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Technikfolgenabschätzung als wissenschaftliche Politikberatung am Deutschen Bundestag

Abstract

Technikfolgenabschätzung (TA, Technology Assessment) bezeichnet systematische Verfahren der wissenschaftlichen Untersuchung von Bedingungen und Folgen von Technik und Technisierung, ihrer gesellschaftlichen Bewertung und der Erarbeitung von Handlungsstrategien zum Umgang mit Wissenschafts- und Technikfolgen. TA als wissenschaftliche Politikberatung ist an vielen europäischen Parlamenten etabliert, richtet sich aber auch an Ministerien, Behörden und die EU-Kommission. Das Modell parlamentarischer Technikfolgenabschätzung wird am Beispiel des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag vorgestellt. Dabei wird die besondere Bedeutung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit hervorgehoben, in der diese Einrichtung arbeitet.

1. Aufgaben und Charakteristik der Technikfolgenschätzung

Technikfolgenabschätzung zielt hauptsächlich darauf, mit prospektiver Erforschung und Bewertung von Wissenschafts- und Technikfolgen zur gesellschaftlichen Meinungsbildung und zur Vorbereitung politischer Entscheidungen beizutragen.1 Das Wissen über Folgen von Wissenschaft und Technik soll bereits in diesbezüglichen Entscheidungen berücksichtigt werden können. Dies erfolgt zum einen unter dem engeren Ziel der Politikberatung (um die es in diesem Beitrag geht)2, andererseits darüber hinaus im Hinblick auf die Beratung der Gesellschaft allgemein. Am Anfang der TA stand die Erfahrung von unerwarteten und teilweise gravierenden Technikfolgen, von denen es in vielen Fällen wünschenswert gewesen wäre, sie im Vorhinein gekannt zu haben, um sie verhindern oder um Kompensationsmaßnahmen einleiten zu können. Demzufolge nahm zunächst der durchaus problematische Begriff der Frühwarnung vor technikbedingten Gefahren wesentlichen Raum in der TA ein.3 TA soll helfen, künftige Technikfolgen rechtzeitig zu erkennen, negative Folgen durch politische Steuerungsmaßnahmen zu verhindern und unsere Voraussicht für die Folgen unserer Handlungen insgesamt in zeitlicher Hinsicht auszuweiten. Die entscheidungstheoretische Innovation der TA besteht darin, systematisch und umfassend das beste verfügbare Nebenfolgenwissen aus unterschiedlichen Perspektiven für Entscheidungsprozesse zu integrieren.

Wenn auch pragmatisch und motivational die Frühwarnung vor technikbedingten Risiken zunächst im Vordergrund stand, so ging und geht es in der TA immer auch um die frühzeitige Erkennung der Chancen von Technik, damit diese optimal genutzt werden können, und damit rationale Abwägungen von Chancen und Risiken vorgenommen werden können. Die Suche nach Chancen und innovativen Anwendungsmöglichkeiten von Technik gehört untrennbar zur TA. In den letzten Jahren sind konsequenterweise Schnittstellen zur Innovationsforschung aufgebaut worden.

Einen weiteren wesentlichen Hintergrund der Entstehung von TA stellen gravierende gesellschaftliche Technikkonflikte als neue Erscheinung in den industrialisierten Gesellschaften seit den sechziger Jahren dar. Wesentliche Funktionen von TA sind (a) die frühzeitige Erkennung von Technikkonflikten, mehr noch aber (b) Beiträge zu ihrer möglichst gewaltfreien und diskursiven Lösung. In den letzten Jahren stehen statt der ›klassischen‹ Technikkonflikte (Kernenergie, radioaktive Endlager, Freisetzungsexperimente in der Gentechnik) vermehrt die ethischen Fragen im Vordergrund, die sich aus der biomedizinischen Forschung ergeben.4 In den Mittelpunkt einer hauptsächlich auf Konfliktbewältigung im Umfeld von Wissenschaft und Technik ausgerichteten TA treten Begriffe und Probleme wie öffentliche Kommunikation über Technik, Risikokommunikation, Konfliktforschung, Mediation und Schlichtung, Sozialverträglichkeit und die Beteiligung von Betroffenen an Entscheidungsprozessen.

Weiterhin ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass der klassische Fokus der TA, nämlich Technik in Form von gegenständlichen Artefakten (z. B. Anlagen und Kraftwerken) mit ihren Folgen zu untersuchen, an relativer Bedeutung zugunsten der Betrachtung eher wissenschaftlicher Entwicklungen einerseits und gesellschaftlicher Querschnittsfolgen der Technisierung andererseits verliert. Dies hat einerseits mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu tun, die immer stärker auf (technische) Vernetzung zielt und statt singulärer Artefakte eher ›enabling technologies‹ wie die Nanotechnologie betont. Andererseits sind auch im Wirkungsbereich von Technik die Folgedimensionen komplexer geworden. Besonders im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (mit ihren Folgen für neue Wertschöpfungsketten in Wirtschaft, Lebens- und Arbeitswelt, Logistik, politischer Kommunikation, weltweiter Vernetzung etc.)5, aber auch im biomedizinischen Bereich ergeben sich weit reichende Folgen, die bis in die kulturellen Grundlagen moderner Gesellschaften reichen.6 Es geht also häufig um komplexe Gemengelagen zwischen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, Innovationspotentialen, Produktions- und Konsummustern, Lifestyle und Kultur sowie politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungen.

Auf der Basis des wissenschaftlich gestützten Wissens sollen mögliche politische Maßnahmen und Instrumente zum Umgang mit Technikentscheidungen und Technik entworfen und im Hinblick auf ihre Eignung beurteilt werden, z. B. auf den Feldern des Digital Rights Management (DRM), möglicher Risiken von Nanopartikeln, der Förderung von technischen Innovationen im Verkehrsbereich, in Bezug auf eine nachhaltige Energieversorgung oder für einmeffizientes Stoffstrommanagement. Dieses Folgen- und Handlungswissen soll dann, und auch dies gehört zur TA, in die entsprechenden Entscheidungsprozesse eingebracht werden und dort die Entscheidungsgrundlage optimieren. Zur Politikberatung durch TA gehört auch, Hinweise zum gesellschaftlichen Umgang mit Nichtwissen und Unsicherheit zu geben, z. B. zum politischen Risikomanagement und zu Konsequenzen des Vorsorgeprinzips.7

Diese Aufgaben der TA stellen sich, je nach Kontext, in spezifischer Gestalt. Die konkrete Ausprägung von TA-Studien und -Prozessen8 berücksichtigt neben der Diagnose von Wissenslücken und der Entscheidung für den zu ihrer Schließung zu wählenden Forschungsmethoden (wissenschaftliche Dimension) auch Antworten auf die Frage, welche gesellschaftlichen Akteure (Wissenschaftler, Politiker, Administration, Stakeholder, Bürger, NGOs) inter- und transdisziplinär beteiligt werden (interaktive Dimension) und welche Kommunikationswege mit Adressaten und anderen Beteiligten gewählt werden sollen (kommunikative Dimension).9

Im Folgenden wird der Fokus auf TA als Politikberatung gelegt (Kap. 2), um sodann das am Deutschen Bundestag realisierte Modell vorzustellen, verbunden mit einem Schwerpunkt auf der Bedeutung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit der dortigen Politikberatung (Kap. 3).

