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Der Historische Atlas1 in der Praxis: Beispiele für orts- und regionalgeschichtliche Anwendungen

»Der Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen will als Arbeitsmaterial für Wissenschaft und Unterricht dienen.«2 Damit ist nicht allein die Darstellung des derzeitigen Forschungsstandes zur sächsischen Landesgeschichte in kartographischer Form gemeint. Vielmehr soll die Aufbereitung der einzelnen Themen dem Landeshistoriker neue Sichtweisen auf Ereignisse und Entwicklungen und durch Vergleich und Zusammenschau neue Erkenntnisse und Forschungsimpulse ermöglichen. Nicht minder wichtig ist, dass neben der wissenschaftlichen Forschung zugleich Heimatforscher und Ortschronisten Materialien und Anregungen finden, ja überhaupt eine breite interessierte Öffentlichkeit angesprochen und in ihrem Geschichtsbewusstsein gestärkt wird. Wie weit diese ehrgeizigen Ziele erfüllbar sind, soll an einem ausgewählten Beispiel gezeigt werden.

Bis heute sind bereits 37 von 120 Einzelkarten veröffentlicht. Der vorliegende Beitrag zeigt einige Nutzungsmöglichkeiten des Kartenwerkes anhand von orts- und regional-geschichtlichen Beispielen. Allein für die Beschäftigung mit einem einzelnen Ort oder einer einzelnen Region Sachsens hat der Atlas einiges zu bieten.

Die ausgewählte Stadt Zwönitz liegt im Westerzgebirge (Abb. 1) – eine Region, die aus landesgeschichtlicher Sicht nicht eben zu den Schwerpunktgebieten des Forschungsinteresses gehört.

Zwönitz feiert im Jahr 2010 sein 850-jähriges Jubiläum. Aus Anlass des Jubiläums soll eine fundierte stadtgeschichtliche Darstellung erarbeitet werden. Die Notwendigkeit dazu besteht seit Langem, doch sind zuverlässige Vorarbeiten kaum vorhanden.3 Man kommt folglich nicht umhin, ein intensives Quellenstudium zu betreiben und regionalbezogene und landesgeschichtliche Literatur vergleichend heranzuziehen. Welche Hilfestellung kann hierbei nun der Historische Atlas bieten?

Abbildung 1: Das Westerzgebirge auf der Karte A 6, Physiogeographische Übersicht (Naturräume) von Günther Schönfelder, verkleinerter Ausschnitt. Abbildung 1: Das Westerzgebirge auf der Karte A 6, Physiogeographische Übersicht (Naturräume) von Günther Schönfelder, verkleinerter Ausschnitt.

Nehmen wir an, der Historiker wird sich im Rahmen seiner Forschungen zuerst der Besiedlungsgeschichte widmen. Er wird also eine Fülle von Literatur unterschiedlichster Qualität zur Besiedlung des Erzgebirges sichten und durcharbeiten, aber auch auf schriftliche und – für die Besiedlungsgeschichte besonders wichtig – nichtschriftliche Quellen zurückgreifen müssen. Da sein Untersuchungsgebiet im Spätmittelalter aus sieben verschiedenen Siedlungen bestand, muss er für sieben Orte die Orts- und Flurformen bestimmen, Orts-, Flur- und Gewässernamen analysieren, Altstraßenverläufe rekonstruieren, evtl. spätmittelalterliche Burg- und Herrensitze identifizieren usw., um daraus seine Schlüsse zu ziehen.

Ohne den Historischen Atlas wäre das gewiss möglich, aber mit einem enormen Aufwand an Lese- und Nachschlagearbeit verbunden. So aber genügt der Blick auf die Karte, um sofort die wesentlichen Sachverhalte der Besiedlungsgeschichte zu erfassen. Die schnelle und flächendeckende Informationsvermittlung der Karte B II 3 (Flurformen)4 (Abb. 2) ermöglicht es, Zwönitz und seine Dörfer dem Waldhufentypus zuzuordnen, die Karten G II 1 (Ortsnamen) (Abb. 3) und G II 4 (Historische Gewässernamenschichten) weisen das Untersuchungsgebiet als mit slawisch-deutschen Mischnamen durchsetztes Gebiet der spätmittelalterlichen deutschen Siedlungsepoche aus, wobei Namen wie Zwönitz, Niederzwönitz und Dorfchemnitz von slawischen Gewässernamen abgeleitet sind. Weitere Beispiele ließen sich anführen.

