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Wissenschaftsbegründung und Interdisziplinarität

Zum Abschluss des Akademievorhabens »Rekonstruktion der wissenschaftsphilosophischen Diskurse in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie«

Das Vorhaben

Das Akademieprojekt »Rekonstruktion der wissenschaftsphilosophischen Diskurse in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig war der Analyse eines Zeitschriftenprojekts des beginnenden 20. Jahrhunderts gewidmet, das wissenschaftshistorisch besondere Aufmerksamkeit verdient. Wilhelm Ostwald (1853–1932) und der Soziologe Rudolf Goldscheid (1870–1931) versuchten, ausgehend von den Ergebnissen und Methoden der Naturwissenschaft die Grundlegung eines philosophischen Weltbildes vorzunehmen. Während einer Zeit, in der die Reformen der Universitäten die Ausrichtung der Wissenschaften auf klar definierte Fachrichtungen beförderten, waren die Annalen der Naturphilosophie der interdisziplinären Diskussion um wissenschaftliche Fundierungsfragen und densystematischen Zusammenhang der Einzelwissenschaften verpflichtet. Unter den Autoren der Zeitschrift finden sich dabei berühmte Wissenschaftler, wie Felix Hausdorff, Ludwig Wittgenstein, Hans Adolf Eduard Driesch, Franz Oppenheimer, Arthur Erich Haas, Wilhelm M. Frankl und Ernst Mach. Sie vereinte in diesem Zusammenhang eine Autorenschaft, die sich aus eminenten Figuren der damaligen Wissenschaftslandschaft, wissenschaftlichem Nachwuchs, der sich später vielfach noch etablieren sollte, und einzelnen, damals durchaus im wissenschaftlichen Diskurs noch fest verankerten Privatgelehrten und Persönlichkeiten der wissenschaftlich gebildeten und interessierten Öffentlichkeit zusammensetzte.

Ostwalds Annalen haben die philosophische Landschaft ihrer Zeit entscheidend mitgeprägt. Da die klassische philosophische und wissenschaftsphilosophische Historiographie den Einfluss der Annalen auf die philosophischen Debatten weitgehend unberücksichtigt gelassen hatte, war die Rekonstruktion der wissenschaftsphilosophischen Diskurse in den Annalen der Naturphilosophie ein Desiderat, dessen Erfüllung unser Verständnis dieser Epoche vervollständigt und bereichert. Die Rekonstruktion der Annalen-Diskurse ist aber auch für die zeitgenössische systematische philosophische und naturwissenschaftliche Arbeit von Bedeutung, die dadurch von vergessenen Ideen und Konzepten profitieren kann.

Zur Durchführung des Vorhabens wurde unter der Leitung von Pirmin Stekeler-Weithofer, Heiner Kaden und Nikolaos Psarros vom 15. Oktober 2006 bis zum 31. Dezember 2008 eine vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst finanzierte Arbeitsgruppe eingerichtet.

Ergebnisse des Projekts

In der ersten Projektphase erfolgte die Rekonstruktion der verschiedenen Diskursstränge in den Annalen der Naturphilosophie. Dabei ergab sich ein Themenfeld, das in folgende Bereiche unterteilt werden kann:

  • Philosophische Überlegungen, vor allem zur Systematik der Wissenschaften und zur Erkenntnistheorie;
  • Arbeiten zu Grundbegriffen (Entwicklung, Harmonie, Kausalität, Raum und Zeit, Relativität, Leben und Wert) sowie
  • Beiträge, die sich um eine Fundierung sowohl der klassischen Naturwissenschaften (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie) als auch der – zur Zeit der Annalen noch im Entstehen bzw. im Wandel begriffenen – Kulturwissenschaften (Geschichte, Rechtssoziologie, Soziologie, Ökonomie) und der Sprachanalyse (Logik und Linguistik) bemühen.

Daneben findet sich ein Diskurs, der vor allem auf die politische Debatte zur Entwicklung des Erziehungswesens gerichtet ist. In den aufgeführten Themenfeldern finden sich immer wieder Beiträge, die für ihre Zeit erstaunlich avantgardistisch und damit auch heute noch thematisch aktuell sind, wie beispielsweise der Artikel des Odol-Fabrikanten und Gründers des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Karl August Lingner »Der Mensch als Organisationsvorbild« (Ann. Nphil. 13) belegt, der ein Plädoyer für Bionik enthält.