2. Technikfolgenabschätzung als Politikberatung

Insofern TA als Politikberatung fungiert, setzt sie auf Möglichkeiten des Staates, in die Entwicklung der Technik eingreifen zu können – nicht als der ›bessere Ingenieur‹, sondern auf andere und durchaus vielfältige Weise.

Die hohen Erwartungen an die Steuerungsfähigkeiten des Staates, wie sie noch das ›klassische‹ Konzept der TA kennzeichneten,10 sind allerdings verflogen. Globalisierung, Netzwerkgesellschaft, Ökonomisierung und die Krise vieler politischer Institutionen sowie wachsende Mitgestaltungsansprüche der Zivilgesellschaft stehen dem entgegen. Die gegenwärtigen skeptischen Einschätzungen in der Steuerungsdebatte,11 dass der Staat den an ihn gerichteten Erwartungen in der Technikgestaltung nicht mehr nachkommen könne, werden, holzschnittartig zusammengefasst, folgendermaßen begründet12:

  1. Wissensproblematik: Der Staat habe in der dezentralen und pluralistischen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr die Möglichkeit, das erforderliche Steuerungswissen an zentraler Stelle zu versammeln.
  2. Orientierungsproblematik: Der Staat könne nicht (mehr) als Vertreter der Präferenzen und Interessen der Bürger im Sinne einer Gemeinwohlvertretung auftreten, sondern sei ein Interessenvertreter unter anderen, nämlich ein Vertreter seiner eigenen Interessen.
  3. Umsetzungsproblematik: Aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und des politischen Systems gebe es keine zentrale Planungsinstanz mehr, die gesellschaftliche Steuerungsintentionen und -programme umsetzen könne.

Zweifler an der Möglichkeit des Staates, weiterhin Akteur gesellschaftlicher Technikgestaltung zu sein, behaupten: »[…] das politische System ist somit nunmehr ein Teilsystem unter verschiedenen gleichrangigen Teilsystemen«.13 Dies trifft jedoch nur bedingt zu. Der Staat kann sich jedoch nicht auf die vielfach erwähnte Moderatorenrolle zurückziehen. Seine Aufgabe bleibt es, und diese Funktion ist nicht substituierbar, für legitimierte allgemeinverbindliche Entscheidungen zu sorgen.14 Es ist allerdings berechtigt zu fragen, wie die gegenwärtigen veränderten Bedingungen (Globalisierung, Beschleunigung, Pluralisierung) sich auf die staatlichen Möglichkeiten zur Technikmitgestaltung und zur Legitimationserzeugung verbindlicher Entscheidungen in diesem Feld auswirken.

Die Rolle eines zentralen monolithischen Planers, wie sie etwa im Marxismus oder in den sechziger Jahren auch in den westlichen Ländern planungsoptimistisch dem Staat zugeschrieben wurde, kommt ihm jedenfalls aus vielerlei Gründen nicht (mehr) zu. Faktisch wird durch den Staat jedoch nach wie vor technikbeeinflussend gehandelt. Standardsetzungen, Regulierungen, Deregulierungen, Steuergesetze, Verordnungen, internationale Konventionen, Handelsabkommen etc. beeinflussen auf verschiedene Weise den Gang der Technikentwicklung und -diffusion. Staatlicher Einfluss auf die technische Entwicklung kann folgendermaßen strukturiert werden, wodurch sich verschiedene Ansatzpunkte und Aufgabenbereiche für TA ergeben:

  1. Der Staat als Technikentwickler: Direkte Technikentwicklung durch den Staat besteht darin, dass der Staat die Forschungs- und Entwicklungsziele sowie die Einsatz- und Anwendungsgebiete der betreffenden Technik vorgibt und oft auch selbst Betreiber oder ausschließlicher Finanzier der FuE-Aktivitäten zur Realisierung dieser Technikziele ist. In diesen Bereich fallen z. B. bestimmte Raumfahrtprojekte, Infrastrukturprojekte (v. a. im Verkehrsbereich), nukleare End- oder Zwischenlager sowie Sicherheitsund Militärtechnik.
  2. Der Staat als Technikförderer: Durch Programme oder Schwerpunktsetzungen in der Technik- und Innovationspolitik sowie der Forschungsförderung kann der Staat bestimmte Techniken massiv fördern oder ihre Umsetzung beschleunigen. Auch zahlreiche, eher (natur-)wissenschaftlichen Grundlagenarbeiten gewidmete Programme weisen einen mehr oder weniger deutlich gemachten technologischen Focus auf (z. B. die Fusionsforschung oder Teile der Nanotechnologie).
  3. Der Staat als Regulierer setzt Rahmenbedingungen für die – nach diesen Maßgaben hauptsächlich in der Wirtschaft erfolgende – allgemeine Technikentwicklung. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen z. B. die Setzung von Grenzwerten und von Sicherheits- oder Umweltstandards, die Bemessung technikrelevanter Steuersätze oder technikrelevante und direkt regulierende Maßnahmen wie Verordnungen über Rücknahmeverpflichtungen von Altautos. Die Umsetzung erfolgt durch Gesetzgebung und rechtliche Operationalisierung.
  4. Der Staat als Techniknutzer: In vielen Feldern erwirbt der Staat marktgängige Technik und setzt sie für seine Ziele und Zwecke, z. B. in der Administration, ein. In den meisten industrialisierten Ländern übt der Staat durch seine Beschaffungsaktivitäten (procurement) und die damit verbundene Marktmacht – oft schafft oder unterstützt er de-facto-Standards – einen erheblichen Einfluss auf das Marktgeschehen aus.

