Erschließung, Sicherung, Vergegenwärtigung
Die Forschungsvorhaben der deutschen Akademien der Wissenschaften1
1. Zwischen Tragik und Komik. Wer über die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Deutschland spricht, muss, wie es Platon seinen Sokrates am Ende des Symposions, also am Morgen nach einer durchzechten Nacht, fordern lässt, die Fähigkeit eines Dichters haben, der die Talente des Tragikers mit denen des Komikers in sich vereint.
Tragisch ist es, dass in einem Lande, das mehr als hundert Jahre lang von anderen als Pflanzstätte der Bildung und der Wissenschaft beneidet wurde, der Ungeist so abnorme Ausmaße annahm, dass er alles andere verschlang und auch den Geist mit ins Verhängnis ziehen konnte.
Natürlich wissen wir, dass alles seine zwei Seiten hat und dass alles, was zu etwas gut ist, auch zu etwas Schlechtem taugt. Doch die Unterwürfigkeit der deutschen Universitäten nach dem 30. Januar 1933, die Beteiligung der deutschen Wissenschaften an der Vertreibung der Juden und die Mitwirkung vieler Forscher an deren Vernichtung, hat die Wissenschaft in Deutschland so nachhaltig geschwächt, dass jeder, der sich nach diesem Verbrechen noch auf die Tradition beruft, in Verdacht gerät, zu den Unbelehrbaren zu gehören.
Das muss man bedenken, wenn man erklären will, warum die Universitäten im Nachkriegsdeutschland wie willenlose Patienten dastehen, die jede nur denkbare Maßnahme über sich ergehen lassen, solange sie »Reform« genannt werden kann und damit irgendwie Befreiung von einer lastenden Schuld verspricht.
Die Tragik ist, dass jede Berufung auf die Überlieferung, auch wenn sie in bester Absicht und mit guten Gründen erfolgt, durch das Versagen eben dieser Tradition in den Zeiten des Krieges, den eine Partei zunächst gegen das eigene Volk, dann gegen die Mehrheit der Völker und schließlich gegen die Menschlichkeit entfesselte, auf Dauer diskreditiert erscheint.
Die Komik liegt in der Beflissenheit, mit der sich die Deutschen jeder Reform mit offenen Armen entgegen werfen, so als läge in ihr selber schon die Erlösung von dem Übel. Reformen sind besser als Revolutionen, aber sie sind keine Garantie für eine der Sache und den Menschen verpflichtete Politik. Aber die Sache schien verloren und ein Großteil der Verantwortung tragenden Menschen galt als diskreditiert. Und so konnte es zu der Tragikomödie kommen, die uns die Universitätspolitik seit 1968 in immer neuen Aufzügen vorspielt: ständig um Besserung bemüht und stets das Schlechtere erzeugend. Die Studienreform nach dem Bologna-Prozess und die verfehlte Exzellenz-Initiative sind nur die jüngsten Beispiele aus einer Verfallsgeschichte, die mit der Hochschulgesetzgebung der späten sechziger und der frühen siebziger Jahre ihren Anfang nahm. Wenn ich an den Aberwitz der Drittel- und Viertelparitäten zurückdenke, an deren Durchsetzung ich selber als Studentenvertreter beteiligt war, dann finde ich beste politiktheoretische Belege dafür, wie wehrlos eine Demokratie sein kann, wenn niemand den Mut aufbringt, auch nur experimentell für das Bestehende zu argumentieren.
2. Abwegige Kritik. Ich erspare es mir, nach Art eines Politikers zu versichern, dass es nach Achtundsechzig auch manches Gute gegeben hat. Das hat es natürlich, und ich rechne die Enthierarchisierung der Ämter, das antiautoritäre Selbstbewusstsein der Universitätsmitglieder, die größere Transparenz der Entscheidungsverfahren, die Konkurrenz der Hochschulen sowohl untereinander als auch mit der außeruniversitären Forschung sowie die periodische Selbstprüfung der wissenschaftlichen Einrichtungen dazu. Gleichwohl bin ich sicher, dass die Geschichtsschreibung der deutschen Hochschulpolitik der letzten vierzig Jahre kein gutes Zeugnis ausstellen wird.
