Johann Wolfgang Goethe. Briefe. Historisch-kritische Ausgabe
In Verbindung mit der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar / Goethe- und Schiller-Archiv herausgegeben von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter
Band 10 I. 1794–1795. Texte. Herausgegeben von Jutta Eckle und Georg Kurscheidt, de Gruyter, Berlin/Boston 2019, XX + 326 Seiten, 25 Abbildungen, Festeinband
Band 10 II. 1794–1795. Kommentar. Herausgegeben von Jutta Eckle und Georg Kurscheidt, de Gruyter, Berlin/Boston 2019, LXIV + 676 Seiten, 4 Abbildungen, Festeinband
Band 10 der Gesamtausgabe »Johann Wolfgang Goethe. Briefe«, die am Goethe-Schiller-Archiv im Rahmen des Akademienvorhabens »PROPYLÄEN. Forschungsplattform zu Goethes Biographica« erarbeitet wird, erschien im November 2019. Der Doppelband mit Text- und Kommentarteil enthält 201 Briefe aus den Jahren 1794 und 1795 aus Goethes persönlicher Korrespondenz mit 46 Adressaten. 125 weitere Briefe an 54 Empfänger ließen sich aus anderen Quellen erschließen, sind im Manuskript aber nicht mehr vorhanden. Von diesen sind interessanterweise nur 19 mit den Adressaten der überlieferten Briefe identisch, viele Empfänger sind unbekannt. Konsequent unterschieden wird im vorliegenden Band zwischen Briefen und Schreiben. Während alle bekannten Briefe vollständig, in chronologischer Folge abgedruckt werden, enthält der vorliegende Doppelband nur diejenigen amtlichen Schreiben, 62 an der Zahl an 17 Empfänger, die bereits von der vierten Abteilung der Weimarer Ausgabe »Goethes Werke« mit ihren Ergänzungen und Nachträgen in den Jahren von 1887 bis 1912 bzw. 1990 aufgenommen worden waren. Von zahlreichen weiteren Schreiben, die sich in den Akten finden ließen, hatte Goethe zumindest Kenntnis – wie eigenhändige Visa belegen. Sie bleiben einer vollständigen Ausgabe der amtlichen Korrespondenz Goethes vorbehalten. Goethe verfasste oder genehmigte die Schreiben in Ausübung seiner dienstlichen Verpflichtungen, als Mitglied der für den Botanischen Garten in Jena, für Wasserbau im Herzogtum oder für die Bergwerke in Ilmenau zuständigen Kommission oder als Intendant des Hoftheaters. Für die Identifikation dieser Stücke entscheidende Kriterien sind 1) der Inhalt und die Sprache der epistolaren Mitteilung sowie 2) die äußere Form des Schriftstücks, 3) die Art der Beziehung, die Goethe zu dem jeweiligen Adressaten unterhielt, sowie 4) die archivalische Überlieferung der relevanten handschriftlichen Textzeugen. Mit einigen Korrespondenten – wie August Johann Georg Carl Batsch und Christian Gottlob Voigt – unterhielt Goethe sowohl amtliche als auch private Beziehungen. Im vorliegenden Zeitraum stehen den Briefen Goethes knapp 700 überlieferte Briefe an ihn gegenüber. Die bekannten Bezugs- und Antwortbriefe werden in den Erläuterungen nachgewiesen und für die Kommentierung herangezogen.
Maßgebend für die Textkonstitution ist das Verständnis der Briefe als persönliche Dokumente, die ihre Adressaten in einer bestimmten äußeren Gestalt erreichten. Daraus folgt, dass keinerlei Eingriffe in den Text (Lautstand, Orthographie, Interpunktion) vorgenommen werden, ebenso wenig Vereinheitlichungen, Glättungen und Emendationen. Bei echten Schreibversehen erfolgt eine Berichtigung ausschließlich im Kommentar. Streichungen und Korrekturen werden als Bestandteile des Textes betrachtet und daher nicht in einem gesonderten Apparat, sondern als Autorvarianten im Textband mitgeteilt. Der Dokumentcharakter eines Briefes verlangt auch die Berücksichtigung der Beilagen. Der Kommentar zu den Briefen besteht aus mehreren Teilen: In der Überlieferung werden alle handschriftlich überlieferten textkritisch relevanten Zeugen eines Briefes nachgewiesen, zudem die gedruckte Überlieferung soweit sie textkritisch relevant ist. Verzeichnet werden zudem der Erstdruck und der Druckort in der Weimarer Ausgabe. Die Erläuterungen liefern – neben textkritischen Anmerkungen – die zum Verständnis des Textes notwendigen sprachlichen, sachlichen, historischen, literarischen und biographischen Aufschlüsse. Am Beginn der Erläuterungen des jeweils ersten Briefes an einen Adressaten stehen zusammenfassende Überblickskommentare zur Person des Adressaten und Goethes Beziehung zu ihm sowie zu den Besonderheiten der Korrespondenz. Zu Band 10 gehören weiterhin Verzeichnisse und Register zu Personen und Werken sowie die zahlreichen Abbildungen.
