zur Neuropsychologie. Dabei sollen zwar Ausbildungsprofile und Schlüsseltechnologien eine Einheit schaffen. Doch die methodische Matrix der Verfahrenstechniken ist nicht immer sinnvoll auf Einzelgegenstände zuzuschneiden. Um allgemeine Verfahren und Techniken zu optimieren, ist eher an einer methodisch disziplinären Matrix festzuhalten als sie durch einzelne oder auch bloß besondere Gegenstandsorientierungen zu ersetzen. Gerade diese Gegenstandsorientierung kann sich in diesen neuen Hybridfächern nämlich als problematisch erweisen. So stellt sich in den Kultur- und Medienwissenschaften nicht zufällig das Problem, das gerade der Gegenstand, nämlich der Begriff der Kultur oder des Mediums schwierig bleibt. Je nach Forschungstradition (und manchmal auch innerhalb derselben) wird er z. T. genau diametral zu anderen Traditionslinien verstanden, oder aber der Begriff wird unscharf, indem er gerade keine besondere Gegenstandsorientierung abbildet. So fasst beispielsweise die Kulturphilosophie, als Teilgebiet eines solchen Hybridfaches, oft einfach alles als Kultur auf: Wenn unter »Kultur« die gesamte Zweite Natur verstanden wird, so wird aber vollkommen unklar, woher dieses Hybridfach in Abgrenzung zu der »Mutterdisziplin«, der Philosophie selbst, ihre Daseinsberechtigung ableitet. Ein eigener, profilierter Gegenstandsbereich liegt hier dann jedenfalls nicht vor. Wenn es ihr hingegen, so eine mögliche zweite Variante, um die »Kultivierung « des Menschen, etwa in den Schönen Künsten geht, dann kann der Gegenstand »Kultur« nur über seine konkreten Manifestationen, also die jeweiligen Medien untersucht werden, die jedoch in den betreffenden Einzeldisziplinen wie der Literaturwissenschaft oder Kunstgeschichte bereits adäquat behandelt werden. Hier, aus der disziplinären Matrix heraus, kann dann ein interdisziplinärer Austausch im zweiten Schritt jedoch durchaus fruchtbar sein.

Das Verhältnis von vielfältig einsetzbarem zu nachhaltigem Methodenwissen und das technische Können für Einzelanwendung muss daher in Bildung und Ausbildung gut aufeinander abgestimmt sein. Wir lehren und lernen allgemeine Verfahren, die sich in der besonderen Anwendung im Einzelfall ausweiten und vertiefen lassen. Die naive Vorstellung von einer Abbildung der Welt verwandelt sich damit in ein Verständnis von Wissen als empraktischem Allgemeinwissen um mögliche Handlungsformen.

Ist diese ›Welt‹ bekannt, so ist intern ›nur‹ nach der Funktion zu suchen, über die x zu x’ transformiert werden kann. Die Zuordnung der im System abgebildeten x und x’ gibt diese Struktur vor. Dies lässt sich an einem Problem der Bewegungssteuerung demonstrieren: In der klassischen Theorie neuronaler Netze wird eine Anzahl möglicher Ortspunkte definiert, die ein Greifarm eines Roboters ansteuern kann.22 Für jeden dieser Punkte gibt es nun eine Verbindung zu jedem anderen dem Netz möglichen Punkt (dies sind dann die dem System möglichen Bewegungstrajektorien). Die Zuordnung zweier dieser Punkte kann nun einfach in den Funktionen gefunden werden, über die ein Greifarm von der Position a in die Position b gebracht wird. Diese Zuordnungen sind als Steuerungsfunktionen in der Architektur des Netzes implementiert. Dabei lässt es die Abbildung der möglichen Zuordnungsfunktionen ineinander zu, die Optimalfunktion zu identifizieren, die diese Zuordnung erlaubt.

Lösen wir uns von diesen festen Bahnen vorgegebener Handlungsrezepturen, so gelangen wir zu einer Dynamik, die sich nicht in einfach als sequentiell deutbaren Vernetzungsdiagrammen erfassen lässt. Das heißt dann aber auch, dass in einem zusehends komplexer verzahnten System ein Außenraum nicht einfach in einer 1 : 1-Abbildung repräsentiert wird. Arbeiten wir mit einer Optimierungsstrategie, so werden wir diese verschiedenen Komplexitätsebenen in der Genese der momentanen Einstellung verwerfen müssen. Als Notiz behalten wir nur das Resultat. Wir notieren nur die Lösung und nicht den Weg zu ihr hin.

Erkennen ist nun aber nicht einfach ein Wiederauffinden vorgegebener Einzelerfahrungen. Für alle, die bloß technologisch verfahren, hat sich die Welt immer nur in den Notizen über die gegenwärtige praktische Anwendung abgebildet. Dieses könnte man nach den je bekannten Regeln variieren. Wir bleiben damit aber immer in dem schon bekannten Bild. Korrigieren können wir das nur innerhalb eines von außen vorgegebenen, rein traditionalen und eben damit möglicherweise provinziellen Möglichkeitshorizonts mit zumeist allzu engen Grenzen. Hier ist die Phantasie des ›Kopfwerkers‹, das kreative Möglichkeitsdenken der Reflexion und damit »Spekulation« im eigentlichen Sinne, nämlich als metastufige Reflexion, gefragt.