Diese staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Technik sind sicher durch allgemeine Trends wie Globalisierung, Individualisierung und Dezentralisierung begrenzt. Sie sind aber nach wie vor vorhanden und ergebennen Gutachten in dem Bericht an das Parlament.</li> </uit Adressaten sowohl in Exekutive als auch in Legislative. Um die letztere soll es im Folgenden gehen.

3. Parlamentarische Technikfolgenabschätzung am Deutschen Bundestag

Der Grundgedanke der Technikfolgenabschätzung, das Wissen über (mögliche oder wahrscheinliche) Technikfolgen bereits in den Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen, ist Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts formuliert worden. Ganz konkret war der Hintergrund eine Asymmetrie im Zugang zu relevanten Informationen zwischen Parlament und Regierung in den USA. Während die Exekutive durch den ihr zur Verfügung stehenden behördlichen Apparat und die finanziellen Mittel jederzeit auf umfassende Informationen zurückgreifen konnte, hinkte das Parlament in diesen Fragen weit hinterher, so dass die für eine Demokratie unverzichtbare Gewaltenteilung in Technikentscheidungen gefährdet erschien. Gegenüber einem befürchteten demokratiefernen Expertokratismus der Ministerien sollte das Parlament als in Fragen von Wissenschaft und Technik entscheidungsfähige und kompetente Volksvertretung gestärkt werden. In dieser Hinsicht wurden in den europäischen Ländern teils ganz verschiedene konzeptionelle und organisatorische Modelle umgesetzt.15 Sie unterscheiden sich nach verschiedenen Freiheits- und Unabhängigkeitsgraden in Relation zum Parlament (z. B. im Hinblick auf die Themensetzung), nach verschiedenen Graden der Wissenschaftlichkeit, nach verschiedenen Einstufungen der Bedeutung von Partizipation und Öffentlichkeitswirksamkeit, sie haben teils erheblich unterschiedliche Größe und Ausstattung, sie unterscheiden sich durch ihren jeweiligen Zugang zu den parlamentarischen Beratungsprozessen und ihre organisatorische Einbettung. Im European Parliamentary Technology Assessment Network sind zurzeit dreizehn Mitglieder und vier assoziierte Mitglieder zusammengeschlossen.16

3.1 Das Institutionalisierungsmodell am Deutschen Bundestag

Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) besteht seit 1990 und ist seitdem eine ständige Einrichtung des Bundestages. Es leistet im Sinne der eingangs geschilderten Programmatik der TA Beiträge zur Verbesserung der Informationsgrundlagen insbesondere forschungs- und technologiebezogener parlamentarischer Beratungsprozesse. Zu seinen Aufgaben gehören vor allem die Konzeption und Durchführung von TA-Projekten und – zu deren Vorbereitung und Ergänzung – die Beobachtung und Analyse wichtiger wissenschaftlich-technischer Trends und damit zusammenhängender gesellschaftlicher Entwicklungen (Monitoring).

Bestandteil der Institutionalisierung ist, dass der Bundestag mit dem Betrieb des TAB eine externe wissenschaftliche Einrichtung beauftragt, die die Arbeiten im Auftrag des Bundestages, aber in wissenschaftlicher Unabhängigkeit (dazu s. u.) durchführt. Die entsprechenden Verträge werden jeweils für fünf Jahre abgeschlossen, so dass der Bundestag jeweils nach Ablauf dieser Zeit aus dem gewählten Institutionalisierungsmodell ganz aussteigen oder einen anderen Betreiber wählen könnte. Seit 1990 wird das TAB vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Forschungszentrums Karlsruhe betrieben. Seit 2003 besteht im Rahmen dieses Betriebs eine institutionalisierte Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI).

Das TAB ist strikt am Informationsbedarf des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse orientiert. Auftraggeber des TAB ist der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die Themenfindung für TA-Projekte sowie ihre Präzisierung und Eingrenzung ist also, und dies ist ein wichtiges Element des Institutionalisierungsmodells, Sache des Parlamentes. Die Themenfestsetzung wird als ein politischer und nicht als wissenschaftlicher Akt begriffen. Entscheidungen über die Dringlichkeit von Problemen und gewünschte wissenschaftliche Beratung gehören damit auf die politische Agenda.

Die Themen des TAB kommen aus nahezu allen Bereichen der Technik. Es überwiegen die ›klassischen‹ Themen der TA wie Technik und Umwelt, Energie und die Bio- und Gentechnik. Daneben gibt es Studien zu ausgewählten Wissenschafts- und Technikfeldern wie z. B. zu Neuen Materialien oder zur Nanotechnologie. In der letzten Zeit wurden verstärkt Studien aus dem Bereich der Medizintechnik (Health Care Technology Assessment) und aus dem Kontext der Informationsgesellschaft nachgefragt. Zu den jüngst abgeschlossenen oder zurzeit in Arbeit befindlichen Projekten gehören:

  • Transgenes Saatgut in Entwicklungsländern
  • Gendoping
  • Individualisierte Medizin
  • Energiespeicher – Stand und Perspektiven
  • Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen
  • CO2-Abscheidung und Lagerung bei Kraftwerken
  • Ubiquitäres Computing
  • Internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands am Beispiel der pharmazeutischen Industrie
  • Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung
  • Pharmakologische und technische Interventionen zur Leistungssteige- rung – Perspektiven einer weiter verbreiteten Nutzung in Medizin und Alltag
  • Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und EU-Beihilfepolitik am Beispiel der Nanoelektronik
  • Fortpflanzungsmedizin – Wissenschaftlich-technische Entwicklungen, Herausforderungen und Lösungsansätze
  • Elektronische Petitionen und Modernisierung des Petitionswesens

Die Liste der abgeschlossenen und der laufenden Projekte des TAB kann jederzeit der Homepage entnommen werden.17

3.2 Arbeitsweise

Die Vielfalt der bestehenden Anfragen und Themensetzungen wird bearbeitet, indem zu jedem Thema eine Reihe von Gutachten von wissenschaftlichen Einrichtungen eingeholt wird. Durch diese vernetzte Arbeitsweise kann fall- und themenbezogen die relevante Kompetenz und das Wissen des Wissenschaftssystems für die Entscheidungszwecke des Parlamentes mobilisiert werden. Die zentrale Leistung des TAB ist es, aus (in der Regel wissenschaftlichen) Gutachten verschiedener Provenienz, die sich teils arbeitsteilig und komplementär zueinander verhalten, die aber teils auch zueinander in Widerspruch stehen,18 einen kohärenten Bericht für das Parlament zu erstellen. Dieser soll für die parlamentarische Beratung eine geeignete Aufbereitung der Wissensbasis sein und die politischen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, z. B. in Form mehrerer Handlungsoptionen. Diese Leistung besteht aus

