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Zeit für Karriere?


»Man sollte nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat.« Was bedeutet diese Mahnung, die dem Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg zugeschrieben wird, für den Wissenschaftsbetrieb? Dass erfolgreiche Forschung mit Nachdenken zu tun hat, versteht sich von selbst. Erfolgreiche Forschung mündet in Erkenntnisgewinn und Wissenserweiterung, sie kann zur Lösung drängender gesellschaftlicher Herausforderungen wie Bevölkerungswachstum, Ressourcenverknappung oder Klimaveränderung wie auch zur prosperierenden Wirtschaft eines Landes entscheidend beitragen. Beispielsweise sind bahnbrechende Technologien wie Internet, GPS, Touchscreen-Displays oder Sprachassistenten durch staatlich finanzierte Forschung entstanden.1 Einen wesentlichen Anteil an der Forschung haben Doktoranden, das wissenschaftliche Personal in Universitäten und Forschungseinrichtungen, Nachwuchsgruppenleiter und Juniorprofessoren, zusammen etwa 382.000 Personen.2 Haben wir Nachwuchswissenschaftler noch genug Zeit zum Nachdenken, also zum qualitativ hochwertigen Bearbeiten wissenschaftlicher Fragestellungen? Im Folgenden werden Gedanken und Erfahrungen dazu aus Sicht eines Nachwuchswissenschaftlers, der gleichzeitig Vater zweier Kinder ist, dargelegt. Diese Bestandsaufnahme basiert auf 15-jähriger intensiver wissenschaftlicher Arbeit und 16 befristeten Arbeitsverträgen.


Was eigentlich ist mit ›Karriere‹ in der Wissenschaft gemeint? Das Erreichen einer Professorenstelle oder einer Stelle als Direktor in einer renommierten Forschungs- bzw. Wissenschaftseinrichtung? Eine unbefristete Stelle oder die leistungsgerechte Entlohnung? Wahrscheinlich ist es die ›Karriere‹3 im eigentlichen Wortsinne, also das irgendwie geartete ›Fortkommen‹ bzw. ›Vorwärtskommen‹, das nicht selten als das ›Fahren‹ auf einer imaginären Rennbahn empfunden wird. Aber was bedeutet ›Vorwärtskommen‹? Aus physikalischer Sicht wohl die Veränderung des Orts eines Objekts durch eine wirkende Kraft. Wirkt die Kraft entlang eines Wegs, so kann für das Überwinden dieses Wegs eine aufgebrachte Energie für das Objekt berechnet werden. Diese Energie muss also bereitstehen, um den Weg zu überwinden. Man könnte hier auch von einer ›Barriere‹ sprechen, die je nach Steilheit des Wegs, je nach dessen Länge, je nach auftretenden Reibungsverlusten oder je nach zu überwindenden zusätzlichen Hindernissen höher oder niedriger sein kann. Das Vorwärtskommen ist also charakterisiert durch Anfangs- und Endzustand (Wo starte ich und wohin möchte ich?), die Strecke des Wegs (Wie kann ich mein Ziel erreichen und welche Hürden sind zu nehmen?), die benötigte Zeit (Wie lange verweile ich, welche Kompromisse mache ich?) und die wirkenden Kräfte (In welchem Spannungsfeld, mit welcher Motivation bewege ich mich?). Aus all diesen Komponenten resultiert die erforderliche Energie. Der Energieaspekt ist damit der entscheidende: Welche Ressourcen stehen mir zur Verfügung? Bin ich bereit, die benötigte Zeit und Kraft zu investieren? Woher kommt meine Motivation? Wie muss ich berufliche und persönliche Prioritäten setzen? Habe ich eine Aussicht auf Erfolg? Alle diese Fragen tauchen irgendwann auf und müssen beantwortet werden.


Aus Sicht des Wissenschaftlers kann das ›Vorwärtskommen‹ viele Facetten haben, wobei sich die Ziele oft gleichen: Promotion, Habilitation, Juniorprofessur, ordentliche Professur. Neben den notwendigen persönlichen Leistungen sind es leider allzu oft weitere Faktoren, die für den eigenen Karriereerfolg bestimmend sein können, z. B. ein ›mächtiger‹ Doktorvater, also ein Professor und Förderer mit einem großen und weitverzweigten Netzwerk. Wie sieht, davon abgesehen, jedoch der persönliche Weg des Nachwuchswissenschaftlers aus, welche Bedingungen müssen erfüllt sein und werden?