Ergänzt wurde dieser Teil der Bearbeitung des Vorhabens durch die Rekonstruktion der Diskurse unter Erstellung von Inhalts- und Argumentationsanalysen der Beiträge zu den wichtigsten Themensträngen der Annalen, d. h. zu den Artikeln mit wissenschaftssystematischen Überlegungen, zur Erkenntnistheorie und zu den sich neu entwickelnden Sozialwissenschaften. Außerdem erfolgte die Katalogisierung der fast ausschließlich von Wilhelm Ostwald vorgenommenen Besprechungen der damals zeitgenössischen naturphilosophischen Literatur anhand von Schlagworten.

Ein weiteres Ergebnis der ersten Projektphase ist die biographische Erschließung von etwa 90 Prozent der Autorinnen und Autoren der Annalen nach disziplinärer, akademischer und sozialer Provenienz. Dabei zeigte sich, dass neben bereits etablierten Wissenschaftlern, die in den Annalen vor allem interdisziplinäre, philosophische und grundlegende Überlegungen publiziert haben, auch wissenschaftlicher Nachwuchs veröffentlichen konnte, von dem ein großer Teil in den folgenden Jahren in Lehrämter an Universitäten berufen werden sollte. Eine dritte Gruppe von Autoren bilden die wissenschaftlich gebildeten Laien und Privatgelehrten, deren Bedeutung für die Wissenschaftsentwicklung im Publikationszeitraum noch beträchtlich höher einzuschätzen ist, als es gegenwärtig der Fall ist. Zu dieser Gruppe gehörte auch der zeitweilige Mitherausgeber Rudolf Goldscheid.

Ausgehend von der überraschenden Breite der Berufe der Beitragenden und der wissenschaftlichen Weite der insgesamt behandelten Themen können die Annalen als eine Form des Widerstands gegen die wissenschaftsorganisatorischen Veränderungen am Anfang des 20. Jahrhunderts aufgefasst werden. Mit der Neuordnung der Fakultäten an den Universitäten Deutschlands wurde nicht nur Wilhelm Ostwald selbst die Möglichkeit genommen, seine philosophischen Interessen im universitären Rahmen zu verfolgen, auch anderen angesehenen Wissenschaftlern lieferten die Annalen ein Refugium, um jenseits der sich stark professionalisierenden Universitäten fachübergreifenden und innovativen Ansätzen nachzugehen. Für das Verständnis der Annalen und des in ihnen kultivierten Laientums war daher die Einbeziehung des wissenschaftsorganisatorischen Umbruchs am Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Schritt, der auch für die gegenwärtigen Debatten um die Chancen von Innovation und Interdisziplinarität vor allem in der Kooperation von Sozial- und Geisteswissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits von großer Bedeutung ist.

In der zweiten Projektphase ging es darum, die diskursive Einbettung der Annalen in die zeitgenössischen wissenschaftsphilosophischen Entwicklungen näher zu bestimmen. Im deutschsprachigen Raum ist dabei vor allem die Herausbildung der Soziologie als universitärer Disziplin von eminenter Bedeutung, da beide Herausgeber an diesem Konstitutionsprozess sowohl publizistisch als auch organisatorisch beteiligt waren. Rudolf Goldscheid erwies sich als ein in der Soziologiegeschichte bisher nur unzureichend gewürdigter Pionier der soziologischen Gesellschaften in Deutschland und Österreich. Aber auch Wilhelm Ostwald publizierte zu soziologischen Themen und wurde als wissenschaftliche Autorität u. a. vom heute international bekanntesten Soziologen jener Zeit, Max Weber, sehr ernst genommen.

Ausgehend von dieser Erkenntnis ergab sich die Notwendigkeit der Erforschung des politischen und weltanschaulichen Engagements der beiden Herausgeber – vor allem aber von Wilhelm Ostwald, da der Status der Soziologie als engagierter Wissenschaft in jener Zeit der zentrale Diskussionspunkt war. Die Überschneidungen dieses Engagements mit der Arbeit an den Annalen zeigen sich dann auch vor allem in den sozialwissenschaftlichen Beiträgen. Ein Vergleich mit der parallel zu den Annalen erschienenen Bibliographie der Sozialwissenschaften ergab zudem, dass die zeitgenössische Deutung des sozialwissenschaftlichen Feldes sich im Vergleich zur Gegenwart verschoben hat, so dass unter Einbeziehung der zeitgenössischen Perspektive eine Ausweitung des Feldes der Artikel mit sozialwissenschaftlicher Relevanz vorgenommen werden musste.

