Vertrauen – ein soziales Mittel der Krisenbewältigung
Die Soziologie beschäftigt sich mit Kräften, die menschliches Handeln beeinflussen. Im Alltag sind sie oft unsichtbar und werden uns nur selten bewusst. So auch das Vertrauen.
Vertrauen beginnt, wie es der Soziologe Niklas Luhmann verdeutlicht hat, schon beim morgendlichen Aufstehen: »Der Mensch hat zwar in vielen Situationen die Wahl, ob er in bestimmten Hinsichten Vertrauen schenken will oder nicht. Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn.«1 Vertrauen zu schenken ist, auch darauf weist Luhmann hin, selten eine bewusste Entscheidung. Wenn wir morgens ohne unbestimmte Angst, ohne lähmendes Entsetzen aufwachen, dann ist das Vertrauen in die Welt, das wir zum Aufstehen aus dem Bett benötigen, bereits zur Routine geworden. Dies aber ist alles andere als selbstverständlich. Krieg, Armut oder Krankheit können schon das Aufstehen am Morgen zum Kraftakt werden lassen. Ein solcher Vertrauensmangel zerrt an den Nerven und ist deshalb immer mehr Gegenstand einer medizinischen Forschung, die auch soziale Faktoren berücksichtigt.
Anders, als es das Sprichwort sagt, ist Vertrauen also nicht weniger wert als Kontrolle. Viel mehr braucht Vertrauen Kontrolle. Wer sich der Welt ausgeliefert fühlt, kann nicht vertrauen. Oder in den Worten Georg Simmels: »Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen.«2 Doch auch umgekehrt gilt: Kontrolle braucht Vertrauen. Zumindest in die Kontrolleure.
Vertrauen kann somit als ein »Schmiermittel« beschrieben werden, das soziale Situationen relativer Unsicherheit zu überbrücken hilft. Niemand kann andere vollständig kontrollieren und wissen, wie sie sich in Zukunft verhalten werden. Vertrauen hilft, darüber hinwegsehen zu können und gemeinsam zu handeln.
Mit dieser Anlage lassen sich auch politische Konfliktsituationen erhellen. Während die Diskussion oft um ein Für und Wider von Vertrauen und Kontrolle streift, kann man so fragen: Wo braucht man Kontrolle, damit Vertrauen entstehen kann? Wo braucht es Vertrauen, damit Kontrollen nicht zum Selbstzweck, zur Gängelung werden?
Vertrauensfragen
Situationen, in denen man eigenes Verhalten mit dem abstimmt, was man bei anderen beobachtet, finden wir nicht nur in alltäglichen Situationen. Auch große gesellschaftliche Konfliktlagen lassen sich so verstehen. Verhaltensanpassungen können etwa nur schleppend stattfinden, wenn man den Eindruck hat, dass die anderen ihr Verhalten auch nicht ändern – ja vielleicht noch viel rücksichtsloser sind als man selbst. Es entsteht ein sich gegenseitig verstärkendes Hemmnis, andere Wege zu gehen.
Um solche Situationen empirisch erfassen zu können, haben wir im Rahmen der Vermächtnisstudie Daten erhoben, die diesen Abgleich möglich machen.3 In der Erhebungswelle 2018, auf der unsere Auswertungen basieren, wurden 2070 Personen persönlich befragt.4 Neben Einschätzungen zum eigenen Leben und zu eigenen Ansichten wurden die Befragten auch nach den Bildern gefragt, die sie von »den Menschen in Deutschland« – so unsere Formulierung – haben.
Die Auswertung zeigte bei vielen Themen, dass Menschen mit einem hohen generalisierten Vertrauen vergleichsweise geringere Unterschiede zwischen sich selbst und »den Menschen in Deutschland« sehen. Wenn man davon ausgeht, dass sich andere ähnlich verhalten wie man selbst, lässt sich dies als Vertrauen beschreiben. Nimmt man an, dass sich die anderen ganz anders verhalten, als man das selbst tun würde, so sprechen wir von Misstrauen. Der Vorteil unseres Vorgehens ist, dass wir nicht von dem Vertrauen sprechen müssen, sondern thematisch sauber spezifizieren können, in welchen Bereichen man von Vertrauen und in welchen man von Misstrauen sprechen kann. Es geht also nicht um das eine Bild der anderen, sondern um ihr Verhalten und ihre Einstellungen im Hinblick auf bestimmte Themen.