  • der Festlegung der Themen der Gutachten und des gewünschten Qualifikationsprofils der Gutachter im Hinblick auf die vom Parlament gewünschte Technikfolgenabschätzung als Basis für eine entsprechende Ausschreibung oder Bekanntmachung,
  • der Auswahl von Gutachtern aus den eingegangenen Angeboten in Abstimmung mit der Bundestagsverwaltung und dem Parlament (haushälterische und rechtliche Seite),
  • der fachlichen Begleitung der Anfertigung der Gutachten in engem Kontakt mit den Gutachtern durch Gespräche und Workshops,
  • und schließlich vor allem in der Zusammenführung der verschiedenen Gutachten in dem Bericht an das Parlament.

Je nach Projektumfang und Themenbreite werden etwa 5–10 Gutachten vergeben. Wissenschaftliche Gutachten spielen also in der Arbeit des TAB eine wesentliche Rolle. Dabei wird Expertise als Expertise zwar akzeptiert, aber im Bewusstsein des so genannten Expertendilemmas.19 Dieses besteht in der bekannten Problematik, dass Expertengutachten zu unterschiedlichen, teils sich komplett widersprechenden Urteilen kommen können. Die Gutachten/ Gegengutachten-Problematik hat zu ernsthaftem Vertrauensverlust in das Wissenschaftssystem und Expertenwesen geführt, insbesondere weil auf diese Weise der Eindruck entsteht, dass jeder Politiker Experten finden kann, die ein genehmes Gutachten in wissenschaftlichem Stil verfassen. Wissenschaft erscheint als parteilich und vielleicht sogar käuflich statt als objektiv und neutral. Der Hintergrund für dieses Expertendilemma besteht darin, dass in Gutachten immer auch Bewertungen eingehen. Die Gefahr ist kaum zu vermeiden, dass der Experte seine Rollen als neutraler Gutachter und als engagierter Bürger oder Interessenvertreter nicht klar trennt, sondern auch Bewertungen auf der Basis eigener Überzeugungen vornimmt, die durch seine Expertise nicht gedeckt sind.

Die Ergebnisse von TAB-Studien führen teils (allerdings eher selten) zu direkten Bundestagsbeschlüssen, teils finden sie Eingang in parlamentarische Beschlussvorlagen und teils wirken sie sich eher indirekt auf parlamentarische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse aus.20 Über das Parlament hinaus werden die Berichte in der Exekutive (Ministerien), der Wissenschaft selbst und in der Öffentlichkeit rezipiert.

3.3 Wissenschaftliche Unabhängigkeit als Arbeitsprinzip

Die Forderung nach wissenschaftlicher Unabhängigkeit der Technikfolgen-Abschätzung begleitet ihre Geschichte von Anfang an. Bereits in den Anfängen der Institutionalisierungsdiskussion des Office of Technology Assessment (OTA) am US-amerikanischen Kongress war die Sicherstellung wissenschaftlicher Unabhängigkeit ein wichtiges Kriterium für die organisatorische Auslegung: »When legislators established OTA many inside and outside Congress hoped that the new agency would provide the kind of objective advice that is a common mission of new expert organisations. […] OTA was designed to emphasize both the appearence and reality of non-partisan, neutral competence«.21 Es galt auf jeden Fall zu vermeiden, dass das OTA von Teilen des US-Kongresses oder von externen Interessengruppen oder der Wirtschaft instrumentalisiert werden konnte. Verschiedene Aufsichtsorgane und ausgeklügelte Entscheidungsmechanismen sollten vor allem verhindern, dass die jeweilige Mehrheitsfraktion das OTA dominieren könnte.

Unabhängigkeit stellt für bestimmte Institutionalisierungsformen der TA eine unverrückbare institutionelle Randbedingung dar. Wird z. B. eine parlamentarische Einrichtung zur wissenschaftlichen Politikberatung gegründet und mit öffentlichen Mitteln finanziert, so wäre eine nicht durch wissenschaftliche Unabhängigkeit (im Sinne von Unparteilichkeit) charakterisierte Auslegung nahezu undenkbar. Wenn das Institutionalisierungsmodell Überlebenschancen durch Mehrheitswechsel hindurch haben soll, muss die parlamentarische Basis möglichst breit sein und im Idealfall alle Fraktionen umfassen. Die Verpflichtung auf wissenschaftliche Unabhängigkeit ist damit bereits im institutionellen Design parlamentarischer TA-Einrichtungen angelegt.

Dementsprechend gehört wissenschaftliche Unabhängigkeit zum Selbstverständnis des TAB und ist eine der Voraussetzungen seines erfolgreichen Bestehens seit 1990.22 Diese wissenschaftliche Unabhängigkeit konkretisiert sich in der operativen Arbeit des TAB in folgender Weise:23

