Studien zu Carl Julius Fritzsche (1808–1871) und Il’ja Il’ič Mečnikov (1845–1916). Quellenarbeit in der Wissenschaftsgeschichte
Herausgegeben von Heiner Kaden und Ortrun Riha. (= Relationes. Schriftenreihe des Vorhabens »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin« bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Band 1) Shaker, Aachen 2008. VIII + 176 Seiten, 23 Abbildungen.
Im Mai 2007 hat an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ein neues Vorhaben seine Arbeit aufgenommen, das den Titel »Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert in Chemie, Pharmazie und Medizin« trägt und sich damit in eine aktuelle Forschungsrichtung einordnet: Das Thema ›Wissenstransfer‹ erfährt seit Jahren verstärkte Aufmerksamkeit und ist eingebettet in ein allgemeines Interesse an Kontakten zwischen unterschiedlichen Kulturen. Der Austausch zwischen Europa und Russland steht dabei schon seit längerem im Blickfeld der Wissenschaftsgeschichte. So widmeten sich Projekte zum einen dem 18. Jahrhundert, in dem der Wissensimport aus westlichen Ländern in das weniger fortschrittliche Zarenreich dominierte, und zum anderen der Wissenschaftspolitik der Sowjetunion. Vom gerade im 19. Jahrhundert besonders fruchtbaren Wissenschaftsaustausch speziell zwischen dem deutschsprachigen Raum und Russland haben die vorliegenden Untersuchungen einen so vielversprechenden Eindruck vermittelt, dass dieser nun im neuen Akademievorhaben vertieft und konkretisiert werden soll. Ausgangspunkt ist die sich im 19. Jahrhundert vollziehende naturwissenschaftliche Fundierung der drei Fächer Chemie, Pharmazie und Medizin und damit ein neues Wissenschaftsparadigma, dessen Entwicklung und Durchsetzung sowohl im Ländervergleich als auch anhand des transnationalen Ideentransfers und –austauschs untersucht wird. Diese wissenschaftshistorischen Fragestellungen werden in kulturelle, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge eingeordnet; auch wenn der Ansatz nicht primär sozialgeschichtlich ist, so gilt das Erkenntnisinteresse doch auch der Alltags-, Mentalitäts- und Institutionengeschichte.
Um dieses Anliegen und die Vorgehensweise in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit frühzeitig bekannt zu machen und zur Diskussion zu stellen, präsentiert der erste Band der für das Projekt ins Leben gerufenen Schriftenreihe Relationes zwei exemplarische Studien zu Naturwissenschaftlern, die für verschiedene Ausprägungen der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert stehen. Gleichzeitig werden unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb des Projekts und mehrere Quellentypen vorgestellt, denn sowohl Archivalien als auch Primärliteratur (i. S. v. historischen Originalarbeiten) sind für die Auswertung vorgesehen. Aktueller Anlass, gerade die beiden ausgewählten Personen zum Thema zu machen, waren die mit ihnen verbundenen Jubiläen im Jahr 2008 – der 200. Geburtstag von Carl Julius Fritzsche und der 100. Jahrestag der Verleihung des Nobelpreises an Il’ja Il’ič Mečnikov.