Fast hätten sich die Fehler der Universitätspolitik mit einer Verzögerung von dreißig Jahren auch in den Akademien wiederholt. Schon Mitte der neunziger Jahre setzte die Polemik gegen die Akademievorhaben ein. Man nannte sie verächtlich Endlosforschung, verglich sie mit der Langsamkeit von Schildkröten, belächelte die Arbeit in – was sonst? – »verstaubten« Archiven, machte die historische Orientierung verächtlich und beklagte wahrheitswidrig die mangelnde Interdisziplinarität, die fehlende Internationalität und die angeblich unzureichende technische Ausrüstung der Forschungsaktivitäten.
Zu den Kuriositäten dieser Debatte gehörte, dass es ausgerechnet ein an die Spitze einer Akademie berufener Biologie war, der die Akademievorhaben durch den Vergleich mit den Schildkröten zu blamieren suchte, so als wüsste er nichts von der Land- und Meerestauglichkeit dieser gelassenen Überlebenskünstler. Ich bewundere diesen Biologen – auch wegen seiner organisatorischen und publizistischen Kompetenz. Aber mit dem Schildkrötenvergleich hat er sich in der Sache und im Bild vergriffen.
Nicht weniger erstaunlich war der Ehrgeiz seines Nachfolgers im Amt. Der wäre gern ein Altachtundsechziger gewesen und versuchte es noch zu werden, indem er mit dreißigjähriger Verspätung davon sprach, die Universitäten seien »im Kern verrottet«. Seiner Verantwortung für die Akademievorhaben suchte er mit dem Einsatz für ihre Reduktion auf wenige Projekte nachzukommen. Sie sollten in einem Zentralen Akademie-Institut zusammengefasst und auf aktuelle Fragestellungen ausgerichtet werden. Die Voraussetzungen dafür hätten durch ein vernichtendes Urteil des Wissenschaftsrates geschaffen werden können. Gesetzt, der Wissenschaftsrat wäre der Erwartung gefolgt, die geleistete Arbeit zu diskreditieren, wäre die Auflösung der Akademievorhaben die Bedingung ihrer angeblichen Renovierung gewesen.
3. Eine konstruktive Empfehlung Zur Liquidierung der Vorhaben ist es bekanntlich nicht gekommen. Denn 2004 hat der Wissenschaftsrat den 160 Akademievorhaben in der Bundesrepublik bescheinigt, dass sie eine Forschung betreiben, die es nirgendwo sonst in Deutschland gibt. Die höchste Evaluationsinstanzss="ParagraphNormal">Im Programm sind derzeit noch die n Leistungen der Langfristforschung und erkannte an, dass die Akademievorhaben nach hohen Standards produktiv, effektiv und mit internationaler Resonanz tätig sind.
Gleichwohl hat der Wissenschaftsrat eine behutsame Reorganisation nahegelegt. Er sah die Gefahr einer Abkapselung der Akademien vom umgebenden Wissenschaftssystem in der Bundesrepublik, fand die Verfahren zur Evaluierung nicht verlässlich genug, war mit der Einbindung der Naturwissenschaften in das Programm nicht zufrieden, bemängelte, dass es unbefristete »Dauervorhaben « gibt, und wünschte sich eine Änderung in der Finanzierung durch Bund und Länder. Seine Empfehlungen zielten darauf, eine Konzentration der Arbeit auf die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu erleichtern, die Forschungsvorhaben auch für Antragsteller außerhalb der Akademien zu öffnen, ihre Vernetzung im Wissenschaftssystem verbindlich zu machen und die Evaluierung zu verbessern. Überdies schlug der Wissenschaftsrat vor, die Finanzierung bundesweit so einzurichten, dass künftig über die Aufnahme von Neuvorhaben allein nach wissenschaftlichen Kriterien (und nicht nach den Zufällen der landesherrlichen Anciennität) entschieden werden könne.
4. Abschließende Empfehlung. Der Wissenschaftsrat hat 2004 sachkundige und einsichtige Vorschläge gemacht, die einmal keine Reform an Haupt und Gliedern, sondern eine administrative Verbesserung verlangten. Die Aufnahme der Empfehlungen und ihre Umsetzung durch die Akademien wurde dadurch wesentlich erleichtert. Sie wurde tatkräftig durch die Bundesregierung und durch Vertreter der Länder unterstützt.
