Die Struktur der Verantwortungsfreiheit
Thesen zur Hochschulpolitik
1. Die politischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Universitäten in Deutschland, und vermutlich in mehreren anderen Ländern der EU ebenso, haben sich in den vergangenen Jahren in einem entscheidenden Punkt deutlich verschlechtert. In den letzten Jahren wurde die für die Universitätsentwicklung destruktive Entdeckung gemacht, dass die Hochschulpolitik ohne ernsthaften Widerstand von innerhalb und außerhalb des akademischen Systems relativ beliebig in die Universitäten intervenieren kann. Der generelle Grund dafür ist, dass es kaum funktionierende Rückkoppelungen von hochschulpolitischer Steuerung einerseits und Verantwortung für deren Ergebnisse andererseits gibt. Innerhalb der Universitäten liegt dies daran, dass sich akademische Erfolge und Misserfolge nur dem wissenschaftlichen Personal, nicht aber den Hochschulleitungen zurechnen lassen. Dieses Problem wird noch durch die Doppelspitze Rektor/Kanzler verschärft, welche die Trennung zwischen allgemein- inhaltlicher und finanzieller Zuständigkeit bedingt und die wirksame Übernahme von Gesamtverantwortung für die Universität behindert.1
Im Bereich außerhalb der Universitäten ist der Grund für den Mangel an Rückkoppelungen von hochschulpolitischer Steuerung und Verantwortung für deren Ergebnisse darin zu suchen, dass Hochschulpolitik kaum wahlrelevante Mehrheiten tangiert, hochschulpolitische Fehlentwicklungen darum politisch unsanktioniert bleiben. Die Hochschulpolitik ist in zeitlicher und sachlicher Hinsicht dazu disponiert, in der Konkurrenz um Wählerstimmen ignoriert zu werden. Erstens wirkt Hochschulpolitik in Zeithorizonten, die weit über Legislaturperioden hinaus gehen. Zweitens betrifft Hochschulpolitik unmittelbar nur Minderheiten, während ihre weit streuenden Effekte niemandem durch die (Wahl-)Bevölkerung zurechenbar sind. Und drittens sind hochschulpolitische Erfolge nur schwer öffentlich kommunizierbar, da sie sich nur bedingt quantifizieren und nur stark verkürzt in Geld ausdrücken lassen. Dass hochschulpolitische Interventionen einfach realisierbar sind, bedeutet freilich keineswegs, dass sich die mit ihnen verbundenen Intentionen problemlos realisieren lassen. Bei politischen Interventionen in ein derart komplexes System, wie es das akademische System darstellt, ist vielmehr mit nicht intendierten Effekten als Normalresultat zu rechnen. Aber dies ändert nichts an meinem Argument, im Gegenteil: Nicht intendierte Effekte lassen sich erst recht nicht auf ihre Verursacher zurück rechnen.
Aus dem ungelösten Problem der Zurechnung von akademischen Erfolgen und Misserfolgen zur hochschulpolitischen Steuerung ergibt sich die Struktur der Verantwortungsfreiheit der Hochschulpolitik
2. Die Struktur der Verantwortungsfreiheit der Hochschulpolitik wurde im Zuge des Bologna-Prozesses manifest.
Im akademischen System gibt es mittlerweile einen ebenso weit reichenden wie folgenlosen Konsens, dass die Bologna-Reformen mit Blick auf alle ihre wesentlichen Ziele kontraproduktiv waren: Die Einschreibeverfahren sind komplizierter als vorher, die Studienmöglichkeiten gehen an den Studienwünschen nun weiter vorbei, die Curricula sind überladen, die Chancen der Mobilität zwischen den Universitäten, national und transnational, haben zumindest im B. A.-Studium abgenommen, die B. A.-Studierenden haben zwar die gesteigerte Sicherheit, einen Studienabschluss zu schaffen,2 sie haben aber mit diesem Abschluss mehr Akzeptanzprobleme auf dem Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich, dass sich die Studiendauer bis zum ersten in der Gesellschaft verlässlich anerkannten akademischen Grad, dem M. A., durch die Reform verlängert. Insgesamt konterkariert dies das prominente Ziel, das Studium zu verkürzen. Gleichwohl zeichnet sich nur zögernd eine Reform der Reform ab. Genau das ist der Ausdruck der Struktur der Verantwortungsfreiheit der Hochschulpolitik: Sie muss sich um die Ergebnisse ihrer politischen Steuerungsversuche der Universitäten nicht kümmern, weil sie deren Folgen nicht zu fürchten hat.