Im Folgenden seien zwei Ergebnisse zur Erwerbsarbeit und zum Gesundheitssystem herausgegriffen, die deutlich machen, wie aufschlussreich die Methode zum Verständnis politischer Konfliktlagen ist. Zunächst zur Erwerbsarbeit. Einerseits fragten wir, um Diskussionen um den Wert der Arbeit aufzugreifen, wie wichtig es den Befragten ist, erwerbstätig zu sein. Wir finden hier mit einem Mittelwert von 1,7 eine sehr hohe Zustimmung.5 Gleichzeitig ist auch das Bild der anderen nur unwesentlich schlechter. Gefragt danach, ob es auch »den Menschen in Deutschland« wichtig ist, erwerbstätig zu sein, ist der Mittelwert 2,1.
Anders sieht es aus, wenn wir nach der Qualität der Arbeit fragen. Gefragt danach, ob man einer Arbeit nachgeht, die man auch wirklich machen möchte, zeigen sich viele Befragte sehr positiv. Gefragt nach den anderen, rutscht die Zustimmung deutlich ab. Deutlich weniger Menschen sind also überzeugt, dass andere auch einer sinnstiftenden Arbeit nachgehen, die sie gerne verrichten.
In diesem Zweifel spiegeln sich, so unsere These, die arbeitsmarktpolitischen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte. Viele arbeiten unter prekären Bedingungen, oft auch in der Überzeugung, »dem Staat nicht auf der Tasche« zu liegen. Dieser Stolz findet seinen Grund auch im sozialpolitischen Verständnis von Arbeit, das durch ein Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern geprägt ist. Durch die Zumutbarkeitsregelung sind Empfänger von Arbeitslosengeld II gezwungen, alle Beschäftigungen anzunehmen – selbst wenn sie überqualifiziert sind. Das Vertrauen, dass nicht nur man selbst, sondern auch andere eine erfüllende Arbeit haben, ist also abhängig von arbeitspolitischen Rahmensetzungen. Ein Recht auf gute Arbeit, neue Zumutbarkeitsregeln, die Arbeitslosen das Recht geben, schlechte Jobs abzulehnen, können Vertrauen in dieser Frage stiften.
Ein vergleichbares Bild zeigt sich bei der Frage nach der Finanzierung des Gesundheitssystems. Die Befragten bekamen die Frage gestellt, inwiefern sie »für eine bessere medizinische Behandlung auch mehr bezahlen würden«. Sie stimmen mit einem Mittelwert von 2,9 moderat zu. Auffällig ist, dass die Angaben über »die Menschen in Deutschland« mit einem Mittelwert von 3,0 nahezu identisch sind. Man selbst zahlt ebenso wie die anderen, so der Eindruck der Befragten, unfreiwillig mehr für eine bessere Behandlung. Alle sitzen im selben Boot und wissen das voneinander.
Auch hier finden wir aber gegenläufige Angaben. Geht es um das tatsächliche Gesundheitsverhalten, sind die Befragten kritischer gegenüber ihren Mitmenschen. Ob man auf die eigene Gesundheit achtet, haben wir gefragt, und erhalten mit einem Mittelwert von 1,8 eine deutliche Zustimmung. Gefragt nach »den Menschen in Deutschland«, sackt auch hier die Zustimmung um einen ganzen Skalenpunkt auf 2,8 ab. Die Befragten haben also Misstrauen: So gut wie man selbst kümmern sich die anderen wahrscheinlich nicht um ihre Gesundheit.
Dieses Nebeneinander von Vertrauen und Misstrauen passt zu Versicherungsmodellen bedingter Solidarität, die ihre Leistungen an die Bedingung knüpfen, das eigene Gesundheitsverhalten transparent zu machen. Fitnessarmbänder und der Diskurs um Big Data regen die Phantasie an. Schon heute gibt es Bonusprogramme für Versicherte, die besonders aktiv sind und das protokollieren. Dies kollidiert jedoch mit Erkenntnissen der Medizin, die zeigen, dass Gesundheit auch vererbt wird und abhängt von den Wohn- und Arbeitsorten. Auch das Gesundheitsverhalten ist keine vollständig individuelle Entscheidung, sondern durch die soziale Herkunft geprägt. Faktoren, die bei einer Individualisierung von Versicherungsrisiken, die auf Misstrauen beruht, nicht berücksichtigt werden.