Gab es im sozialwissenschaftlichen Bereich organisatorische Verbindungen, die die Herausgeber der Annalen mit sozialreformerischen Bemühungen in Berührung brachten, so stützt sich die Wahrnehmung der Ostwaldschen Energetik bei den russischen Sozialrevolutionären vor allem auf erkenntniskritische Überlegungen. Diese führen einerseits zur Verdammung von Ostwalds Ideen durch W. I. Lenin, andererseits hatte Ostwalds Naturphilosophie aber auch einflussreiche Anhänger wie Alexander Bogdanow, der den ›Empiriokritizismus‹ Ernst Machs unter Bezugnahme auf Ostwald zu einem ›Empiriomonismus‹ fortentwickelte.

Im Bereich der Erkenntniskritik konnten zwei Antworten der Energetik auf zentrale Probleme, die sich den entwickelten Naturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts immer drängender stellten, rekonstruiert werden. Das betraf zunächst die Gegenstände der empirischen Wissenschaften, die mit der Atomtheorie in einen Bereich nur noch theoretisch konstruierbarer, empirisch aber nicht mehr wahrnehmbarer Gegenstände überzugehen begannen. Der Vorschlag der Energetik auf diesem Gebiet ist es, statt wieder in den Zustand des bloß Hypothetischen zurückzufallen, die Perspektive der tatsächlich beobachtbaren Prozesse und Wirkungen zu stärken. Das zweite Problem, das in den Annalen gelöst werden sollte, war die Frage nach dem Zusammenhang der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften. Hier ist die in den Annalen eingenommene Position weniger eindeutig und stärker als im Bereich der wissenschaftlichen Gegenstände von anderen Diskursen abhängig. Eine erste Lösung ist die Rückführung aller Prozesse in der Welt auf Energie als abstraktem Einheitsprinzip. Diese Lösung wird dann aber modifiziert, einerseits durch Ostwalds wachsendes Interesse für die Logik, andererseits durch die konkreten Fragen nach den Übergängen zwischen den einzelnen Wissenschaften, ein Thema, das vor allem – aber nicht nur – anhand der Verbindung von Chemie und Biologie diskutiert wurde.

Einer Beurteilung der Wirkungsbreite der in den Annalen vorgestellten Ideen dient auch die Untersuchung der publizistischen Tätigkeit Ostwalds außerhalb der Annalen. Durch diese sind Rückschlüsse auf die Anerkennung des in den Annalen vorangetriebenen Projekts einer Naturphilosophie möglich, da Ostwald erstens als der Repräsentant dieses Projekts galt und zweitens in den ersten Jahren des Erscheinens sich vorrangig mit dem in den Annalen aufgespannten Themenfeld beschäftigte.

Bezüglich der Akzeptanz der Annalen im Feld der wissenschaftsphilosophischen Publikationen ihrer Zeit konnten im dritten Projektabschnitt zwei von einander unterscheidbare Phasen identifiziert werden. Im Zeitraum von 1901 bis 1910 finden sich drei Viertel der Beiträge von akademisch fest etablierten Autoren, die im gesamten Publikationszeitraum in den Annalen veröffentlicht wurden. In den ersten Bänden glänzen die Annalen noch mit bekannten Namen deutscher und internationaler Wissenschaftler, diese Dichte lässt jedoch zunehmend nach. Entsprechend wurde die Zeitschrift bis 1990 regelmäßig in das wissenschaftsphilosophische Rezensionsorgan Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Method aufgenommen. Ab 1911 unterbleibt nicht nur die Listung dort, sondern auch die Aufnahme einzelner Artikel aus den Annalen in die Bibliographie der Sozialwissenschaften. Hinzu kommt die dramatische Abnahme der Zahl der Abonnements, die ursprünglich 500 betragen hatte.