Ende Mai 2009 hat der Wissenschaftsrat in einer zweiten Evaluierungsrunde die Umsetzung seiner Empfehlungen von 2004 überprüft. Sein abschließendes Urteil war diesmal uneingeschränkt positiv. Er äußerte sich befriedigt über die Einbindung von DFG-Delegierten in die Wissenschaftliche Kommission (also in das zuständige Beratungs- und Kontrollgremium der Union), lobte die Öffnung für Anträge aus den Universitäten, erkannte die Bemühungen um eine Auslagerung der Dauervorhaben an, desgleichen die Versuche, die naturwissenschaftlichen Projekte neuen Trägern zuzuführen, war von den Bemühungen um die Einbindung der elektronischen Datenverarbeitung beeindruckt und fand darüber hinaus auch den hohen Frauenanteil in den Arbeitsstellen, die Verjüngung des Durchschnittsalters der aktiven Forscher, den Beitrag zur Bewahrung der sogenannten kleinen Fächer sowie die internationale Vernetzung bemerkenswert.
Für die weitere Arbeit machte er nun keine Auflagen mehr, sondern gab nur einige zusätzliche Empfehlungen für die digitale Sicherung der alten und der neuen Ergebnisse. Zur besseren Abfederung der naturwissenschaftlichen Projekte bei der Überleitung in eine andere Trägerschaft schlug er eine Fristverlängerung vor. Er trat außerdem für die Weiterbildung der wissenschaftlichen Mitarbeiter ein. Alles das sind hilfreiche Vorschläge, die vom Präsidium der Union und von der Wissenschaftlichen Kommission begrüßt worden sind.
Zu bedauern ist allerdings, dass der Wissenschaftsrat an seine alte Empfehlung zur Umstellung der Finanzierung auf ein multilaterales System lediglich erinnert, ohne sie mit Nachdruck zu erneuern. Es ist bekannt, dass Nordrhein- Westfalen sich gegen diese längst fällige Maßnahme sperrt, weil die Landesregierung befürchtet, dann nicht nur mehr zahlen zu müssen, sondern auch weniger kontrollieren zu können. Leider haben auch einige Akademien Bedenken gegen die Korrektur geäußert, weil sie befürchten, mit dem Wegfall des Landesprinzips auch die guten Kontakte zum zuständigen Ministerium zu verlieren.
Die Befürchtung der Akademiepräsidenten ist verständlich. Das alte Modell der Finanzierung führt jedoch zu Behinderungen in der Umsetzung der Entscheidungen der Wissenschaftlichen Kommission. Ihre allein nach szientifischen Kriterien getroffenen Urteile werden vom Präsidium der Union nachträglich auf die Landesanteile umgerechnet. Das bedeutet, dass nicht in jedem Fall die besten Neuvorhaben in Gang gesetzt werden, sondern nur solche, für die im Antrag stellenden Land zufällig Mittel frei sind. Das ist der blinde Fleck im weitgehend erneuerten System der Akademievorhaben
5. Leistungsbilanz der Akademievorhaben. Die Expertise durch den Wissenschaftsrat nimmt einer Bilanzierung der Leistungen der Akademievorhaben den Charakter des Selbstlobs. Sie erlaubt, auch Selbstverständliches aufzuzählen. Es sollte bei der Weiterentwicklung der Akademievorhaben in den kommenden Jahren nicht vergessen werden. Denn es geht in allem Vertrauen auf Innovationen immer auch um die Bewahrung des Bewährten, also jener Leistungen, die uns in Stand setzen, überhaupt produktiv zu sein.
Im Akademienprogramm gibt es zwölf deutschsprachige Wörterbücher, darunter den Grimm, das Deutsche Rechtswörterbuch, das Historische Wörterbuch der Philosophie, das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche Wörterbuch. Sie vergegenwärtigen uns allgemeinsprachliche und vorrangige fachsprachliche Bestände unserer Kultur. Wenn auch eine Enzyklopädie des Märchens oder ein Wörterbuch der deutschen Winzersprache darunter ist, führt das zwar gelegentlich zu einem entweder nachsichtigen oder verächtlichen Schmunzeln. Dazu haben aber nur die Biertrinker einen guten Grund, und natürlich jene, die Märchen für bloße Märchen halten.
Sechzehn fremdsprachige Wörterbücher, insbesondere zu den antiken Sprachen, kommen hinzu. Dazu gehören das Altägyptische und das Sanskrit, aber auch das Tibetanische und Altfranzösische. Ferner sind Lexika zu Polybios und Augustinus, also zu den sprachmächtigen Vermittlern zwischen der antiken und der modernen Welt, in Arbeit.