Der deutsche Pharmazeut und Chemiker Carl Julius Fritzsche (1808–1871) ist in Russland immer noch hoch geschätzt, aber hierzulande fast vergessen, obwohl das ›Fritzsche Reaktiv‹ lange zum Nachweis von Kohlenwasserstoffen benutzt wurde und ein im erzgebirgischen Johanngeorgenstadt gefundenes Mangan- Uranyl-Vanadat seinen Namen trägt (›Fritzscheit‹). Fritzsche absolvierte seine Ausbildung bei Eilhard Mitscherlich (1794–1863) in Berlin und übersiedelte 1833 nach St. Petersburg, wo er sich erfolgreich als Mineralwasserfabrikant etablierte. Damit gehört er zu den Personen, denen Russland Entfaltungsmöglichkeiten bot, die sie daheim wohl nie bekommen hätten: 1844 wurde Fritzsche an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften außerordentliches und 1852 ordentliches Mitglied. Sein wissenschaftliches Oeuvre umfasst u. a. Arbeiten über Doppelsalze, organische Farbstoffe, Anthracen, Pikrinsäure sowie die Modifikationen des Zinns. Der Fritzsche gewidmete Beitrag von Regine Pfrepper illustriert die Bedeutung der biobibliographischen Forschung innerhalb des Projekts und das Potenzial exakter Archivarbeit. So waren mehrere falsche Angaben in gängigen Handbüchern zu korrigieren und es liegt erstmals ein Schriftenverzeichnis Fritzsches vor. Ferner wurden zehn neu aufgefundene Briefe Fritzsches an seinen verehrten Lehrer Mitscherlich ediert und mit einem Kommentar versehen. Diese Quellen bieten einerseits Einblicke in die Alltagsgeschichte und erlauben es anderseits, über fast drei Jahrzehnte hinweg schlaglichtartig zeitgenössische Diskussionen in der Chemie bis hin zu persönlichen Querelen zu verfolgen.
Demgegenüber repräsentiert der russische Zoologe und Bakteriologe Il’ja Il’ič Mečnikov (1845–1916) einen der internationalen ›großen Namen‹. Er studierte und arbeitete in Russland und Deutschland, forschte jedoch auch zeitweise in Italien und am Institut Pasteur in Paris. Wie viele Gelehrte des 19. Jahrhunderts lässt sich Mečnikov keiner Einzeldisziplin zuordnen: Seine Beiträge zur Anatomie und Entwicklungsgeschichte der Wirbellosen fanden ebenso hohe Anerkennung wie die Untersuchungen zu Bakterien, Toxinen und zur körpereigenen Abwehr. Seinen Ruhm verdankt Mečnikov vor allem der Entdeckung der Phagozytose durch weiße Blutkörperchen; für seine Arbeiten zum Immunsystem erhielt er 1908 zusammen mit Paul Ehrlich (1854–1915) den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Im zweiten ausführlichen Beitrag stellt Thomas Schmuck nicht das wissenschaftliche Werk, sondern die durchaus umstrittenen populärphilosophischen Ideen Mečnikovs vor dem Hintergrund der zeitgenössischen gesamteuropäischen Diskussionen vor. Diese Studie soll die zweite Säule des Vorhabens illustrieren, indem sie ideengeschichtlich angelegt ist und den Blick auf den gesellschaftlichen Kontext von Wissenschaft richtet: Jahrelang von melancholischen Anwandlungen gequält, sah Mečnikov die einzige Quelle des Optimismus in der (Natur)Wissenschaft. Mit seinem szientistischen Vertrauen in deren umfassende Problemlösungskompetenz folgte er einer unter Wissenschaftlern der Jahrhundertwende verbreiteten Tendenz, ebenso wie mit der unkritischen Übertragung biologischer Beobachtungen auf gesellschaftliche Phänomene. Dass er sich überdies mit den damals aktuellen Problemen von Evolution und Verfall, Prävention und Zukunftssicherung beschäftigte, verschaffte ihm eine durchaus beachtliche Breitenwirkung.
Das dritte Modul des Projekts knüpft an die große Erfahrung der Sächsischen Akademie bei der Erarbeitung biobibliographischer Nachschlagewerke an. Eng verzahnt mit den monographisch darzustellenden Themen, entsteht kontinuierlich ein entsprechendes Lexikon, das alle Akteure berücksichtigen soll, die die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert gestaltet und getragen haben. Die Konzeption dieses Lexikons, von den herangezogenen Quellen über die Auswahlkriterien für die eingeschlossenen Personen bis hin zur Strukturierung der Einträge, wird daher ebenfalls in diesem Auftaktband kurz vorgestellt. Anhand eines Beispielartikels verdeutlicht Marta Fischer die Vorgehensweise; ein kleiner Ausblick erläutert die Möglichkeiten der Online-Präsenz sowie die Abstimmung mit anderen biographischen Datensammlungen im In- und Ausland.