  • Unvoreingenommenheit: Über die oben genannten Aspekte der Unvoreingenommenheit hinaus gibt es keine apriorischen Bevorzugungen in der Ausrichtung von Themen (z. B. weder im Hinblick auf die Warnung vor technikbedingten Gefahren noch auf die Früherkennung von Chancen durch Technik). Auf der Projektebene besteht jeweils eine prinzipielle Ergebnisoffenheit. Gegebenenfalls existierende Vorab-Einschätzungen stehen im Prozess der Bearbeitung selbst zur Disposition. Die Umfassendheit der Bearbeitung der TA-Themen durch das TAB, wie sie Teil des Auftrags ist, trägt zur Unvoreingenommenheit bei. Durch eine selektive Bearbeitung (z. B. nur der Potenziale, nicht aber der Risiken einer Techniklinie oder umgekehrt, oder durch ausschließliche Bearbeitung von Umweltaspekten und Vernachlässigung von Wirtschaftsaspekten) würden hingegen bereits Wertungen vorgenommen, die dem Prinzip der Unvoreingenommenheit widersprächen.
  • Unabhängigkeit: Das TAB ist gemäß vertraglicher Konstruktion und Finanzierung unabhängig von politischen Parteien, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Interessengruppen und wissenschaftlichen Stakeholdern. Weisungsrechte Externer (z. B. von Parlamentariern oder des Betreibers) gibt es nicht: »Ein fachliches Weisungsrecht Dritter (besonders des Betreibers) und ein Weisungsrechtes des Parlamentes gegenüber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besteht nicht«.24 Dies gilt auch für den besonders wichtigen Bereich der Auswahl der Mitarbeiter(innen): Durch den Betrieb des TAB durch eine externe Forschungseinrichtung solle insbesondere »die Unabhängigkeit des TAB von den personalpolitischen Verfahren der Verwaltung des Deutschen Bundestag und die Verhinderung einer parteipolitischen Einflussnahme auf die Auswahl der Mitarbeiter des TAB«25 erreicht werden.
  • Unparteilichkeit: Das TAB arbeitet für den gesamten Bundestag und ist unparteilich relativ zu den politischen Positionen, Parteien und Fraktionen im Bundestag.26 Es ist nicht primär als Instrument der Opposition ausgelegt27 und wird so auch nicht praktiziert. Durch das Konsensprinzip im Berichterstatterkreis ist gewährleistet, dass – dies ist besonders relevant für die Themenfindung – die Interessen aller Bundestagsfraktionen gewährleistet bleiben.
  • Ausgewogenheit im TAB wird angestrebt hinsichtlich der beauftragten Gutachter und der in Dialogen, Interviews und Anhörungen befragten Wissenschaftler, Experten und Stakeholder. Dabei ist die Heranziehung von ›unabhängiger Expertise‹ von besonderer Bedeutung, also von Experten, die in einem bestimmten Themenfeld kompetent sind, aber dabei nicht gleichzeitig eigene Interessen vertreten. Auch die bereits genannte Umfassendheit der Bearbeitung der TA-Themen fällt zu einem Teil unter das Prinzip der Ausgewogenheit – die selektive Bearbeitung von Teilthemen kann rasch eine Unausgewogenheit der Gesamtarbeit nach sich ziehen.
  • Objektivität der Ergebnisse wird prozedural verstanden und realisiert sich in einer der verwendeten Methodik geschuldeten Inter- und Trans-Subjektivität (schrittweise Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit). Größtmögliche Transparenz (s. u.) dient dem Nachweis dieser Inter- und Trans- Subjektivität. So steht im Vertrag über den Betrieb des TAB: »TA-Prozesse sind transparent, nachvollziehbar und nachprüfbar durchzuführen; Annahmen und Werturteile sowie deren Begründung sind offen zu legen«.28

Der Neutralitätsanspruch im TAB gilt sowohl in Bezug auf jede einzelne TAStudie als auch für die Gesamtinstitution. TA-Aktivitäten des TAB werden grundsätzlich für den gesamten Bundestag durchgeführt, nicht für einzelne Fraktionen. Die TAB-Themen werden zwar in der Regel von Fraktionen des Deutschen Bundestages vorgeschlagen, und dies bleibt auch im Lauf der Bearbeitung des Projektes erkennbar, bis hin zu Pressemitteilungen zum Erscheinen der Studie, wo dann häufig von der betreffenden Fraktion ihre besondere Initiative hervorgehoben wird. Hieraus folgt aber nichts für die Art und Weise der Bearbeitung, sondern diese erfolgt selbstverständlich ebenfalls nach den genannten Kriterien wissenschaftlicher Unabhängigkeit.

3.4 Transparenz als Beleg für Unabhängigkeit

Wissenschaftliche Unabhängigkeit wird zunächst für eine Studie oder Institution beansprucht – deswegen muss sie noch nicht als solche von außen wahrgenommen oder akzeptiert werden. In der Praxis stellt sich daher (gelegentlich) das Problem, wie dem Auftraggeber oder möglichen Kritikern die Realisierung des Unabhängigkeitspostulates in seinen verschiedenen Bedeutungen nachgewiesen werden kann. Dies kann nur dadurch erfolgen, den Argumentationsgang möglichst lückenlos aufzuzeigen und das Zustandekommen und die Geltung der Ergebnisse Schritt für Schritt nachvollziehbar nachzuweisen. 29

Wissenschaftliche Unabhängigkeit in all ihren Bedeutungen (s. o.) wäre dann Schritt für Schritt durch die verschiedenen Stadien des TA-Prozesses hindurch gemäß den für das TAB genannten Kriterien zu überprüfen. Dem Postulat der Transparenz kommt daher eine übergreifende und zentrale Bedeutung zu: »Forderung nach Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit der TA-Prozesse: Annahmen und Werturteile sollen offen gelegt werden«.30 Die Bindung von Ergebnissen der TA an – nicht wertfreie – Vorentscheidungen, die auf dem Weg dorthin unweigerlich getroffen werden müssen, macht dieses Postulat zum Zentrum der Vermittlung des Anspruchs auf wissenschaftliche Unabhängigkeit an den Adressaten und nach außen. Wenn das von der TA bereitgestellte Wissen und die Bewertungen akzeptiert werden sollen, ist zu gewährleisten, dass die Adressaten bzw. die Gesellschaft (z. B. in Form von Verbänden oder Medien) sich jederzeit von der gesamten Begründungskette überzeugen können, die zu den Resultaten hinführt. Vertrauen in Institutionen der TA beruht wesentlich auf der Erfüllung dieser Anforderung.

Das TAB nutzt zur Sicherung der wissenschaftlichen Unabhängigkeit und der Schaffung von Transparenz – neben internen Mechanismen – mehrere Kommunikationskanäle: Kommunikation mit wissenschaftlichen Gutachtern, Kommunikation mit Stakeholdern und Kommunikation mit dem Parlament. Durch intensive Kommunikation mit den Gutachtern, ggf. durch die Vergabe von Parallel- oder Konkurrenzgutachten, durch die Einholung von Kommentargutachten und die Kommunikation mit Stakeholdern soll das Expertenwissen auf seinen ›harten Kern‹ zurückgeführt werden. Bewertungsfragen, die einer demokratischen Meinungsbildung unterliegen müssen, sollen dabei identifiziert werden. Es geht darum, Schwachstellen in den Entwürfen aufzudecken und zu heilen, um möglichst robuste Ergebnisse bereitstellen zu können. Auf der anderen Seite dient die intensive Kommunikation mit Parlamentariern, insbesondere den Berichterstattern, einer Sicherstellung von Ausgewogenheit und Neutralität. Das TAB nutzt Rückmeldungen der Berichterstatter und anderer Politiker, die in der Regel ein extrem gutes Sensorium für Unausgewogenheiten haben. Deren Hinweise auf verborgene Wertungen sorgen gelegentlich für eine Verbesserung der Transparenz durch eine differenziertere Darstellung der Argumentationsketten sowie der Ergebnisse.