In der spekulativen Redeform geht es den ›Kopfwerkern‹ gerade um die Gesamtübersicht, die den auf Schematisierungen basierenden hochspezialisierten Technologien fehlen muss, damit sie effizient ablaufen können. Aus szientistischer Sicht kann man den geschichtlichen Prozess der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften aus der Philosophie freilich als das Eingeständnis werten, dass der Philosophie die Aufgabe zukomme, sich als »erste Wissenschaft « am Ende selbst überflüssig zu machen – die Einzelwissenschaften helfen der Philosophie demnach dabei, dieser Pflicht nachzukommen.23 Was »Wissenschaft « überhaupt sein soll und kann, wird hier von vornherein als bekannt unterstellt. Dies stellt ganz grob auch die Sicht des Logischen Positivismus dar. Doch ohne eine »Spekulation« auf das Tun in den einzelnen Disziplinen können wir nichts über die Ebene des Möglichen aussagen, damit auch nicht über eventuelle Alternativen, womit die Spekulation letztlich auch für jedes wirkliche Handeln, im Unterschied zum bloßen Verhalten, relevant wird. Zudem wird dieser in einem bestimmten Sinne »totale« Redemodus des Spekulativen umso wichtiger, je kleinschrittiger und spezialisierter beispielsweise die naturwissenschaftliche Forschung wird. Ohne einen Ort philosophischer Spekulation, an dem versucht wird, einen, wenn auch immer bloß groben Überblick zu behalten und auch sprachlich zwischen den einzelnen Disziplinen zu vermitteln, droht stets die Gefahr, dass technologische Forschung zum Selbstzweck wird, ohne dass dies jemand »in the short run« der bloßen Gegenwart ohne Möglichkeitshorizont bemerken könnte. Treten dann jedoch langfristig negative Folgen ein, kann es bereits schon zu spät sein, diese abzuwenden.

Rein verfahrensorientierte Wissenschaften sind immer nur sehr kurzfristig geplant. Aber eben daher kann eine derart auf ein bestimmtes enges und oft intern gegebenes Problemfeld angelegte Wissenschaft schnell ihren Gegenstandsbereich verlieren. Zumindest wenn das Problem gelöst ist, fragt es sich, ob die gewonnenen Einzelstrategien, die für dieses Problem optimal waren, auch auf andere Problemfelder zu übertragen sind.

Die Alternative besteht in der klugen Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Besonderem. Bildung geht auf das Allgemeine, Ausbildung auf das Besondere. Unser Plädoyer ist daher, über den Technologien nicht das Philosophische – in einem durchaus weiten Sinne – zu vergessen. Im Gegenteil, kreatives Wissen und Technologie verlangen immer auch philosophisch-strukturelles Nachdenken. Dabei ist an eine methodisch und konzeptionell offene Philosophie und Logik, nicht an eine bloß auf ein Sachthema wie die Mathematik eingeschränkte formale Logik zu denken. Nur eine solche ist im Rückblick erhellend, im Blick auf (zukünftige) Möglichkeiten innovativ. Nur der sich entsprechend selbstkritisch abwägende Gedanke führt zu Neuem. Dieses kann er konturieren. Er wird es nie selbst in Technologien umsetzen. Er kann Technologien nur vorbereiten.

Damit sollten die verschiedenen Realisationsformen technisch-kulturellen Arbeitens nicht etwa miteinander vermischt werden, sondern jeweils in ihren Kernkompetenzen optimal ausgebildet und auch im Gefüge einer Diskussion um Bildung und Wissenschaft adäquat positioniert werden. Insofern ist eine differenzierte Betrachtung unseres Bildungssystems anzumahnen. Sonst vergeuden wir nicht einfach nur Traditionen, sondern unser eigentliches gesellschaftlich- kulturelles Kapital, und zwar gerade in einem großen Feuerwerk an Rhetorik, in dem über Leuchttürme, Exzellenzinitiativen und Autonomie die Rede ist. Symptomatisch ist das für eine Kultur, die sich der wichtigen Differenz zwischen klangvollen Worten und einem nachhaltigen institutionellen Handeln nicht mehr bewusst ist und daher das, was sie tut, am Ende nur noch in Kategorien des Eventmanagements zu bewerten vermag.

Was wir brauchen, ist eine die historisch gewachsene Funktionalität der Disziplinen ausmessende Fachkompetenz, die sich eben nicht auf den methodisch schon heruntergekochten Horizont eines bloß auf Einzelprobleme fokussierten Wissens einschießt, das nur das in den Blick nehmen kann, was sich ja momentan zeigt oder sich aus der Kurzgeschichte einer unmittelbaren Vergangenheit als Information ergibt. Erst das Überschreiten einer solchen in der Gegenwart lokal selbstvergessenen Wissenschaft wäre der Ausgangspunkt für eine philosophisch aufgeklärte Wissenschaft. Allerdings – auch das ist festzuhalten – bedeutete die dafür notwendige Art der Forschung sowohl für die Wissenschaft als auch für die Philosophie, sowohl für die Natur- und Technikwissenschaften als auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften eine große Herausforderung wenn nicht gar Zumutung.