Den größten Block bilden dreiundfünfzig Vorhaben zur Geschichte, zur Archäologie und zur Kunstgeschichte. Sie reichen von den ersten Papyrusfunden über hethitische Keilschrifttexte, die Felsenbilder am Karakorum Highway und die Monumenta Germaniae Historica bis zu der mit modernsten Mitteln arbeitenden Dokumentation der mittelalterlichen Glasmalerei. Ein Flaggschiff der Akademievorhaben ist der sogenannte Census, der alle antiken Kunstwerke, von denen die Renaissance Kenntnis hatte, zu erfassen und zu erschließen sucht. Hier ist man inzwischen genötigt, den Einzugsbereich auf das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit auszuweiten. Schon jetzt widerlegt die umfassende Dokumentation die der Moderne so wichtige Behauptung von einer eindeutig trennenden Epochenschwelle zwischen der Antike und der Gegenwart.
Ferner sind acht Vorhaben zur Inschriften- und Namensforschung sowie an die vierzig Editionen zur Philosophie, Theologie, zu den Literatur- und Sprachwissenschaften zu erwähnen. Aristoteles, Martin Bucer, Leibniz, Kant, Hegel, Marx, Troeltsch und Max Weber gehören dazu. Hinzu kommen Editionen zu den älteren Naturwissenschaften, neunzehn musikwissenschaftliche Projekte, darunter die Gesamtausgaben von Bach, Gluck, Haydn, Mozart, Mendelssohn, Schumann und Wagner bis hin zu Schönberg. Wir hoffen, bald auch mit einer monumentalen Gesamtausgabe des kompositorischen Werks und der brieflichen Hinterlassenschaft von Richard Strauss beginnen zu können.
der Interpretation verbunden ist.demnächst auslaufenden Vorhaben im Grenzbereich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Dazu gehören die Gletscher- und die Talsperren-Forschung, die Weltkarte tektonischer Spannungen oder das Frühwarnsystem für globale Umweltveränderungen. Diese naturwissenschaftlichen Vorhaben werden bis 2015 entweder beendet sein oder sie haben außerhalb des Programms einen anderen Träger gefunden. Ähnliches könnte für die Anné Philologique und die Historischen Jahrbücher gelten, also für die großangelegten, jährlich fortgeführten Fachbibliographien, die man vermutlich so lange braucht, wie die Einzeldisziplinen existieren. Für das Projekt Repertoire Internationale des Sources Musicales und dessen Anteil an der Erschließung der musikalischen Quellen in Deutschland ist inzwischen eine Lösung innerhalb des Akademienprogramms gefunden.
Im Ganzen kommen wir auf 163 Vorhaben mit über zweihundert Arbeitsstellen vornehmlich in der Bundesrepublik. Sie legen im Jahr durchschnittlich 350 Neuerscheinungen in Form von Büchern vor, sind an einschlägigen Sammelbänden und Fachzeitschriften mit Beiträgen beteiligt, legen digitalisierte Dokumentationen an, organisieren internationale Konferenzen und erbringen an den benachbarten Universitäten eine Lehrleistung von 50 Vollprofessuren. Sie werben Drittmittel ein, die durchschnittlich zehn Prozent des ordentlichen Etats überschreiten. Dieser Etat erreicht 2010 erstmals die Grenze von 50 Millionen Euro.
6. Maximaler Ertrag. Die Zahlen geben zu erkennen, dass die Forschungsleistung tatsächlich als imposant bezeichnet werden kann. Nimmt man die Vielfalt der Disziplinen, der Themen und der Standorte, bezieht man die Forschungsdichte ein, bedenkt man die internationale Vernetzung und die mindestens drei Generationen von Gelehrten, die hier zur gleichen Zeit beteiligt sind, kann man nicht umhin, die Arbeit in den Akademievorhaben als eine sich fortsetzende Sensation anzusehen. Hier wird mit vergleichsweise geringen Mitteln ein maximales Ergebnis erzielt.
Die Sensation hat sich, wenn man einmal so sprechen darf, durch die Aufnahme einiger innovativer Neuvorhaben fortgesetzt: Ich erwähne die kritische Neuausgabe des Koran, das in Berlin ansässige Corpus Coranicum, nenne das Heidelberger Projekt über den Zusammenhang von Natur, Technik und Kultur in den frühen Wanderungsbewegungen der Menschheit (The role of culture in the early expansion of humans), das Marburger Projekt zur Entwicklung moderner Regionalsprachen, das Hamburger Vorhaben zum Aufbau eines medial gestützten Wörterbuchs der deutschen Gebärdensprache, das die Öffnung der Akademievorhaben auch für breitere Leserschichten anzeigende Editionsprojekt SAPERE oder das Leipziger Projekt von Dan Diner zur Erforschung der jüdischen Kultur in Europa.