Zunächst gehören zu den erforderlichen Voraussetzungen ein erfolgreich absolviertes Studium und eine möglichst gut dotierte (mehr als 50 %) Doktorandenstelle. Damit beginnt das offizielle Forscherleben des Nachwuchswissenschaftlers, also das Erschließen kausaler Zusammenhänge und Gesetz­mäßigkeiten sowie die systematische Bearbeitung von Problemstellungen. 


Die Erkenntnisse, die im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeiten entstehen, sollten umgehend veröffentlicht werden. Und es sollten möglichst viele Veröffentlichungen sein. Am Ende einer dreijährigen Promotionsphase müssen, je nach Fachgebiet, notwendigerweise etwa drei Publikationen vorliegen. Die Anfertigung einer Publikation entspricht im eigenen Beispiel einem Zeitumfang – ohne Vorbereitung und Durchführung von Experimenten – von etwa zwei Monaten ununterbrochener Arbeit für Ergebnisaufbereitung, Recherche, Formulierung eines entsprechenden Texts, Abgleich mit den Koautoren und dem Einreichungsprozess in einem Fachjournal sowie anschließender Überarbeitung. Am besten sollte die Publikation natürlich nicht irgendwo, sondern möglichst in Zeitschriften mit hohem ›Impact Factor‹ platziert werden. Dazu muss der Erstautor aber das Talent besitzen, seine wissenschaftlichen Ergebnisse in Form eines bahnbrechenden Erkenntnisgewinns darzustellen. Versucht man, auf Basis der Erkenntnisse weitere Implikationen zu untersuchen, möglichst in einem größeren Zusammenhang, was beispielsweise ein anderer Forschungsgegenstand, ein anderes Experiment, ein Bauteil oder ein Demonstrator sein kann, so verliert man einerseits Zeit und andererseits auch das Interesse der Zeitschriften. Solche wissenschaftlich weiterführenden Arbeiten benötigen dann auch mehr Energie (Arbeitsstunden und finanzielle Mittel). Denn sowohl für neue Geräte und deren Betrieb, als auch für die Entlohnung des Wissenschaftlers sind finanzielle Mittel notwendig. 


Damit wären wir bei der zweiten notwendigen Bedingung und einem weiteren wichtigen Teil im Leben eines noch jungen Wissenschaftlers, vorausgesetzt er arbeitet nicht in einer bereits exzellent im Wissenschaftsalltag implementierten Arbeitsgruppe: das Einwerben von sogenannten Drittmitteln bzw. Forschungsgeldern – später eine der wichtigsten Aufgaben im Wissenschaftsalltag. Um erfolgreich Mittel einwerben zu können, sollte man möglichst bereits über Publikationen im jeweiligen Themengebiet verfügen. Der Zeitumfang für die Ausarbeitung eines entsprechenden Forschungsantrags ist vergleichbar mit dem Verfassen einer Publikation (1–2 Monate), wobei auch der Professionalisierungsgrad solcher Anträge wächst und damit auch der beanspruchte Zeit- und Geldumfang.


Es stellt sich also für den jungen Wissenschaftler die Frage: Publikation oder Forschungsantrag? Letzterer könnte im Erfolgsfall immerhin 2–3 weitere Jahre Finanzierung bedeuten. Gelingt es aber nicht, die Gutachter zu überzeugen, so bleibt von den eingesetzten Ressourcen, insbesondere der Zeit, nichts Abrechenbares zurück. Im Lebenslauf des Nachwuchswissenschaftlers kann dann weder der Hinweis auf erfolgreich eingeworbene Mittel noch auf eine weitere Publikation vermerkt werden. Bei Bewilligungsquoten von zum Teil deutlich unter 20 % in Deutschland, auf europäischer Skala sogar deutlich unter 10 %, ist der letztere Fall wohl der wahrscheinlichere. Betrachtet man diese Bewilligungsquoten, so folgt daraus, dass ein junger Wissenschaftler fünf bis zehn etwa 20-seitige Anträge verfassen müsste, bevor einer davon erfolgreich ist. Das entspräche insgesamt 10–20 Monaten, also etwa 1–2 Jahren Arbeitszeit. Wer bezahlt eigentlich all die investierte Zeit, die zu keinem Erfolg führt (denn sowohl experimentelle als auch theoretische Arbeiten lassen sich in dieser Zeit kaum durchführen)? Und von welcher Qualität können die wenigen zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Ausarbeitungen dann eigentlich sein? 