3. Parallel zur Verschlechterung der Studiensituation an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland wurde das Einkommensniveau der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer deutlich reduziert. Die Umstellung von der C- auf die W-Besoldung verringert die Chancen, erstklassigen Nachwuchs für das Wissenschaftssystem zu rekrutieren. Die deutschen Universitäten geraten sowohl zu alternativen Karrieremöglichkeiten als auch zu ausländischen Universitäten ins Hintertreffen. Das sekundäre Problem ist, dass jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an ausländische Forschungsinstitutionen abwandern. Das primäre Problem ist, dass sich immer mehr aus dem Kreis der Besten des akademischen Nachwuchses gegen eine wissenschaftliche Laufbahn entscheiden. Diese negativen Effekte überwiegen bei weitem die wenigen Erfolge in der Folge von staatlichen Exzellenzaktionen. Die deutschen Universitäten sind als Nachfrager auf dem Arbeitsmarkt immer weniger konkurrenzfähig.
Einzelerfolge von Berufungen – meist Rückholaktionen aus den USA – machen das nicht wett. Im Gegenteil: Wie Richard Münch ausführlich und überzeugend argumentiert, tragen solche Berufungen, mit denen in der Regel Zusagen eines entsprechend großen Mitarbeiterstabes verbunden sind, eher zur Verkrustung des Wissenschaftssystems bei.3 Die oben eingeführte These der Struktur der Verantwortungsfreiheit lässt sich hier so präzisieren: Es gelingt der Hochschulpolitik durchaus, im Wissenschaftssystem Wirkungen zu erzeugen. Aber bei diesen Wirkungen handelt es sich überwiegend um nicht intendierte Effekte, die für die entscheidenden politischen Akteure, außerhalb und innerhalb der Universitäten, folgenlos bleiben.
4. Ein zentrales Problem, mit dem die Universitätsangehörigen in ihrem Arbeitsalltag umgehen müssen, besteht im Nebeneinander von wissenschaftspolitischer Exzellenz- und Relevanzrhetorik einerseits und der faktischen politischen Marginalisierung der Universitätsbelange andererseits. Es ist dies in der Tat für viele ein schwer ertragbarer Widerspruch, der an die Substanz des Wissenschaftssystems geht. Die Substanz: das ist die Innovations- und Arbeitsfähigkeit der Forschenden und Lehrenden. Ich beobachte unterschiedliche Reaktionsformen: Resignation ist eine, nach meiner Einschätzung erstaunlich wenig verbreitete, Reaktion. Die zunehmende Verlagerung der individuellen Aufmerksamkeit von den Belangen der eigenen Universität zu den Belangen der eigenen Disziplin und Profession scheint mir weiter verbreitet. Schließlich die Reaktion: jetzt-erst-recht. Das hochschulpolitische Engagement von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern, das sich daraus ergibt, scheint mir gegenwärtig der einzige Anhaltspunkt für Hoffnungen auf eine Wiederverbesserung der Situation der Universitäten. Ein analoges Engagement der Studierenden lässt sich nicht beobachten. Das Ausbleiben nachhaltiger studentischer Proteste ist ein weiterer Faktor, der die Struktur der Verantwortungsfreiheit der Hochschulpolitik reproduziert.
5. Eine Zwischenbemerkung: Die Universität Leipzig schlägt sich unter diesen Umständen gut. Nicht sehr gut, aber gut.
Die Attraktivität der Universität Leipzig als Studienort ist ungebrochen. Wir haben einige Fächer mit starker Anziehungskraft, von denen die gesamte Universität sehr profitiert. Diese Fächer haben, so meine ich, ihre Magnetfunktion zu akzeptieren. Daraus folgt aber auch, dass es Probleme des Lastenausgleichs gibt. Diese Probleme des Lastenausgleichs sind bisher nicht ausreichend scharf ins Auge gefasst, geschweige denn organisatorisch bearbeitet worden.