7. Drei Tugenden. Um die grundsätzliche Bedeutung der Vorhaben deutlich zu machen, habe ich 2003 die Formel von der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes in Vorschlag gebracht. Die Formel ist heute allgemein akzeptiert. Sie macht kenntlich, welche gesamtgesellschaftliche Relevanz dem Akademienprogramm zukommt, obgleich sie alles andere als spektakulär genannt werden kann. Aber sie stellt den Vorhaben eine Aufgabe, die für die Wahrung der Kontinuität der menschlichen Kultur grundlegend ist. Dabei ist keineswegs nur an die Kultur in Europa oder gar nur in Deutschland gedacht. Die Akademievorhaben haben zahlreiche Schwerpunkte im Mittelmeerraum und im Vorderen Orient, und sie sind entlang der Seidenstraße bis nach Mittel- und Ostasien ausgedehnt. Durch ihre Kooperationen mit Aktivitäten rund um den Globus arbeiten sie an der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung der Weltkultur.
Erschließung ist der erste Schritt. Er führt zur Entdeckung und Bewertung der Quellen und der Wissensbestände. Dazu braucht man umfassende historische, sprachliche und technische Kenntnisse und ein ausgedehntes Netz wissenschaftlicher Kommunikation. Sicherung bedeutet Dokumentation, Verwahrung, Verwaltung, Veröffentlichung und möglichst dauerhafte Speicherung. Vergegenwärtigung scheint sich von selbst zu verstehen und ist zunächst gänzlich unauffällig. Ein Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission hat mir nach Jahren der Zusammenarbeit eröffnet, ihm sei lange Zeit gar nicht klar gewesen, was der unscheinbare Begriff der »Vergegenwärtigung« alles umfasse. Natürlich denkt man zunächst an Edition und Präsentation, um deren öffentlichkeitswirksame Form die Akademien sich zunehmend bemühen.
Doch es gehört nicht nur die Veranschaulichung und die zeitgemäße Aufbereitung dazu, sondern der ganzen Komplex der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und auch politischen Reflexion. Alles Denken ist Vergegenwärtigung, erst recht das Sprechen, Vortragen und Interpretieren. In der Vergegenwärtigung haben wir allererst zu zeigen, was uns Erkenntnis und Wissen bedeuten. Wir leben jetzt und haben unsere Einsichten in unserer und für unsere Zeit zu gewinnen. Wir haben uns im eigenen Dasein zu orientieren und hoffen auf möglichst verlässliche Erkenntnis für die in unserer Generation zu treffenden Entscheidungen.
Bei der Edition von in ihrem Wert längst erkannten klassischen Texten kann sich das Verhältnis von Erschließung und Sicherung umkehren. Wenn der Rang eines Textes oder eines Autors außer Zweifel steht, lässt sich die basale Aufgabe eines Akademievorhabens auf folgende Weise beschreiben:
Ein Text ist möglichst in seinem ursprünglichen Bestand zu sichern. Er muss so zur Verfügung stehen, wie er niedergeschrieben, gedruckt oder wirksam geworden ist. Dabei helfen uns die elektronischen Medien in einer früher ungeahnten Weise, weil wir durch die bildliche Reproduktion eine ganz andere Anschaulichkeit erzielen, Handschriften genauer lesen und wiedergeben können. Die Digitalisierung erlaubt, eine größere Anzahl von Forschern an der Entzifferung teilhaben zu lassen. Sie bezieht unter Umständen auch den interessierten Laien ein.
In diesem Fall ist die Erschließung, die sich nicht immer klar von der Sicherung trennen lässt, der zweite Schritt. Oft gehen beide Vorgänge Hand in Hand. Gleichwohl muss die Deutung der Sinnzusammenhänge, die Einordnung in historische Kontexte und die Annäherung durch eine oft undurchdringliche Wirkungsgeschichte als methodisch gesonderter Akt angesehen werden. Auch die Indexikalisierung der Texte, ihre Parallelisierung mit vergleichbaren Formaten und die Kommentierung gehören dazu.
