Enzyklopädie und Lemmata – Über Bauformen historischer Erzählung
I.
Es gibt kaum eine strenger geordnete Welt als die der Enzyklopädie. Dafür sorgt das Alphabet und wir halten uns auf unserer Suche nach Wissen an diese gleichsam unerschütterliche Ordnung. Doch in Wahrheit ist der Griff zur Enzyklopädie, zum Lexikon, zum Nachschlagewerk ein Schritt über die Schwelle der geordneten Welt. Es tut sich ein Raum auf, der Wege in die verschiedensten Richtungen eröffnet, vor allem ganz unerwartete. Denn wer mit der Fülle des Wissens konfrontiert wird, merkt sogleich, wie unendlich beschränkt das eigene Wissen ist. Die Welt des Wissens: ein Universum, ein Kosmos, je weiter man sich vorantastet. Jeder Eintrag führt zu einem weiteren, jeder angesteuerte Anhaltspunkt erweist sich nur als Transitstation, man bewegt sich in einem Bezugssystem, das keine Grenzen kennt. Man lässt sich hineinziehen und treiben und man lässt sich leicht von der Richtung, die die anfängliche Fragestellung vorgegeben hatte, abbringen, man gerät auf Nebenwege und Abwege und stößt ganz unvermutet auf Dinge, die man in dem vorgegebenen Fragerahmen nicht vorgesehen hatte. Die Enzyklopädie, die Architektur der hierarchisch geordneten Wissensbestände, erweist sich als Eingangstor in einen Bereich, der einen aus dem Tritt bringt, der einen auf Ab- und Umwege führt – d. h. meist in Neuland.
Das Gefühl der Ohnmacht angesichts des schier grenzenlosen und doch wohl geordneten Wissens der Welt kennen sicher einige, ein Gefühl, das noch gesteigert wird, seit wir uns durch den Internet-Kosmos des World Wide Web treiben lassen können. Es ist wie in der Freihandaufstellung in der Bibliothek, in der wir Gewissheit und Sicherheit suchen, vor deren unendlichen Regalen uns dann aber zuerst zu die schockierende Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen Wissens überfällt.
Aber in Konkurrenz zu dieser Erfahrung steht die andere: die Chance, dem Unerwarteten zu begegnen – das kann ein Autor, vor allem aber ein Kontext, eine Beziehung, ein Verweisungszusammenhang sein. Sobald man auf einen solchen unerwarteten Zusammenhang stößt, schlägt das Herz schneller, es stellt sich eine Art nervöser Spannung ein, man glaubt, bei etwas ganz Wichtigem dabei zu sein, bei der Entdeckung eines Zusammenhangs, den es in der geordnet-abgezirkelten Welt der separierten Fachdisziplinen – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht gibt. Es durchströmt einen das Glücksgefühl, bei einer Entdeckung dabei zu sein, bei der einem plötzlich ein neues Licht aufgeht.
Die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur1 (EJGK) als »kanonisches Vorhaben postkanonischen Charakters« ist in besonderer Weise zugleich Nachschlagewerk im beschriebenen Sinne und Kosmos jüdischer Existenzerfahrung. Die EJGK schreibt das kanonische, obligatorische Wissen um Texte, Rechtsordnungen fort, enthält selbstverständlich faktographische Einträge; was sie jedoch unterscheidet und auszeichnet, gleichsam auf eine Verschiebung des Koordinatensystems hinausläuft, ist etwas anderes: die Arbeit an der Herauspräparierung und Kristallisierung von »ikonischen Denkfiguren«, »Denkfiguren emblematischen Charakters.«
Der ganze Reichtum der EJGK erschließt sich mit dem Registerband. Der Orts-, Personen- und Sachindex ist der Schlüssel oder das Navigations instrument, um sich im Universum der enzyklopädisch erfassten jüdischen Geschichte und Kultur zurechtzufinden. Die Auswahl der Lemmata, gleichsam die Aufstellung des Teleskops, die Wahl des Aussichtspunktes, die Entscheidung über das, was »relevant« ist, bildet das Fundament des gesamten Unternehmens. Es geht dabei um nichts Geringeres, als um die Frage, wie sich die erforschte Geschichte angemessen darstellen lässt. Der Hauptertrag der EKGK ist dabei, dass sie sich löst von der Meistererzählung, dem Narrativ einer retrospektiven Teleologie und stattdessen der Eigenkraft und Eigensinnigkeit, dem »Leben der Dinge« folgt. Die Absicht ist nicht, einem »anything goes« zu huldigen, einen Zusammenhang zu zerschlagen, den die Geschichte selbst schon zerschlagen hat, sondern die Dinge »auszustellen«, darauf vertrauend, dass diese sich wie von selbst zu einem Ganzen fügen werden.
II.
Die Arbeit der Lemmatisierung, der Fixierung der Stichworte folgt in gewissem Sinne den Anteilen, Fragmenten und Partikeln, in denen sich die Zugehörigkeit zu den diversen Judenheiten manifestiert. Dies entspricht der Form nach dem für Enzyklopädien ohnehin gültigen kaleidoskopischen Prinzip der ein vorausgesetztes Ganzes auflösenden alphabetischen Ordnung, wobei das leitmotivische Element der Auflösung sich auch in der Gestaltung der Lemmata selbst wiederfindet. Damit stellt sich die Frage, ob das Lemma nicht selbst ein Element geschichtlicher Narration ist, also weit mehr als nur ein Hilfsmittel zur Organisation von Wissen, sondern abgeleitet und begründet eine wesentliche Form geschichtlicher Erzählung ist oder sein kann.