6. Die Struktur der Verantwortungsfreiheit manifestiert sich in erster Linie in Problemen zwischen den universitätsexternen Akteuren der Hochschulpolitik und den Universitäten selbst. Daneben zeichnet sie sich auch in Problemen zwischen dem wissenschaftlichen Personal und den Universitätsverwaltungen ab. Auch hier zeigt sich, dass die Universitäten generell unter den ungelösten Problemen der Zurechnung von Erfolg einerseits und dem Management von Erfolgsvoraussetzungen andererseits leiden. Erfolge fallen bei den Instituten und Lehrstühlen an – das Management der Erfolgsvoraussetzungen liegt zu einem erheblichen Teil auch bei der Verwaltung. Und so lange es nicht gelingt, die Verwaltung in irgendeiner symbolischen Form an den Erfolgen der Universität zu beteiligen, darf es nicht wundern, wenn Dienstreisen den Generalverdacht der Überflüssigkeit wenn nicht des Luxus gegen sich haben, wenn Publikationserfolge als Ausdruck eines verschärften Ego-trips von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erscheinen, und wenn Einwerbungen von Drittmitteln als Quelle problematischer Mehrarbeit und Störungen der Verwaltungsroutinen wahrgenommen werden. Es ist vielmehr genau umgekehrt: Vor dem Hintergrund der Struktur der Verantwortungsfreiheit ist erstaunlich, dass all dies nicht immer und nicht von allen so wahrgenommen wird; dass sich die Universitätsverwaltungen tatsächlich an der Herstellung von Erfolgsvoraussetzungen für die Universitäten breit beteiligen.
7. Was sollen und können Universitätsleitungen tun? Universitätsleitungen sollten weder wissenschaftliche Konferenzen organisieren, noch versuchen, Forschungsinitiativen, die aus der Tiefe der Universität kommen müssten, zu ersetzen. All das scheitert an einem unüberwindbaren Hierarchieproblem: Wie auch immer das Leitungspersonal einer Universität inhaltlich tätig wird – es kann nie sicher sein, ob mit ihm kooperiert wird seiner wissenschaftlichen Anziehungskraft wegen oder aus taktischen Gründen. Man ist also Opportunismus prinzipiell schutzlos ausgesetzt. Damit kommt ein Teufelskreis in Gang: Opportunisten schrecken Leistungsträger ab und ziehen mehr Opportunisten an, und das Niveau senkt sich bis zur Undurchführbarkeit eines an sich vielleicht vielversprechenden wissenschaftlichen Vorhabens ab.
Dagegen können Universitätsleitungen Forschungsinitiativen durch die Schaffung geeigneter Infrastrukturen wirkungsvoll unterstützen. Dabei gibt es ein entscheidendes Qualitätskriterium: Eine Forschungsinfrastruktur ist dann gut, wenn sie dem wissenschaftlichen Personal hilft, Zeit zu sparen. Zeit ist unsere mit Abstand knappste Ressource. Eine zeitsparende Infrastruktur für die Forschung und Lehre – das muss der Kern des Leitungskonzepts jeder forschungsorientierten Universität sein. Geld kann Zeit bedingt substituieren, allerdings nur dann, wenn die Geldbeschaffung durch die unübersichtliche Vielfalt der Geldtöpfe, die Rituale der Beantragung und Rechnungslegung etc. nicht selbst auf Zeitverschwendung angelegt ist.