Die Vergegenwärtigung schließlich ist nicht mit einer Aktualisierung oder Didaktisierung zu verwechseln. Sie ist im Gegenteil zunächst darauf bezogen den Abstand anzuzeigen, den ein Text zur Gegenwart hat. Das kann durch kleine und kleinste Maßnahmen geschehen. So werden wir bei der Neuausgabe der drei Kritiken Kants »Critik« endlich wieder so schreiben, wie Kant sie geschrieben hat – nämlich mit »C«. Aus dieser in Deutschland bereits jetzt umstrittenen Sicherung wird augenblicklich eine Vergegenwärtigung, wenn sie mit neuen Formen der Präsentation und der Interpretation verbunden ist. Die Vergegenwärtigung, um es kurz zu sagen, macht das kulturelle Erbe in seiner Bedeutung für die eigene Zeit bewusst.
8. Eine exzeptionelle Stellung. Die Deutschen Akademien der Wissenschaften haben sich seit der Gründung der Preußischen Akademie vor mehr als dreihundert Jahren wesentlich als Institutionen der Forschung verstanden. Sie sollten, wie Leibniz es in seiner Gründungsdenkschrift formulierte, die jeweils neuesten Erkenntnisse zusammentragen, prüfen und beraten, um verwertbare Einsichten zu gewinnen, die den Menschen »Nutzen« bringen.
Mit der Gründung der Berliner Universität, die Forschung und Lehre zu verbinden suchte, hat sich diese Zielsetzung noch einmal verstärkt. Die Preußische Akademie wandte sich eigenständigen Forschungsaufgaben zu, die der Erschließung, Sammlung und Auswertung großer Wissensbestände dienten. So entstanden bereits 1815 die Inscriptiones Graecae und wenig später das Corpus Inscriptionum Latinarum.
Diese, wie man erst später zu sagen pflegte: »geisteswissenschaftlichen« Vorhaben wurden sowohl in ihrer institutionellen Organisation als auch in ihrer thematischen Konzentration zum Vorbild für die projektbezogene Forschung in den Wissenschaften überhaupt. Sie wurden von der Physik, der Chemie, der Medizin und von den Technikwissenschaften für ihre Zwecke adaptiert und bildeten die Vorstufe zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der die Max Planck-Gesellschaft hervorgegangen ist.
Wenn es heute heißt, die Akademievorhaben bieten das umfassendste geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm in Deutschland, darf man die Aussage durchaus erweitern: Sie stellen das älteste Programm projektbezogener Forschung dar. Sie wissen dies und sie wissen sich damit ihrer innovativen Tradition verpflichtet. Unter dem Eindruck einer Forschungsplanung, die allein auf Erfolge in kurzen Fristen setzte, ist diese Tatsache eine Weile lang in Vergessenheit geraten. Heute gilt es, diese eminente wissenschaftsgeschichtliche Leistung wieder bewusst zu machen.
9. Akademische Freiheit. Mit dieser Bemerkung bin ich bei der Rolle der Akademien. Sie haben eine solitäre Stellung in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik. Sie sollten davon profitieren, dass sie nicht unter dem gleichen Leistungs- und Zeitdruck stehen wie die anderen Forschungseinrichtungen. Sie sind Orte der Auszeichnung, der bereits erwiesenen Exzellenz, damit auch der Entspannung und der Nachdenklichkeit. In den Akademien haben wir eine einzigartige Ansammlung von Interdisziplinarität. Sie kann wirksam werden, ohne jederzeit ein »Projekt« daraus zu machen.
Doch die Erfahrung zeigt, dass die Akademien durchaus projektfähig sind. Sie können mit ihrem Pfund wuchern, zugleich aber durch Kooperation mit den Universitäten eine auf andere Weise nicht zu gewinnende Ergänzung der Forschungslandschaft darstellen.
Im Bericht für den Wissenschaftsrat hat die Union der Akademien dokumentiert, wie groß der Lehrexport der Akademien in die Hochschulen ist, und dass viele kleine Fächer gar nicht mehr existieren könnten, wenn sie nicht die Akademievorhaben an ihrer Seite hätten.
Was versetzt die Akademien in die Lage, eine solche Leistung zu erbringen? Wie kann man mit etwas mehr als 500 Wissenschaftlern jährlich durchschnittlich 350 Bücher produzieren, mehr als fünfzig Archive komplettieren, Forschungsergebnisse elektronisch sowohl auf neue Weise visualisieren als auch kommunizieren, älteste Schriftstücke konservieren, Spezialisten ausbilden, Feldforschung betreiben, Ausgrabungen organisieren und neben alldem den hohen Aufwand an internationaler Kooperation mit zahlreichen eigenen Kongressen und Symposien bewältigen?