Gleichwohl ist auch die Einlösung der Forderung nach Transparenz kaum vollständig möglich. In der Praxis wird es nie gelingen, den TA-Prozess vollständig in Einzelteile aufzulösen und für jedes Teil komplette Transparenz herzustellen. Intuitive Elemente und ›tacit knowledge‹ dürften sich nicht vollständig eliminieren lassen. Es ist nur an das Verfassen des TA-Berichtes zu denken, wo mit jeder Formulierung und jeder konkreten Wortwahl auch eine Wertung vorgenommen wird. So war beispielsweise die Beurteilung, dass das das für Kernfusion benötigte Tritium ein wesentliches Proliferationsrisiko darstelle,31 in der Diskussion mit den Parlamentariern umstritten. Der Grund war die Interpretation, was hier ›wesentlich‹ bedeute. Jenseits solcher Beurteilungsfragen sind sogar Beschreibungen nie nur Beschreibungen, sondern enthalten häufig durch die verwendeten Begriffe und deren Wahrnehmung bestimmte Wertungen (so wird z. B. das Wort ›Atomenergie‹ häufig mit kernenergieskeptischen Haltungen in Verbindung gebracht, während ›Kernenergie‹ eine positivere Haltung dazu signalisiert).

3.4 Zwischen Ideal und Realität

Das genannte Verständnis wissenschaftlicher Unabhängigkeit im TAB stellt ein regulatives Ideal der Arbeit des TAB dar. Es bezeichnet wesentliche Merkmale der TAB-Arbeit, die sich aus der institutionellen Konstruktion und den Selbstverpflichtungen des TAB-Teams im Sinne eines wissenschaftlichen Ethos ergeben. Das Idealbild ist freilich mit einer Realität konfrontiert, die die Erreichung der normativen Idee nicht immer in der gewünschten Weise zulässt. Der Verwirklichung stehen oftmals Aspekte im Weg, die in der praktischen Umsetzung des Prinzips wissenschaftlicher Unabhängigkeit zu beachten sind.

Denn in der Umsetzung des Neutralitätspostulates in der Praxis kann eine Reihe von Problemen auftreten. In einem hochpolitischen Umfeld politisch relevant, aber neutral und wissenschaftlich unabhängig zu sein, grenzt, so mag es scheinen, an ein aussichtsloses Unterfangen. Im Folgenden sei ein mögliches und auch gelegentlich faktisch auftretendes Problem diskutiert: Wie gehen das TAB und seine Adressaten mit Situationen um, in denen die beanspruchte wissenschaftliche Unabhängigkeit und ihre ex post erfolgte Wahrnehmung durch die Adressaten oder durch andere externe Stellen nicht übereinstimmen?

Diese forschungspraktisch relevanten Aspekte bestehen vor allem in der Knappheit der Ressourcen Zeit und Budget. Eine umfassende Realisierung wissenschaftlicher Unabhängigkeit ist schwierig, auch zeitlich und vom Aufwand her: Immer könnten noch Argumente kommen, diese oder jene wissenschaftliche Position noch zu berücksichtigen, weitere Kommentargutachten einzuholen, eine weitere Runde in der Diskussion mit Stakeholdern einzurichten. TA-Projekte müssen aber ein Ende finden, sollen sie nicht ins uferlose führen. Der Beratungsbedarf des Parlamentes besteht nicht nur darin, zu einem bestimmten Thema das gewünschte Wissen zu erhalten, sondern zum Beratungsbedarf gehört auch, dieses Wissen zu einem gewünschten Zeitpunkt zu erhalten, was die zeitliche Ausdehnung von TA-Studien begrenzt.

Die Realisierung des Ideals wissenschaftlicher Unabhängigkeit steht also in einem Spannungsverhältnis zu pragmatischen Gegebenheiten, so dass Relevanzentscheidungen getroffen werden müssen: Welches Maß an Umfassendheit in der Berücksichtigung von wissenschaftlichen Schulen, Disziplinen, gesellschaftlichen Werten, Stakeholder-Beurteilungen etc. ist pragmatisch sinnvoll, um in einer konkreten Situation ein ›hinreichendes‹ Maß an wissenschaftlicher Unabhängigkeit zu realisieren? Was ist hierbei ›hinreichend‹? Relevanzentscheidungen in diesen Hinsichten begründet zu treffen und den Adressaten vermitteln zu können, gehört sicher zu den Kernkompetenzen des TAB-Teams auf der Basis der langjährigen Erfahrung mit der Arbeit am Bundestag.

Die Verpflichtung zur wissenschaftlichen Unabhängigkeit und Transparenz stellt aus diesen Gründen eine ›regulative Idee‹ der TA dar, deren Realisierung nur mehr oder weniger gut gelingen kann und die eine ständige Herausforderung bleibt.

4. Epilog: Leistungen und Grenzen von Politikberatung in wissenschaftlicher Unabhängigkeit

Beratung beansprucht, dem betreffenden Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess etwas hinzuzufügen, was ohne Beratung nicht geschehen wäre. Da Beratung also etwas Eigenständiges hinzufügt, muss sie ein Mindestmaß an Distanz zum Beratenen und zum Entscheidungsprozess bewahren. Beratung darf sich nicht darin erschöpfen, die Voreinstellungen, Meinungen und die vorab gefassten Erwartungen der Auftraggeber zu erfüllen. Nur eine – wenigstens in gewissem Maße – neutrale oder unabhängige Beratungsleistung fügt etwas Neues zu der entsprechenden Situation ohne Beratung hinzu, statt den Adressaten ausschließlich ›nach dem Mund‹ zu reden. Reine Erwartungserfüllung durch Beratung wäre also, paradox gesprochen, gerade eine Erwartungsverfehlung.