  1. 1Die Autoren danken Frau Jasmin Engelbrecht, M. A., für die kritische Einrichtung des gemeinsamen Endtextes.
  2. 2Olaf Breidbach:Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht. Reihe: edition unseld. Suhrkamp. Frankfurt/M. 2008
  3. 3Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système orphique de Iéna), Frankfurt/M. 1992.
  4. 4Cf. dazu auch P. Stekeler-Weithofer, »Philosophie und das Konzept der Öffentlichkeit «, in:Dtsch. Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1997 (45. Jahrg.), S. 197–214; ders., »Zum Ort der Philosophie in den Wissenschaften «, in: Richard Raatzsch (Hg.), Philosophieren über Philosophie. Leipziger Schriften zur Philosophie 10, Leipzig 1999, S. 177–202, ders., »Wissensmanagement statt Bildung? – Ein kulturphilosophischer Zwischenruf « (zus. m. Bettina Kremberg), in: Boris Wyssusek (Hg.): Wissensmanagement komplex. Perspektiven und soziale Praxis, Berlin 2004.
  5. 5Cf. dazu P. Stekeler-Weithofer, »Plato and the Method of Science«, in:Hist. of Philos. Quarterly, 9, 1992, S. 359–378.
  6. 6Geert Hofstede, Cultures and Organizations: Software of the mind, London 1991.
  7. 7Olaf Breidbach: »Brauchen die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften?«, in: Jörg-Dieter Gauger und Günther Rüther (Hg.):Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Freiburg i. Br. 2007, S. 136–178
  8. 8Cf. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 1982.
  9. 9Olaf Breidbach, Deutungen. Zur philosophischen Dimension der internen Repräsentation, Weilerswist 2001.
  10. 10Cf. Dazu insbesondere Robert B. Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge/Mass. 1994.
  11. 11Cf. Pirmin Stekeler-Weithofer, Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik, Berlin 2008.
  12. 12Cf. z. B. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Stuttgart 1986, oder ders., Bildung und Sprache, Paderborn 19975, sowie ders., Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Darmstadt 20026.
  13. 13Cf. Bertrand Russell, My Philosophical Development, London 1959, sowie ders., The Autobiography of Bertrand Russell, 3 vols., London 1967/68 (vol. 1/2), New York 1969 (vol. 3).
  14. 14Cf. Christian Forstner, Quantenmechanik im Kalten Krieg: David Bohm und Richard Feynman, Diepholz 2008.
  15. 15Cf. u.a. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Teil 3: Die Philosophie des Geistes (1830), in: E. Moldenhauer u. K. M. Michel (Hg.), G. W. F. Hegel Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1986. (darin: Zweite Abteilung: Der objektive Geist).
  16. 16Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs / Novalis. Begr. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, hrsg. von Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophische Werk. Stuttgart 1981, S. 434.
  17. 17Werner Busch, Caspar David Friedrich: Ästhetik und Religion, München 2003; Reinhard Wegner, »Carl Blechen: Die Entstehung des Bildes in der Skizze«, in F. Weltzien, Hg., Von selbst. Autopoetische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Bonn 2006, S. 97–108.
  18. 18Cf. z. B. Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/M. 1994; sowie Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/M. 2002.
  19. 19Werner Spiess, Max Ernst – Collagen. Inventar und Widerspruch, Köln 20034.
  20. 20B. Jack Copeland, Hg., Alan Turing’s Automatic Computing Engine, Oxford 2005. Cf. dazu auch P. Stekeler-Weithofer, Verstehen und Begreifen (Hegel). Zum Konservativismusproblem technischer Information und Rationalität, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistik- Verbandes 3, 1990, S. 19–25; ferner ders., Zum Unterschied zwischen formalen und natürlichen Sprachen, in: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Selbstbestimmung und Anpassung. Band 4: Neue Technologien und Medien in Germanistik und Deutschunterricht. Tübingen 1989, S. 72–80.
  21. 21Cf. Christian Forstner, Die Inszenierung eines Genies: Richard P. Feymann, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 4, im Druck 2008.
  22. 22Cf. Valentino Braitenberg, Vehicles. Experiments in Synthetic Psychology, Cambridge, Mass. & London 1984; hierzu dann auch Helge Ritter, Thomas Martinetz und Klaus Schulten, Neuronale Netze: eine Einführung in die Neuroinformatik selbstorganisierende Netzwerke, Bonn 1991.
  23. 23Cf. z. B. Jürgen Mittelstraß, Das praktische Fundament der Wissenschaft und die Aufgabe der Philosophie, Konstanz 1972.
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Heft 2 (2009)
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