Die Antwort ist einfach: Weil die Akademien mit ihren großen personellen Ressourcen an freiwillig und kostenlos tätigen Wissenschaftlern hinter diesen Projekten stehen! Hier haben wir bereits ein seit langem stattfindendes Großexperiment mit einer kostenneutralen Verlängerung der gesellschaftlichen Arbeit. Die Akademien haben sich der Seniorprofessoren versichert, längst bevor die Universitäten sie für sich entdeckten.
Dazu muss man wissen, dass die Akademiemitglieder keineswegs nur gelegentlich aus Anlass ihrer Festsitzungen zusammenkommen, um sich wechselseitig Vorträge zu halten. Das ist zwar eine wichtige (und dummerweise unterschätzte) Aufgabe. Die Akademien bewahren noch etwas von dem, was den deutschen Universitäten gerade definitiv ausgetrieben wird. In den Akademien gibt es den freien, von Sach- und Sparzwängen entlasteten Diskurs über die großen Probleme der Wissenschaft. Hier hat die moderne Gesellschaft noch einen jener wenigen Freiräume des Fragens und Denkens, die sie braucht, um ihrer Zukunft nicht mit einem auf den Tachometer fixierten Blick entgegen zu rasen. In der institutionalisierten Muße liegt der von allen Programmen und Prioritäten, Kennziffern und Clustern unabhängige Wert der Akademien. Wenn es in Deutschland noch eine wahrhaft frei zu nennende Forschung gibt, dann findet sie in den Akademien statt. Die Rede von der »akademischen Freiheit « gewinnt hier ihren ursprünglichen Sinn zurück.
Gleichwohl zeigt sich im Akademienprogramm die versammelte Exzellenz immer auch von einer anderen Seite: Aus bloßem Erkenntnisinteresse (wenn auch mit dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Leistung) wird von den Akademiemitgliedern ein schier unglaublicher forschungspraktischer Arbeitseinsatz erbracht. Als Projektleiter oder Kommissionsmitglied, als Autor, Editor oder Evaluator investieren sie unzählige Arbeitsstunden in ihre Projekte, ohne dass hierfür auch nur ein Euro zu Buche schlägt.
Dieser Geist des Akademienprogramms teilt sich auch den angestellten Mitarbeitern mit. Wenn man im Evaluationsbericht für den Thesaurus Linguae Graecae (das Homer-Lexikon) liest, dass von den ehemals fünf Mitarbeitern aus Gründen der 1996 beschlossenen Einsparungen für das ganze Programm jetzt nur noch zwei tätig sind, der personelle Verlust aber dadurch kompensiert wird, dass die pensionierten Mitarbeiter unverändert tätig sind, dann ist das kennzeichnend für das Ethos, mit dem hier gearbeitet wird.
10. Kein Sinn ohne Geist. Die Akademievorhaben sind ein Modell für die Forschungsförderung in der Bundesrepublik. Ihre Reorganisation kann man als exemplarisch für eine Reformpolitik ansehen, die nicht vorab das zerstört, was sie verbessern will. Die Akademievorhaben sollen dazu beitragen, das kulturelle Erbe zu bewahren. Mit ihrer primär auf die Geistes- und Kulturwissenschaften ausgerichteten Schwerpunktsetzung schaffen sie zugleich wesentliche Voraussetzungen für einen verständigen Umgang mit den vordringlichen Fragen der Gegenwart. Das lässt sich abschließend nur andeuten:
So schwer es auch fällt, die Lasten der deutschen Vergangenheit zu tragen: Wir können es weder in der Sache noch in der Verantwortung gegenüber dem eigenen Dasein hinnehmen, dass mit dem Schuldvorwurf alles entwertet wird. Auch wenn viele Individuen zu ihrer Zeit versagt haben, auch wenn ihnen das durch die Eigenart einer Institution erleichtert worden ist, die nicht auf politische Diskurse eingestellt war (aber es in verhängnisvoll kurzer Zeit gelernt hat), haben wir keinen Grund, die Institutionen und ihre Ziele generell zu verwerfen.
Es würde zu weit führen, dies für die Politik und für die Universitäten insgesamt zu formulieren. Deshalb beschränke ich mich auf eine Schlussfolgerung für die Geisteswissenschaften, den Kernbereich der Akademievorhaben:
Nachdem die Rankings und die Exzellenzinitiative die Geisteswissenschaften allein nach der Elle der Naturwissenschaften messen, ist nichts vordringlicher als ein Neuanfang, der die Sache der Geisteswissenschaften, ganz unabhängig von ihrem Namen, rettet. Andernfalls besteht Gefahr, dass wir gerade in jenen Wissenschaften bedeutungslos werden, in denen uns andere Völker und Kulturen bewundern. Noch kommen die Nord- und Südamerikaner, die Japaner, Koreaner, Inder und eine wachsende Zahl von Chinesen nach Deutschland, um hier die Alten Sprachen, Kunstgeschichte, Literatur, Musik, Theologie oder Philosophie zu studieren. Wenn wir aber die zuständigen Disziplinen weiter schwächen, wird es auch damit bald ein Ende haben. Schon jetzt gibt es in China mehr Professoren, die sich mit der deutschen Philosophie befassen, als in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen.