Die Forderung nach der Unabhängigkeit (bzw. Ausgewogenheit, Unvoreingenommenheit etc.) wissenschaftlicher Politikberatung setzt an der prinzipiellen Distanz zwischen Berater und Beratenem an und impliziert, diese Distanz in bestimmter Hinsicht möglichst groß zu gestalten und sie institutionell und methodisch abzusichern, um bestimmte Funktionen erbringen zu können. Folgende Funktionen kann eine wissenschaftlich unabhängige TA erbringen:32

  • Optimierung der Wissensbasis: Durch die Zusammenstellung des besten verfügbaren Wissens – dies ist von den betroffenen Disziplinen zu beurteilen – kann eine wissenschaftlich unabhängige TA die bestmögliche Wissensbasis für ›robuste‹ Entscheidungen bereitstellen. Kriterium ist lediglich die Orientierung am Stand der Forschung, nicht jedoch die Passfähigkeit des Wissens vor dem Hintergrund vorgefasster parteilicher Erwartungen.
  • Versachlichung der Debatte: Wissenschaftliche Unabhängigkeit kann dazu beitragen, in den Meinungsbildungen und Entscheidungen in Bezug auf Wissenschaft und Technik die Argumentationsbasis der jeweiligen Positionen zu klären und so zu einer ›rationaleren‹ Auseinandersetzung zu kommen. Wissenschaftlich unabhängige TA setzt in einem gewissen Maße auf den »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«.33
  • Beitrag zur informierten Ausgestaltung von Entscheidungen: Wissenschaftlich unabhängige Politikberatung soll, statt partikularen Interessen wissenschaftlich fundiertes Material zur Beförderung der Interessendurchsetzung zur Verfügung zu stellen, einen Beitrag zur informierten Ausgestaltung von Entscheidungen mit Verpflichtungscharakter für die gesamte Gesellschaft leisten.
  • Beitrag zu ›sozial robusten‹ Entscheidungen: Ausgewogenheit ermöglicht die breite Einbeziehung verschiedener und divergierender gesellschaftlicher Wertepositionen (Erhöhung des ›Werteberücksichtigungspotentials‹ der TA). Die Schaffung von Transparenz im normativen Bereich und die Auslotung von möglicherweise konvergierenden Beurteilungen trägt zu Entscheidungsfindungen bei, die – der Erwartung nach – gegenüber Mehrheitswechseln und kurzfristigen Stimmungsschwankungen robuster sind.
  • Beitrag zu Konfliktvermeidung oder -bewältigung: Unabhängige TA in real oder potentiell konfliktträchtigen Fragen – wie sie in der TA die Regel darstellen – kann Konsenspotentiale ausloten und Alternativen zur Konfliktbewältigung aufzeigen. Sie dient damit auch der Vorbeugung von Eskalationen in Konflikten und der Erforschung und Aufbereitung von einvernehmlichen Lösungen, sowohl im engeren politischen als auch im gesellschaftlichen Bereich.
  • Bereitstellung reflexiven Wissens: Wissenschaftliche Politikberatung soll, gemäß dem Rationalitätsaspekt der Reflexivität34 nicht nur Beratungswissen über den festgelegten Gegenstandsbereich (Technikfolgen, Akzeptanzfragen, Regulierungsbedarf etc.) erbringen, sondern soll auch Metawissen bereitstellen, wie dieses Wissen reflexiv einzuschätzen ist: Wie sicher bzw. wie unsicher ist das Wissen? Wo liegen Risiken? Welche Prämissen liegen zugrunde, etc.? Die Erzeugung eines solchen reflexiven Wissens bedarf ebenfalls einer Distanz zwischen Berater und Beratenem, weil sie sich nicht nur auf die Geltungsbedingungen des Wissens, sondern auch auf die Wertepositionen der Auftraggeber erstreckt. Unabhängige TA kennt hierbei keine Bevorzugungen oder Tabus, wie sie in parteilicher Politikberatung zumindest naheliegen, wenn nicht unvermeidbar sind.

Angesichts der Tatsache, dass das politische System auf Konfrontation angelegt ist, dass politische Positionen und Parteien sich häufig nicht entlang von Sachargumentationen ihre Meinungen bilden, sondern in Abgrenzung vom jeweils Anderen, erscheint es in gewisser Weise erstaunlich, dass das Modell neutraler Politikberatung des Bundestages durch das TAB erfolgreich institutionell verankert werden konnte und weiterhin funktioniert. Neutralität der Beratung und die Konfrontation als Wesensmerkmal des Politischen scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Die Erfolgsbilanz ist vor diesem Hintergrund einzuschränken. Denn das Modell neutraler wissenschaftlicher Politikberatung ist bestimmten Restriktionen ausgesetzt – mögliche ›Kosten‹ der Neutralitätsforderung verbergen sich hinter Befürchtungen hinsichtlich:

  • Wirkungslosigkeit: Zukunftsentscheidungen über Wissenschaft und Technik sind gerade dadurch von politischem und auch öffentlichem Interesse, dass sich in ihnen teils weit reichende ethisch und politisch relevante Konflikte zeigen. Unabhängige Politikberatung, so die Befürchtung, könne wirkungslos verpuffen und ›zahnlos‹ werden. In einem Spannungsfeld, das von Konfrontation lebt, sei Unabhängigkeit entweder nicht möglich oder für die beabsichtigte Wirkung tödlich.
  • Inhaltsleere: Unabhängigkeit und Ausgewogenheit führten dazu, dass nur Minimalkonsense oder pures ›mainstream‹-Denken als Ergebnis von TA herauskommen könnten. Dann wäre TA in Gefahr, nur irrelevante Langeweile zu produzieren, woran weder politische Akteure noch die Medien oder die allgemeine Öffentlichkeit interessiert wären.
  • Einschränkungen in den bearbeitbaren Themen: Die Forderung nach Neutralität bringt es mit sich, dass bestimmte Themen gar nicht mehr als TAThemen in Frage kommen. Themen, in denen die gesellschaftlichen Positionen so verhärtet sind, dass sich niemand mehr vorstellen kann, was denn noch als ›unabhängig‹ gelten könne (z. B. Bewertungen der Kernenergie), können nur unter Einschränkungen Gegenstand neutraler Politikberatung sein.

Mit Befürchtungen dieser Art ist eine ernsthafte Auseinandersetzung erforderlich. Die letztgenannte trifft wohl weitgehend zu. So hat das TAB kaum Themen eines bestimmten Konfliktgehaltes aufgetragen bekommen. Aber dies erscheint nicht dramatisch. Verhärtung der Fronten und Fundamentalisierung der Positionen haben sowieso eine weitgehende Beratungsresistenz zur Folge. Es wäre wohl unrealistisch anzunehmen, dass das TAB diese durchbrechen könnte, wenn es denn damit beauftragt würde.