Lemmata werden eigentlich nicht mit Erzählformen in Verbindung gebracht, sondern gelten eher als Anti-Narrativ, als Schema, als alphabetische Ordnung, die den Fluss eher unterbricht, stört, ein Feind der Erzählung. Aber womöglich ist die Lemmatisierung selbst eine Form von Erzählung. Die Enzyklopädie stellt nicht nur einen reichen Fundus an Informationen zur Verfügung, sondern sie stellt ein Spektrum von Erfahrungsweisen und Genres zur Verfügung und schafft damit einen Raum historischer Imagination von großer Tiefe oder Dichte.
Die EJGK verkörpert in ihrer kaleidoskopisch-offenen Form die Anstrengung, die Welt als Ganze in den Blick zu nehmen. Sie hält fest an einer Idee der Totalität, der histoire totale, in der die Erfahrungswelten der Schriftgelehrten neben denen der Diamantenschleifer von Antwerpen zu stehen kommen oder die sweat shops im East Village neben den jüdischen Pionieren Hollywoods. In ihr haben individuelle Perspektiven und Leistungen ebenso ihren Platz wie kollektive Stereotype, die Ereignisse ebenso wie die longue durée, sie bringt die Mikrowelten zusammen mit der großen Welt. Das Kaleidoskop steht für die Totalität und für das Fragmentarische, ohne aus dem Fragmentarischen einen neuen Kult zu machen. Lemmata sind wie Zeitkapseln, haben etwas Anekdotisches. Aber sie fügen sich auch zu einem fast epischen Zusammenhang. Lemmata korrespondieren untereinander und entwickeln eine subversive Kraft, die die eingespielten disziplinären Grenzen sprengt und zur Herausbildung einer veränderten Horizontbildung führt, die dem Gegenstand angemessen ist. Die emblematischen Figuren – Lemmata – bringen zusammen, was zusammengehört. Sie stehen auch für die Überzeugung, dass Zusammenhänge und Kontexte rekonstruierbar und darstellbar sind. Die Einträge stehen in ihrer Gesamtheit für »die« Geschichte und Kultur, aber eine, die sich aus vielen Geschichten und Kulturen oder Zugehörigkeiten zusammensetzt.
Die EJGK hält sich nicht an die zeitliche Ordnung, an die Chronologie, aber auch nicht an ein simples räumliches mapping, sondern bietet den Rahmen, um an jedem Punkt Zeit und Raum zusammenzuführen. In den Querverweisen und intertextuellen Bezügen stellt sie Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit, Simultaneität und Kopräsenz her. Geschichte verläuft ja nicht nur in der Zeit, linear, sukzessiv, im Nacheinander, sondern auch im Nebeneinander, im Raum, verdichtet an Orten. Der Gang in den von der Enzyklopädie gebauten und eröffneten Raum ist auch deshalb so reich und furchterregend, weil er keinen Schluss, keine Fabel, keine »Lehre« anbietet oder aufdrängt, sondern es dem Benutzer, der sich auf sie eingelassen hat, überlässt, die Fragmente zusammenzusetzen und zu einem Schluss zu kommen. So wie die Lemmata die Punkte sind, an denen die Sonden angesetzt werden, so führen die Erträge dieser Sondierungen, dieser Freilegung der Palimpseste zu einer Neuvermessung von Kontexten, geschichtlichen Schichten, führen im Ergebnis dazu, dass sich »etwas neu fügt«.
Eigentlich bietet sich für die in den emblematischen Einträgen geleistete Zusammenführung von raum-zeitlicher Erfahrung der Bachtinsche Begriff des Chrontopos an. Die innere Ordnung, die sich so ergibt, und die sich hinter dem »säkularen Egalitarismus« des Alphabets verbirgt, ist daher nicht gut oder schlecht, sondern »ergibt sich«, ist zwingend und notwendig. Darstellungsfragen sind letztendlich epistemologische Fragen.
Schon jetzt ist klar – das zeigt die Aufnahme der EJGK in der Fachwelt, die Digitalisierung und die rasche Übersetzung ins Englische – dass sich die intellektuelle und auch materielle Investition gelohnt hat, und dass es der Sächsischen Akademie gelungen ist, einen »Leuchtturm«, wie man heute im Wissenschaftsbetrieb sagt, zu errichten. Ich gratuliere dem Initiator, Spiritus Rector und Herausgeber Professor Diner, dem Team der Redakteure und Lektoren und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig zum Abschluss dieses großartigen Werkes. Enzyklopädien sind Lebenswerke, und das meint nicht bloß Verausgabung von Kraft, Anstrengung und Disziplin, sondern leidenschaftliche Hingabe an eine Sache bis zu dem Punkt, wo sie die ihr angemessene und gültige Form gefunden hat. Ich finde, dass dies mit der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur gelungen ist. Ich bin überzeugt, dass die Formulierung eines »nachkanonischen Kanons« jüdischer Geschichte und Kultur und der darin entwickelte theoretische und methodische Zugang nicht nur auf die jüdischen Studien, sondern auch auf die Geschichts- und Kulturwissenschaften im weiteren Sinne ausstrahlen wird.
- 1Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, 7 Bände, Stuttgart/Weimar 2011–2017.