Die Intensivierung der Forschung und der Lehre in den Bereichen von Geschichte, Sprache, Kunst und Kultur ist daher das erste Erfordernis. Vielleicht aber hilft es auch, das überkommene Selbstverständnis zu korrigieren und die Nähe der klassischen Themen des Geistes zu den Fragen des Lebens und der Natur zu exponieren. Hierzu könnte es hilfreich sein, wenn die Geisteswissenschaften auf ihren methodologischen Hoheitsanspruch über den Zugang zu den Gebieten der Seele, der Gesellschaft und der Kultur verzichten. Sie sind Wissenschaften wie alle anderen auch, und sie sollten die Verfahren nutzen, die ihren komplexen Gegenständen angemessen sind. Sie sind keineswegs bloß auf das Verstehen ausgerichtet, haben weitreichende empirische Interessen und benötigen die Kenntnisse von Ursachen und Wirkungen. Ihre Überlegenheit besteht darin, dass sie, anders als Biologen und Psychologen, zugeben können, auch auf die Erkenntnis von Intentionen, Motiven und Zwecken angewiesen zu sein und dass sie Kontexte beachten, die über die bloße Umwelt hinausgehen.
Dadurch sind sie in der Lage, auch die Themen und Probleme zu bearbeiten, deren Bedeutung mit dem Anstieg des zivilisatorischen Aufwands täglich wächst: Die Fragen der Erziehung, der rechtlichen Ordnung, der sozialen Gerechtigkeit, des Vergleichs der Kulturen, der weltweiten Verständigung und der Sicherung des Friedens liegen auf der Hand. Hinzu kommt, dass man selbst in Ökonomie, Technik und Medizin nicht nur deshalb immer mehr über einzelne Vorgänge wissen muss, weil die sachlichen Anforderungen exponentiell steigen, sondern weil sie »akzeptabel« gemacht werden müssen. Der gestiegene Konsensbedarf in den komplexen Gesellschaften und das mit den Traditionsverlusten ansteigende Verlangen nach neuen Konventionen stellen vor allem Anforderungen an die geisteswissenschaftliche Kompetenz.
Es sind somit nicht nur die Grundlagen- und Begründungsfragen, sondern auch die Probleme der Anwendung, die einen ständig wachsenden intellektuellen Aufwand verlangen. Das belegen die Anstrengungen, den Klimawandel zu verlangsamen, die Migration in zivilisatorische Bahnen zu lenken oder das Wachstum der Metropolen zu steuern – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die besten technischen Errungenschaften und selbst intelligente institutionelle Innovationen helfen wenig, wenn sie von den Menschen nicht angenommen werden. Hier, wie in allen anderen Fällen, tritt auf unübersehbare Weise hervor, dass wir eine genauere Kenntnis des Menschen und seiner Lebenslagen benötigen. Und mit jeder Erfindung, mit jeder hinzukommenden Einsicht, mit jeder »Entschlüsselung« der »Codes« von Leben und Kultur wird deutlicher, wie viel mehr der Mensch tun muss, um nicht nur klug, sondern auch verantwortlich mit seinem Wissen umzugehen. Dazu braucht er eine breite Kenntnis der Geschichte, der gesellschaftlichen Strukturen, der psychischen Anlagen, der ästhetischen und religiösen Erwartungen sowie, abkürzend gesagt, seiner Ansprüche an sich selbst.
Alles ist nichts ohne den Sinn, den wir darin zu erkennen vermögen. Um diesen Sinn so zu erhellen, dass wir auch hier von einer Erkenntnis sprechen können, die uns, trotz des ansteigenden Wissens, die Disposition über uns selbst erlaubt, brauchen wir die Wissenschaften, die sich in den Akademievorhaben so effektvoll präsentieren.
- 1Der vorliegende Text ist die aktualisierte Fassung eines Vortrags, den der Autor am 16. Januar 2009 auf Einladung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig gehalten hat.