Es sei hier vorweggenommen, dass der junge Wissenschaftler trotz seiner 50 %- oder gar 75 %-Stelle für gewöhnlich nicht in einer 40-Stundenwoche lebt, sondern eher 50–60 Stunden in die wissenschaftliche Arbeit investiert, wobei der Urlaub für das Lesen weiterer schriftlicher Ausarbeitungen von Kollegen und Studenten verwendet wird. Der Autor hat in jungen Jahren selbst am Arbeitsplatz übernachtet oder zumindest sowohl Mittag- als auch Abendessen am Arbeitsplatz eingenommen bzw. das Wochenende verwendet, um wissenschaftliche Experimente und deren Auswertungen durchzuführen sowie Vorträge vorzubereiten. Kollegen mit Schlafsack und Zahnbürste am Arbeitsplatz waren keine Seltenheit. Mit derartigen Zusatzstunden steigt zumindest die wissenschaftliche Qualität der Arbeiten wieder an. Aber wie wirkt sich das auf den persönlichen Lebensentwurf aus? Eine reibungslose Familiengründung ist unter solchen Umständen kaum möglich.


Einen dritte wichtige Bedingung ist das Vorstellen der Arbeiten auf mindestens einer nationalen und einer internationalen Konferenz pro Jahr, was einschließlich Vor- und Nachbereitung etwa dem Zeitraum von einem Monat entspricht. In den Universitäten kommt auf Doktoranden bzw. Postdocs dann noch die Lehr- und Betreuungstätigkeit hinzu. Weiterhin besteht der Arbeitsalltag aus der Beteiligung an Gremienarbeit, der Organisation von Workshops, von Konferenzen und dem Verfassen diverser Beiträge außerhalb von Fachjournalen, z. B. in Büchern oder in Projektzwischen- und -abschlussberichten. Später, in der sogenannten Postdoc-Phase, kommen dann die Begutachtung von Publikationen oder Forschungsanträgen anderer Autoren und Wissenschaftler hinzu. Und was ist, wenn das Gerät, das Experiment wieder einmal nicht funktioniert? Oder man gern noch ein Patent verfassen würde? Wann ist in diesem dichten Geflecht Zeit für den mehrmonatigen Auslandsaufenthalt an einer anderen Forschungseinrichtung, der für den Lebenslauf ­eines Wissenschaftlers doch eigentlich unabdingbar ist? Nicht zuletzt wird auch die Öffentlichkeitsarbeit immer wichtiger: Broschüren, Animationen, Filme, Messe­teilnahmen, Tage der offenen Tür, Fernseh- und Radiobeiträge – alles weitere Projekte, die gewissermaßen nebenbei erledigt werden müssen … 


Eines steht fest, Zeit für Familienleben bleibt in diesem Lebensmodell ­eigentlich nicht. Familienalltag bedeutet dann beispielsweise ein oder zwei Kinder früh in den Kindergarten zu bringen und pünktlich zur Schließzeit abzuholen, nebenbei für das Abendessen einzukaufen, dieses vorzubereiten und den Nachwuchs dann hoffentlich zu 20 Uhr im Bett zu wissen, um hernach noch, zum Unwillen des Partners, den nächsten Projektantrag oder die Publikation fertigzustellen, die Lehre vorzubereiten oder noch ein paar E-Mails zu verfassen, deren Bearbeitung mehr Zeit in Anspruch nimmt als am Arbeitsplatz verfügbar. Ein Blick auf die Uhr endet dann meist mit der Einsicht, dass man weit nach Mitternacht nun doch noch möglichst den fünfstündigen Schlaf antreten sollte.