Vertrauen in Krisenzeiten
Gesellschaftliche Krisen machen uns unweigerlich auf Vertrauen aufmerksam. Das Zusammenspiel von Wissen und Nichtwissen verschiebt sich in Richtung des Nichtwissens, zur Unsicherheit. Vertrauen steht auf der Kippe. Das trifft selten das sogenannte interpersonale Vertrauen, das auf enger persönlicher Kenntnis beruht und im Familien- und Freundeskreis zu finden ist. Dieses bleibt in Krisenzeiten stabil und wird gar verstärkt, da man oft gezwungen ist, auf diese Beziehungen stärker als sonst zurückzugreifen.
Anders sieht es beim sogenannten generalisierten Vertrauen aus. Es bezieht sich auf Menschen, die man nicht persönlich kennt, auf die Leute auf der Straße, in der Stadt, in unserer Gesellschaft. In der empirischen Sozialforschung ist es seit Jahrzehnten ein wichtiges Maß, um die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens empirisch in den Blick zu bekommen.
Generalisiertes Vertrauen ist international unterschiedlich stark ausgeprägt. Die skandinavischen Länder haben traditionell ein hohes generalisiertes Vertrauen, was (auch) auf die Stärke des Sozialstaates zurückgeführt werden kann. Deutschland liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. In allen Ländern aber ist Vertrauen sozialstrukturell geschichtet. Schlechte Lebenschancen durch geringes Einkommen, Bildungsarmut oder Arbeitslosigkeit wirken sich auch auf das Vertrauen aus, das man seinen Mitmenschen im Allgemeinen schenken kann.
Welche Folgen können Krisen für Situationen haben, in denen man sich mit Menschen abstimmt, die man nicht kennt, in denen generalisiertes Vertrauen also eine wichtige Rolle spielt? Erinnern wir uns an die leeren Regale in der Frühphase der Corona-Pandemie. Begleitet wurden sie durch eine breite Medienberichterstattung mit dem moralischen Appell, sich solidarisch zu verhalten und das »Hamstern« zu unterlassen.
Mit dem Begriff des Vertrauens lässt sich die Situation besser verstehen. Sie war geprägt durch die eindrücklichen Bilder leerer Regale, die sich so schnell verbreiteten, dass der Eindruck entstand, man müsse generell mit leeren Regalen rechnen. Die Situation war gleichermaßen von einem mangelnden Vertrauen in die Mitmenschen geprägt, dass diese sich vernünftig verhalten würden. So »hamsterten« viele Leute nicht aus sich heraus, sondern aus dem Wissen, dass andere ihnen zuvorkommen könnten. Es entstand eine sich selbst verstärkende Dynamik, eine selbsterfüllende Prophezeiung: leere Regale durch Bilder leerer Regale.6
Was also können wir lernen? Gerade in Krisenzeiten müssen wir darauf achten, dass das generalisierte Vertrauen nicht geschädigt wird. Aus der physischen Distanz darf keine soziale Distanz werden. Wir müssen alles dafür tun, soziale Unterschiede nicht weiter aufbrechen zu lassen und die digitalen Möglichkeiten so weiterzuentwickeln und einzusetzen, dass sich Menschen auch ›zufällig‹ treffen, kennen lernen, voneinander etwas erfahren. Isolation ist die Feindin von Vertrauen, das Verharren in den eigenen sozialen Räumen ist es auch.7
- 1Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973, S. 1.
- 2Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 263.
- 3Die Vermächtnisstudie ist eine Panelerhebung, die wir am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) zusammen mit der Wochenzeitung DIE ZEIT und dem infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft durchführen. Vgl. für die grundlegende Darstellung Jutta Allmendinger, Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen, München 2017.
- 4Die Ergebnisse haben wir zusammengefasst in Jutta Allmendinger und Jan Wetzel, Die Vertrauensfrage. Für eine neue Politik des Zusammenhalts, Berlin 2020.
- 5Verwendet wurde eine Skala von 1 = »sehr wichtig« bis 7 = »überhaupt nicht wichtig«.
- 6Hande Erkut, Steffen Huck und Johannes Leutgeb, Leere Regale durch Bilder leerer Regale (8.4.2020), in WZB, www.wzb.eu/de/forschung/corona-und-die-folgen/leere-regale-durch-bilder-leerer-regale (10.8.2020).
- 7Der Mitschnitt eines Kamingesprächs mit Jutta Allmendinger, Jan Wetzel und Martin Machowecz (DIE ZEIT) vom 25.9.2020 an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig findet sich unter www.saw-leipzig.de/kamingespraech_allmendinger_wetzel .