8. Eine Universitätsleitung, die Aussicht auf Erfolg haben will, muss eine zentrale Vorleistung erbringen: Eine solche Universitätsleitung muss die Struktur der Verantwortungsfreiheit überwinden. Das heißt, sie muss ihren persönlichen Erfolg oder Misserfolg in verbindlicher und nachvollziehbarer Weise an den kollektiven Erfolg oder Misserfolg ihrer Hochschule koppeln. Dass diese Vorleistung erbracht wird, ist ebenso unwahrscheinlich wie unabdingbar. Unwahrscheinlich, weil eine Hochschulleitung sich damit willentlich einer komfortablen Konstellation begibt. Unabdingbar, weil sich der kollektive Erfolg einer Universität nur steigern lassen wird, wenn ihre Steuerung von den Leistung tragenden Hochschulangehörigen als legitim angesehen wird. Das aber setzt voraus, dass – für alle sichtbar – die Universitätsleitung für ihre Entscheidungen einstehen muss. Ohne derart fundierte Legitimation lässt sich eine Universität nicht erfolgreich leiten.
9. Es ist aber nur ein Teil der Erfolgsbedingungen von Universitäten für ihre Leitungen verfügbar. Ein größerer Teil wird von der Hochschulpolitik extern bestimmt. Mit der Überwindung der Struktur der Verantwortungsfreiheit dort ist nicht zu rechnen. Denn an der Marginalität der Hochschulpolitik in der Konkurrenz der Parteien und der politischen Issues lässt sich nichts ändern. Also sind aus dem politischen System hochschulpolitische Steuerungsversuche mit eher störenden als förderlichen Effekten zu erwarten. Daraus folgt, dass sich die Universitätsleitungen auf das erforderliche Minimum an Fügsamkeit gegenüber der Hochschulpolitik als Bedingung ihres Erfolges einstellen sollten. Für die Plausibilität dieser These gibt es gute Argumente und mittlerweile auch empirische Anhaltspunkte: Gegenwärtig scheinen jene Universitäten im Vorteil zu sein, die bei der Erfüllung der Bologna-Vorgaben Nachzügler sind;4 die ihre Angehörigen gegen externe Versuche simpler quantifizierender Leistungsmessungen abschirmen5 und die sich in der Öffentlichkeit als weitgehend autonome Institutionen darstellen. Generell muss es den Universitätsleitungen darum gehen, die Ambivalenzen zu nutzen, die in den gegenwärtigen Autonomisierungstendenzen der Universitäten liegen: Es mag zwar sein, dass die Steigerung der Hochschulautonomie primär von der politischen Absicht getragen ist, den Universitäten die Verwaltung des Mangels zu überlassen.6 Es stecken darin jedoch auch Handlungschancen, die zu eruieren und auszuschöpfen sind.
- 1Im Zuge der Reform des sächsischen Hochschulgesetzes 2008 wurde nicht nur die Gelegenheit verpasst, dieses Problem zu beseitigen. Es wurde noch verschärft. Zur Kritik daran vgl. die Stellungnahmen zum Entwurf für das sächsische Hochschulgesetz von Charlotte Schubert, Pirmin Stekeler-Weithofer sowie Gerald Eisenblätter / Karola Kunkel (alle inDenkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Heft 1, 2008).
- 2Darauf verweist Pirmin Stekeler-Weithofer, »Ist die Idee der (deutschen) Universität am Ende?«, inDenkströme. Journal der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Heft 1, 2008. S. 57.
- 3Richard Münch, Die akademische Elite, Frankfurt 2007.
- 4Vgl. Heinz Steinert, »Die nächste Universitäts-Reform kommt bestimmt«, inSoziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 37, Heft 2, 2008, S. 155–168.
- 5Das ist kein Votum gegen alle, aber gegen viele Versionen von externen Leistungskontrollen von Universitäten. (Zum Problem von Evaluationen vgl. Friedhelm Neidhardt, »Forschungsevaluation«, inSoziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 35, Heft 4, 2006, S. 419–425.) Zu selten wird bedacht, dass wechselseitige Leistungskontrollen dem Wissenschaftssystem ohnehin endemisch sind. Sie finden im Zuge der Begutachtung von Drittmittelanträgen, Manuskriptangeboten und Bewerbungen aller Art, sowie generell im wissenschaftlichen Diskurs statt. Schon vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Grenznutzen zusätzlicher aufwändiger Evaluationen.
- 6Michael Huber, »Reform in Deutschland. Organisationssoziologische Anmerkungen zur Universitätsreform«. inSoziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 34, Heft 4, 2005. S. 391–403.