Versucht man, die in einem Jahr für den Nachwuchswissenschaftler verfügbare Zeit einmal aufzuteilen, so ergibt sich, unter Annahme von 220 Arbeitstagen à 8 Stunden, der Urlaubszeit, Feiertagen, möglicher Krankentage, die in Abb. 1 gezeigte Auflistung. Auffällig ist der dunkel gefärbte Bereich. Demnach stehen einem Nachwuchswissenschaftler bei optimistischer Planung zwei Monate für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit zur Gewinnung neuer Erkenntnisse zur Verfügung. Setzt man an, dass der eingereichte Forschungsantrag abgelehnt wurde, so müssten die verfügbaren zwei Monate auch noch geopfert und für einen weiteren Antrag investiert werden. Resümiert man solch ein Jahr, dann verbleibt nahezu keine Zeit für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Keine Zeit zum Nachdenken.


Abb. 1: Visualisierung eines Arbeitsjahres (220 Tage à 8 Stunden). Hierbei ist das Jahr in 12 Blöcke (Monate) aufgeteilt. Die Anordnung der verschiedenen Tätigkeiten erfolgt nach der Wichtigkeit für die persönliche Karriere. Je dunkler die dargestellte Farbe ist, umso bedeutender ist die Tätigkeit für die Wissenschaft. Quelle: Autor.
 Abb. 1: Visualisierung eines Arbeitsjahres (220 Tage à 8 Stunden). Hierbei ist das Jahr in 12 Blöcke (Monate) aufgeteilt. Die Anordnung der verschiedenen Tätigkeiten erfolgt nach der Wichtigkeit für die persönliche Karriere. Je dunkler die dargestellte Farbe ist, umso bedeutender ist die Tätigkeit für die Wissenschaft. Quelle: Autor.


Dieses Stakkato an geschilderten Aktivitäten zeigt Folgendes: Der Karriereweg des Nachwuchswissenschaftlers ist und bleibt ein Wettbewerb. Eine Verdopplung der Anzahl an Publikationen alle 15 Jahre bei gleichbleibender Lesegeschwindigkeit4 (ca. 30 min pro Artikel) verdeutlicht die mittlerweile nahezu absurde Relation von Energieaufwand und wissenschaftlichen Arbeits- und Erfolgsmöglichkeiten. Wir müssen wieder nachdenken dürfen! Und wir müssen ändern. Möglicherweise sollten andere Bewertungsmaßstäbe angesetzt werden. Solche, die aufzeigen, wie verlässlich, vertrauenswürdig, organisa­tionsfähig und teamfähig ein Mensch ist, um sich auch den Ansprüchen heutiger Mitarbeiter anpassen und in den Kollegenkreis ggf. einpassen zu können. Auch sollte eine weitere Individualisierung und Flexibilisierung hinsichtlich Gehalt und Arbeitszeit ausgebaut werden. In diesem Sinne hoffe ich zukünftig auf ausgewogenere Karrierechancen für junge Wissenschaftler und vor allem auf mehr Zeit für die eigentliche Wissenschaft. 


  1. 1Mariana Mazzucato, »Der Mythos vom Staat, der nur stört«, in Capital 08 (2014), S. 46–49.

  2. 2Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (Hg.), Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017, Bielefeld 2017. 

  3. 3›Karriere‹ geht auf das französische Wort ›carrière‹ also ›Lebenslauf, Laufbahn, Rennbahn‹ zurück, welches selbst aus dem italienischen ›carriera‹, also ›Fahrstraße‹, entlehnt wurde. Letzteres wiederum ist gleichbedeutend mit dem mittellateinischen ›carraria‹ bzw. dem daraus abgeleiteten ›carrus‹, also ›Karre‹. Vgl. Duden, Suchbegriff »Karriere«, www.duden.de (9.7.2018).

  4. 4Valentin Groebner, »Im Meer des Leidens«, in Süddeutsche Zeitung, 29.2.2016, S. 12.
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Heft 20 (2018)
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