In den Jahren 1794 und 1795 waren Goethes Lebensmittelpunkte Wei- mar und das Herzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach. In der Residenzstadt hatte er sich beruflich, als herzoglicher Beamter, und privat etabliert, mit Christiane Vulpius eine Familie gegründet und begonnen, sich mit ihr und dem 1789 erstgeborenen Sohn August in dem am 18. Juni 1794 vom Herzog übereigneten Haus am Frauenplan auf Dauer einzurichten und dieses – in Abstimmung mit dem Hausgenossen Johann Heinrich Meyer – nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen umzugestalten. In Frankfurt a. M. stand Goethes Mutter Catharina Elisabeth im Begriff, das zu groß gewordene Wohnhaus am Hirschgraben mit den darin befindlichen Sammlungen zu veräußern. Kleinere Reisen führten Goethe im Sommer 1794 – zusammen mit Herzog Carl August – ins anhaltinische Wörlitz und Dessau und kursächsische Dresden. Ein Jahr später fuhr er allein zur Brunnenkur ins böhmische Karlsbad und Mitte Oktober 1795 schließlich bis an den westlichen Rand des Herzogtums nach Eisenach. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den alliierten Truppen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der französischen Armee, die in den Jahren 1794 und 1795 wie ein Schatten über allen deutschen Territorien lagen, seien sie nun direkt oder indirekt von den Kriegshandlungen betroffen, hinderten ihn 1796 daran, seinem Freund Meyer nach Italien zu folgen. Mehrere kürzere Arbeitsaufenthalte veranlassten Goethe wiederholt, Weimar für einige Zeit zu verlassen und außerhalb der Stadt seinen amtlichen Aufgaben nachzukommen. In Ilmenau erforderten Bergwerksangelegenheiten bisweilen seine Anwesenheit. Gastspiele führten das Schauspielerensemble des Weimarer Hoftheaters nach Lauchstädt, Rudolstadt, Erfurt und Gotha. Als dessen Direktor inszenierte Goethe am 16. Januar 1794 erstmals Mozarts Singspiel »Die Zauberflöte« und versuchte, den Dramatiker und Schauspieler August Wilhelm Iffland für die Weimarer Bühne zu gewinnen. In Jena gründete er zusammen mit August Johann Georg Carl Batsch das Botanische Institut, holte den Philosophen Johann Gottlieb Fichte als Professor an die Universität und kümmerte sich 1795 um die Wasserbauarbeiten zur Regulierung der Saale. Daneben boten die Aufenthalte in Jena neben der nötigen Ruhe zu konzentrierter schriftstellerischer Arbeit auch mannigfaltige Gelegenheiten zur Teilnahme am gesellig-wissenschaftlichen Leben, besonders aber zu Begegnungen und Gesprächen mit Friedrich Schiller und dessen Gattin Charlotte, mit Wilhelm und Caroline von Humboldt oder mit dessen jüngerem Bruder Alexander von Humboldt, den Goethe bei einer dieser Einladungen erstmals traf. Zu den neuen Bekanntschaften dieser Jahre zählen die Philologen Johann Heinrich Voß d. Ä., der Übersetzer von Homers »Ilias«, und Friedrich August Wolf, mit denen Goethe fortan persönlichen und brieflichen Umgang pflegte und Nutzen aus ihren philologischen Arbeiten zur Antike zog. In den Sommer 1794 fällt auch der Beginn des wichtigen Briefwechsels mit Schiller. Am 24. Juni 1794 beantwortete Goethe Schillers Einladung zur Mitarbeit an der Zeitschrift »Die Horen« vom 13. Juni 1794 zustimmend. Die Korrespondenz endet wenige Tage vor Schillers Tod mit Goethes Brief vom 26. oder 27. April 1805, in dem er Schiller bittet, einen Nachtrag seiner »Anmerkungen« zur Übersetzung von »Rameau’s Neffe« nach Leipzig zu senden. Dazwischen liegen etwa 540 Briefe Goethes und 475 Gegenbriefe Schillers. 1828/29 veröffentlichte Goethe selbst die Korrespondenz.
In den Jahren 1794 und 1795 verfolgte Goethe ferner – neben seinen dienstlichen Aufgaben etwa als Berater des Herzogs bei der Ausstattung von dessen Römischem Haus im Park an der Ilm – verschiedene wissenschaftliche und literarische Interessen. Es entstanden Studien zur Optik, Farbenlehre, Morphologie und vergleichenden Anatomie, die in den Korrespondenzen mit August Prinz von Sachsen-Gotha und Altenburg, Carl Theodor von Dalberg, Johann Friedrich August Göttling, Georg Christoph Lichtenberg und Samuel Thomas von Soemmerring eine Rolle spielen. Auf literarischem Gebiet arbeitete er unter anderem an »Reineke Fuchs« und den acht Büchern von »Wilhelm Meisters Lehrjahren«, die in den von Johann Friedrich Unger in Berlin verlegten »Neuen Schriften« erscheinen. Mit Meyer plante er 1795 ein umfassendes kulturgeschichtliches Werk über Italien.