Im Zeitraum von 1911 bis 1921 verschiebt sich zum einen das Feld der Autorinnen und Autoren der Zeitschrift, zum anderen ändert sich auch das von Ostwald angesprochene Publikum. Ostwald versucht vor allem, unter den Mitgliedern des Monistenbundes Interesse für die Annalen zu wecken. Die Leserschaft verschiebt sich aus den universitären Kreisen, die teilweise starkes Interesse an Ostwalds Programm einer Naturphilosophie hatten, in kultur- bewegte und sozialpolitische Milieus. Gleichzeitig werden statt der akademisch etablierten Autoren jetzt vorrangig Feuilletonisten und Privatiers gewonnen. Die Zeitschrift entprofessionalisiert sich – sowohl was die Autoren, das Publikum, die Themen und letztlich auch die Herausgeber betrifft – und wird zu einem dilettantischen Blatt von wissenschaftlichen Amateuren. Das erhöhte allerdings gleichzeitig in einem gewissen Maße das kreative und innovative Potential der Artikel in den letzten Jahrgängen, sodass diese – etwa mit Artikeln Rosa Mayreders, Siegfried Bernfelds oder Ludwig Wittgensteins – universitäre Entwicklungen teilweise um Jahrzehnte vorwegnahmen.

Die Neuausrichtung der Zeitschrift, zu der auch die vorübergehende Änderung des Titels in Annalen der Natur- und Kulturphilosophie und die Einbeziehung Rudolf Goldscheids in die Herausgabe (beides 1913–1917) gehört, konnte das Überleben des Vorhabens jedoch nicht sichern. Ab 1919 ist belegt, dass die sinkende Zahl der Abonnements die Finanzierung der Zeitschrift unmöglich werden ließ.

Die im letzten Projektabschnitt untersuchte Rolle der Annalen als propagandistisches Mittel Ostwalds für das Projekt einer Ersetzung der Religion durch eine naturwissenschaftliche Weltanschauung, ist so zu bewerten, dass die in der Publikationsperiode ab 1911 festzustellenden mannigfachen Verquickungen mit dem Monistenbund, in dem Ostwald religions- und vor allem kirchenkritisch wirkte, keine Folge einer institutionellen Vernetzung waren. Die Annalen fungierten zu keinem Zeitpunkt als monistisches Blatt. Sie waren weder eine offizielle Anlaufstelle für monistische Autoren noch für Autoren anderer dissidenter oder devianter Reformbewegungen. Die Autoren dieses Spektrums wurden nicht systematisch oder aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Monistenbund rekrutiert.

Die Annalen widerspiegeln in der zweiten Hälfte ihres Publikationsverlaufs die sich verändernde Lebenswelt ihres Herausgebers Wilhelm Ostwald bzw. die Lebenswelt des zeitweiligen Mitherausgebers Rudolf Goldscheid, nämlich abseits universitärer Kreise. Ostwald und Goldscheid verkehrten zwar weitgehend im bildungsbürgerlichen und neumittelständischen Milieu, wobei sich der neue Mittelstand durch die habituelle und ideelle Orientierung am Bildungsbürgertum auszeichnete; die von diesen Kreisen geführten Debatten formierten sich aber weitgehend unabhängig von berufsmäßig universitären Diskussionen, wobei natürlich immer noch einige Teilnehmer als Vermittler zwischen akademischen Laien und akademischen Professionellen fungieren konnten. Indem Ostwald von Beginn an Dilettanten und Praktikern Platz in der Zeitschrift einräumte, fungierten die Annalen selbst einige Zeit als ein Vermittlungsorgan in beide Richtungen. Die letzten Jahrgänge der Annalen stellen dann allerdings wissenschaftliche Programme lediglich noch einem interessierten Laienpublikum, nicht, wie noch zu Beginn der Zeitschrift, auch den akademischen Kollegen, vor, so dass Wittgenstein, nicht bloß wegen des fehlerhaften Satzes, den von Bertrand Russell vermittelten Abdruck seiner »Logischphilosophischen Abhandlung« in den Annalen als ›Raubdruck‹ abtat und nicht sehr hoch schätzte, obwohl andere Organe die Veröffentlichung abgelehnt hatten.

Publikationen

In Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Leipzig und der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden wurden die Annalen digitalisiert und sind unter www.ub.uni-leipzig.de (Projekte > Drucke) im Internet zugänglich. Außerdem liegen zwei von den Projektleitern herausgegebene Sammelbände vor, die neben den Ergebnissen der am Projekt Beteiligten, Katharina Neef und Christian Schmidt, auch die Vorträge zu den zwei im Rahmen des Projekts veranstalteten Tagungen enthalten: Ein Netz der Wissenschaften? (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 81, Heft 4 (2009)) und An den Grenzen der Wissenschaft (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, Bd. 82 (2010)).

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Heft 2 (2009)
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1867-7061

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