Die Befürchtung der Langeweile erscheint nur im Hinblick auf die Massenmedien als wenigstens teilweise berechtigt. Das TAB ist in den Massenmedien wenig präsent – aber dies stellt auch nicht seine Hauptaufgabe dar. Was den Beitrag zum öffentlichen Diskurs betrifft, so werden zurzeit Anstrengungen unternommen, die Wirkung des TAB in der Öffentlichkeit zu verbessern, mit – trotz oder wegen der Ausgewogenheit – erkennbaren Erfolgschancen.

Der Vorwurf der Wirkungslosigkeit wäre fatal, könnte er plausibel gemacht werden. Angesichts vieler Erfolgsgeschichten in der wissenschaftlichen Politikberatung durch das TAB auf ganz verschiedenen Ebenen und auf verschiedenen Wegen und entsprechender Anerkennung beim Adressaten (Ausschuss 2002) kann davon aber wohl nicht gesprochen werden. Eine Erklärung zu liefern, warum das TAB mit dem Neutralitätsanspruch in einer durch Konfrontation geprägten Umgebung hierin Erfolg hat, sei der weiteren Forschung überlassen.

  1. 1Der vorliegende Beitrag basiert auf folgenden Publikationen des Autors und entwickelt sie weiter: Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung – eine Einführung, Berlin 2002; ders., »Technology Assessment at the German Bundestag: expertising democracy for democratising expertise«, in Science and Public Policy 30, 2003, S. 193–198; Thomas Petermann und Armin Grunwald, Hg., Technikfolgen-Abschätzung am Deutschen Bundestag, Berlin 2005; Armin Grunwald, »Scientific Independence as a constitutive part of parliamentary technology assessment«, in Science and Public Policy 33.2, 2006, S. 103–113; ders., Technik und Politikberatung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt 2008.
  2. 2Vgl. auch Thomas Petermann, Hg., Technikfolgen-Abschätzung als Technikforschung und Politikberatung, Frankfurt/M. 1991.
  3. 3Herbert Paschen und Thomas Petermann, »Technikfolgenabschätzung – ein strategisches Rahmenkonzept für die Analyse und Bewertung von Technikfolgen«, in Petermann, Hg., Technikfolgen-Abschätzung als Technikforschung und Politikberatung (s. Fn. 2), S. 19–42., hier S. 26.
  4. 4Alfons Bora u. a., Hg., Technik in einer fragilen Welt. Herausforderungen an die Technikfolgenabschätzung, Berlin 2005.
  5. 5Vgl. Armin Grunwald und Carsten Orwat, »Informations- und Kommunikationstechnologien und Nachhaltige Entwicklung«, in Stephan Mappus, Hg., Erde 2.0 – Technologische Innovationen als Chance für eine Nachhaltige Entwicklung?, Berlin/Heidelberg 2005, S. 242–273.
  6. 6Z. B. Bora u. a., Technik in einer fragilen Welt (s. Fn. 4).
  7. 7Rene von Schomberg, »The Precautionary Principle and its normative challenges«, in Edwin Fisher, Hg., The precautionary principle and public policy decision making, Cheltenham, UK / Northampton, MA 2005, S. 161–165.
  8. 8Vgl. Grunwald, Technikfolgenabschätzung – eine Einführung (s. Fn. 1), Kap. 7.
  9. 9Michael Decker und Miltos Ladikas, Hg., Bridges between Science, Society and Policy. Technology Assessment – Methods and Impacts, Berlin 2004.
  10. 10Grunwald, Technikfolgenabschätzung – eine Einführung (s. Fn. 1).
  11. 11Z. B. Klaus Grimmer u. a., Hg., Politische Techniksteuerung, Opladen 1992.
  12. 12Nach Armin Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Technikgestaltung, Frankfurt 2000, Kap. 3.3.1.
  13. 13Renate Martinsen, »Theorien politischer Steuerung – auf der Suche nach dem Dritten Weg«, in Grimmer u. a., Hg., Politische Techniksteuerung (s. Fn. 11), S. 51–75, hier S. 56.
  14. 14Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen (s. Fn. 12), Kap. 3.
  15. 15Norman Vig und Herbert Paschen, Hg., Parliaments and Technology Assessment. The Development of Technology Assessment in Europe, Albany: State University of New York Press 2000.
  16. 16Vgl. www.eptanetwork.org.
  17. 17www.tab.fzk.de.
  18. 18Heinz-Ulrich Nennen und Detlef Garbe, Das Expertendilemma: zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung, Heidelberg 1996.
  19. 19Ebd.; Gotthard Bechmann und Imre Hronszky, Hg., Expertise and Its Interfaces, Berlin 2003.
  20. 20Vgl. zu den Auswirkungen des TAB auf die parlamentarische Arbeit: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Technikfolgenabschätzung (TA). Beratungskapazität Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag – ein Erfahrungsbericht, Bundestags-Drucksache 14/9919, Berlin 2002.
  21. 21Bruce Bimber, The politics of expertise in Congress: the rise and fall of the Office of Technology Assessment, New York 1996, S. 50.
  22. 22Ausschuss (s. Fn. 20).
  23. 23Nach Grunwald, »Scientific Independence « (s. Fn. 1).
  24. 24Ausschuss (s. Fn. 20), S. 7.
  25. 25Ebd., S. 6.
  26. 26Es ist sehr lehrreich, die Strategien des OTA zur Sicherstellung der parteipolitischen Neutralität zu verfolgen, die über längere Zeit hin die notwendige Bedingung des Erfolgs in seiner Blütezeit war (Bimber, The politics of expertise in Congress (s. Fn. 21), S. 50–68).
  27. 27Ausschuss (s. Fn. 20), S. 30.
  28. 28Vgl. auch ebd., S. 6.
  29. 29Weyma Lübbe, »Expertendilemmata – ein wissenschaftsethisches Problem?«, inGAIA 6/3 1997, S. 177–181.
  30. 30Paschen und Petermann, »Technikfolgenabschätzung« (s. Fn. 3), S. 30; vgl. auch Ausschuss (s. Fn. 20), S. 6.
  31. 31Reinhard Grünwald u. a., Kernfusion Sachstandsbericht. TAB-Arbeitsbericht 75, Berlin 2002.
  32. 32Nach Grunwald, »Scientific Independence« (s. Fn. 1).
  33. 33Jürgen Habermas, »Wahrheitstheorien«, in H. Fahrenbach, Hg., Wirklichkeit und Reflexion. Walther Schulz zum sechzigsten Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 211–265.
  34. 34Grunwald, Technik für die Gesellschaft von morgen (s. Fn. 12), S. 198.
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Heft 2 (2009)
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