Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe
In Verbindung mit der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar / Goethe- und Schiller-Archiv herausgegeben von Georg Kurscheidt, Norbert Oellers und Elke Richter
Band 4 I: 1780–1781. Texte. Herausgegeben von Elke Richter und Héctor Canal unter Mitarbeit von Bettina Zschiedrich, de Gruyter, Berlin/Boston 2020, XXVII + 425 Seiten, 17 Abbildungen, Festeinband
Band 4 IIA–B: 1780–1781. Kommentar. Herausgegeben von Elke Richter und Héctor Canal unter Mitarbeit von Bettina Zschiedrich und unter Mitwirkung von Ulrike Leuschner und Ariane Ludwig, de Gruyter, Berlin/Boston 2020, LXII + 1140 Seiten, 16 Abbildungen, Festeinband
Im Juli 2020 ist Band 4 der historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen erschienen. Damit liegen neun Bände der seit 2008 im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar herausgegebenen Edition vor, die einmal 38 Bände umfassen soll. Seit 2015 ist sie Teil des gemeinsam mit der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur verantworteten Akademienvorhabens »PROPYLÄEN. Forschungsplattform zu Goethes Biographica«. In diesem Rahmen werden die Bände der Briefausgabe nach und nach auch digital zugänglich sein, vernetzt mit den Editionen der Briefe an Goethe, der Tagebücher Goethes und der Begegnungen und Gespräche.
Band 4 enthält sämtliche derzeit bekannten Briefe Goethes aus den Jahren 1780 und 1781, die mit wenigen Ausnahmen nach den Handschriften ediert worden sind. Im Vergleich zu allen bisherigen Ausgaben erscheinen die Briefe, von denen mehr als ein Viertel unvollständig oder nicht datiert sind, in revidierter und damit in veränderter Chronologie.
Der Beginn der 1780er Jahre markiert für Goethe einen neuen Abschnitt seines Weimarer Lebens. Am 14. Januar 1780 waren er und Herzog Carl August von einer viermonatigen Reise nach Süddeutschland und in die Schweiz zurückgekehrt, die bei Goethe zur inneren Klärung und Selbstvergewisserung beigetragen hatte. Nach der Rückkehr widmete er sich mit neuer Kraft der Arbeit im Geheimen Consilium und erweiterte seine Interessen- und Aufgabengebiete. So übernahm er schon im April 1780 die Leitung der Bergwerkskommission. Unter seinem Vorsitz fand am 27. und 28. Juni 1781 in Ilmenau die Bergwerkskonferenz mit Kursachsen und Sachsen-Gotha zu hoheitlich-rechtlichen Fragen des Ilmenauer Bergbaus statt. Als Direktor der Wegebaukommission kümmerte sich Goethe um den Bau von Wegen, Wassergräben und Stauschutzwällen im Herzogtum und war zuständig für die thüringischen Obergeleitstraßen. Immer wieder bereiste er daher die verschiedenen Landesteile und angrenzenden Herzogtümer. Im September 1780 begleitete er Herzog Carl August auf einer ausgedehnten Inspektionsreise nach Ilmenau und in das Eisenacher Oberland. Zudem war er seit 1781 allein für die Kriegskommission verantwortlich.
Neben der Erfüllung seiner Amtsgeschäfte betätigte sich Goethe als Sammler und ›Kunstagent‹ für Carl August. Über seine freundschaftlichen Kontakte zu Johann Heinrich Merck in Darmstadt und Johann Caspar Lavater in Zürich erwarb er für sich selbst vor allem Zeichnungen und Kupferstiche und vermittelte den Erwerb von Kunstwerken für die herzogliche Sammlung. In den Jahren 1780 und 1781 intensivierte Goethe seine Beziehung zum Gothaer Hof, den er mehrfach besuchte. Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg, der Bruder des Gothaer Herzogs, wurde zu einem wichtigen Gesprächspartner in literarischen und künstlerischen Angelegenheiten. Als Abonnent der Correspondance littéraire, philosophique et critique ermöglichte er Goethe Zugang zu dieser exklusiven Zeitschrift, in der von 1778 bis 1782 u. a. Denis Diderots Romane Jacques le fataliste et son maître und La Religieuse erstmals veröffentlicht wurden. Ein fast schon freundschaftliches Verhältnis entwickelte sich zum regierenden Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg, dem Goethe als Berater vor allem in Kunstfragen zur Seite stand. Goethe seinerseits profitierte von der herzoglichen Bibliothek, der Gothaer Kunstkammer und dem physikalischen Kabinett des Herzogs. Neben den gemeinsamen Interessen für Naturwissenschaft und Kunst waren Politik und Freimaurerei weitere Berührungspunkte. Im Februar 1780 bat Goethe bei Jacob Friedrich von Fritsch, seinem Amtskollegen im Geheimen Consilium und Meister vom Stuhl, um Aufnahme in die Weimarer Freimaurerloge Amalia zu den drei Rosen, die am 23. Juni 1780 erfolgte.
Die Schweizer Reise beförderte auch Goethes naturwissenschaftliche Interessen. Im Frühjahr 1780 begann für ihn eine Zeit der vertieften Auseinandersetzung mit geologischen Themen. Im Mai kehrte Johann Carl Wilhelm Voigt von der Bergakademie in Freiberg nach Weimar zurück und wurde von Goethe mit der systematischen Erkundung aller Gesteinsarten des Herzogtums beauftragt. Parallel dazu legte Goethe eine eigene Mineraliensammlung an, die er systematisch ordnete und 1781 durch einen umfangreichen Ankauf erweiterte. Mit Unterstützung des Jenaer Anatomen und Medizinprofessors Justus Christian Loder widmete sich Goethe seit 1780 und verstärkt seit Herbst 1781 der Osteologie und Anatomie. Er nahm mehrfach an anatomischen Sektionen Loders teil. Parallel dazu entstand eine Reihe anatomischer Zeichnungen Goethes. Seine neuen Kenntnisse suchte er den Schülern der Fürstlichen Freyen Zeichenschule zu vermitteln.
Wenn Goethe von 1780 bis 1781 vor allem aufgrund seiner anwachsenden amtlichen Tätigkeit auch keine größeren poetischen Werke zu Ende führte, so arbeitete er doch an einigen wichtigen Dramen- und Roman-Projekten, darunter Torquato Tasso und Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Als einzige dramatische Arbeit schloss er 1780 den Einakter Die Vögel ab, der am 18. August 1780 in Ettersburg uraufgeführt wurde. Fragment dagegen blieb das Stück Elpenor, 1781 als Festspiel zur Geburt des lange erwarteten Erbprinzen vorgesehen. Nicht vollendet wurde auch das nicht überlieferte ›Gespräch über die deutsche Literatur‹ aus den ersten Monaten des Jahres 1781, geplant als Entgegnung auf das Manifest De la littérature Allemande (1780) des preußischen Königs Friedrich II. Außerdem betätigte Goethe sich weiterhin als Autor, Schauspieler und Regisseur des Weimarer Liebhabertheaters und verfasste Maskenspiele und kleinere Texte für festliche Anlässe. Schließlich fällt in den Zeitraum des Bandes auch die Gründung des handschriftlichen Journals von Tiefurth durch die Herzoginmutter Anna Amalia und deren Kreis, an dem sich Goethe seit Herbst 1781 mit eigenen Gedichten beteiligte.
Die 557 Briefe des Bandes zeigen die Vielfalt von Goethes Interessen, die Ausweitung seiner Amtsgeschäfte und nicht zuletzt seine innere Zerrissenheit zwischen Erfüllung der amtlichen Pflichten und seiner Bestimmung als Dichter. Die Briefe sind an 51 verschiedene Adressaten gerichtet, zumeist an solche, mit denen Goethe schon in den vorangegangenen Jahren korrespondiert hatte, darunter Carl Ludwig von Knebel, Johann Caspar Lavater, Jacob Friedrich von Fritsch und Herzog Carl August. Mit Ausnahme von Philipp Christoph Kayser und Johann Heinrich Merck sind alte Freunde aus der Frankfurter Zeit kaum noch unter den Briefempfängern. Neue Korrespondenzpartner sind u. a. Ernst II. Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg und dessen Bruder Prinz August sowie Personen, die Goethe bei der Erweiterung seiner Sammlungen behilflich waren, darunter der Maler und Radierer Ferdinand Kobell, der Schweizer Alpenforscher Jacob Samuel Wyttenbach und der kursächsische Bergkommissionsrat Johann Friedrich Wilhelm Charpentier. Die nach wie vor wichtigste Adressatin Goethes aber ist Charlotte von Stein. Die Jahre 1780 und 1781 gehören zur intensivsten Phase seines Briefwechsels mit ihr. Nahezu drei Viertel der überlieferten Briefe aus diesem Zeitraum sind an Charlotte von Stein gerichtet, an die Goethe beinahe täglich schreibt. Wie schon in der Frühzeit der Korrespondenz sind die Themen der Briefe aus den Jahren 1780 und 1781 komplex und berühren alle Lebensbereiche, Interessengebiete sowie die amtliche Tätigkeit. Als Gesprächs- und Briefpartnerin auf literarischem Gebiet war Charlotte von Stein eng in die Entstehungsprozesse der Werke eingebunden, an denen Goethe zu Beginn der 1780er Jahre arbeitete. Vor allem über den Fortgang der Arbeit am Torquato Tasso hielt Goethe sie fast täglich auf dem Laufenden. Freimütig äußerte er sich ihr gegenüber auch über das Verhalten Herzog Carl Augusts und die Begrenztheit seiner pädagogischen Einflussnahme auf den Fürsten, die ihn zunehmend frustrierte. In den Briefen an Charlotte von Stein brachte Goethe auch erstmalig seit Beginn der Schweizer Reise seinen latent vorhandenen Wunsch zum Ausdruck, sich aus den oftmals als beengend empfundenen Weimarer Verhältnissen mit einer ›Flucht‹ zu entziehen.
In der neuen historisch-kritischen Ausgabe werden Goethes Briefe aus den Jahren 1780/81 erstmals umfassend kommentiert. Einleitende Erläuterungen widmen sich der Entwicklung der Korrespondenzen, insbesondere der mit Charlotte von Stein, und führen in neu beginnende Briefwechsel ein, darunter die mit Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg und mit dessen Bruder Prinz August, wichtigen Gesprächspartnern in literarischen und naturwissenschaftlichen Fragen. Übergreifende Kommentare rekonstruieren u. a. Goethes Inspektionsreisen im Herzogtum, die der Förderung von Landwirtschaft, Bergbau und Gewerbe dienten, Goethe aber auch ganz direkt mit der sozialen Not der Einwohner konfrontierten. Einzelstellenerläuterungen erhellen biographische, literarische, kultur- und zeitgeschichtliche Bezüge und Anspielungen: Aufgespürt werden Lektüre-Einflüsse wie die von Diderots Roman Jacques le fataliste oder Marc Aurels Selbstbetrachtungen. Goethes Bemühungen um Mineralien für die eigene Sammlung werden nachvollzogen und sein Studium der Graphiken Dürers und Everdingens in Hinblick auf die Professionalisierung der Sammeltätigkeit beleuchtet. Nachgewiesen werden auch sämtliche Briefbeilagen, darunter Zeichnungen Goethes, die der Edition als Abbildungen beigegeben sind.