Abbildung 2: Ausschnitt aus der Karte B II 3, Flurformen (Karlheinz Blaschke). Legende: rot – Blockflur, orange – Block- und Streifenflur, grün – Gelängeflur, blau/türkis – Waldhufenflur, violett – Parzellenflur, braun – Gutsblockflur. Abbildung 2: Ausschnitt aus der Karte B II 3, Flurformen (Karlheinz Blaschke). Legende: rot – Blockflur, orange – Block- und Streifenflur, grün – Gelängeflur, blau/türkis – Waldhufenflur, violett – Parzellenflur, braun – Gutsblockflur.
Abbildung 3: Ausschnitt aus der Karte G II 1, Ortsnamen (Siedlungs- und Wüstungsnamen) (Hans Walther). Legende: roter Punkt – Ortsname slawischer Herkunft, grüner Punkt – Mittelalterlich-deutscher Ortsname, blauer Punkt – Neuzeitlicher deutscher Ortsname, violettes Dreieck – Von Deutschen als Siedlungsname übernommener slawischer oder vorslawischer Fluss-, Flur- oder anderer Geländename, violettes Rechteck – Zwillingsname. Abbildung 3: Ausschnitt aus der Karte G II 1, Ortsnamen (Siedlungs- und Wüstungsnamen) (Hans Walther). Legende: roter Punkt – Ortsname slawischer Herkunft, grüner Punkt – Mittelalterlich-deutscher Ortsname, blauer Punkt – Neuzeitlicher deutscher Ortsname, violettes Dreieck – Von Deutschen als Siedlungsname übernommener slawischer oder vorslawischer Fluss-, Flur- oder anderer Geländename, violettes Rechteck – Zwillingsname.

Doch die punktuelle Erkenntnis ist nur das eine. Noch wertvoller wird die Beschäftigung mit den einschlägigen Atlaskarten durch die Möglichkeit, die Gesamtentwicklung im sächsischen Raum zu überschauen und das Untersuchungsgebiet in diese Entwicklung einzuordnen.

Die Karte B II 3 (Flurformen, siehe Abb. 2) enthält zu allen sächsischen Ortschaften über 6000 Einzelangaben, aus denen wir für Zwönitz und Umgebung die Waldhufenflur bereits ermittelt hatten. Zugleich verdeutlicht diese Karte aber auch, dass dem System der Flurformen eine zeitliche Abfolge innewohnt, die dem geschulten Kartenleser die Grundkennzeichen der Besiedlung in zeitlicher und räumlicher Dimension nahebringt.

Slawische Blockfluren (rot) entstanden früher als die deutschen Gewannund Gelängefluren (gelb/grün) der relativ ebenen nord- und mittelsächsischen Gebiete. Diese wiederum sind älter als die Waldhufen (blau) des Gebirges, wo reliefbedingt neue Erschließungsformen des Berglandes gefunden werden mussten. Noch später sind die Parzellenfluren (violett) als Ausdruck der Nachbesiedlung insbesondere der Höhenlagen des Gebirges auf engstem Raum seit dem 16. Jahrhundert anzusetzen.5

Durch die Flächenfärbung wird das Auge des Betrachters von rot über gelb – grün – blau zu violett den Besiedlungsverlauf entlanggeführt. Er kann sein Untersuchungsgebiet in diese relative Chronologie einordnen und z.B. erkennen, dass die Ausgangsbasis der Besiedlung des Westerzgebirges das Muldental sein musste, da hier die älteren Flurformen vorliegen. Ergänzt man diese Kartenaussage nun mit den Erkenntnissen der Altstraßenforschung, die mehrere Straßenverläufe von der Mulde bis zum Erzgebirgsraum rekonstruiert hat,6 so wird die Bewegungsrichtung der Siedler grob von Nordwest nach Südost deutlich.

Wenn die ältere Literatur gelegentlich Zwönitz als slawische Siedlung gekennzeichnet hat, so ist dies deutlich abzulehnen. Wie ein Studium der Atlaskarten B II 2 (Ortsformen), B II 3 (Flurformen), G II 1 (Ortsnamen) und G II 4 (Gewässernamen) zeigt, lassen sich Orts- und Flurformen eindeutig der deutschen Besiedlung zuordnen. Der slawische Ortsname »Zwönitz« schließlich wird in der Karte G II 4 (Gewässernamen) überzeugend (und wiederum im flächendeckenden Kontext) als vom gleichlautenden slawischen Fließgewässernamen abgeleitet erklärt.

Dabei ist die Karte B II 3 (Flurformen) nur ein Baustein für die Darstellung der komplexen Besiedlungsgeschichte. Eine weitere Ebene des Siedelvorgangs eröffnen die Karten B II 1 (Herrschaftliche Güter) und B II 4 (Hoch- und spätmittelalterliche Burgen) (Abb. 4). Ausgehend vom baulich-archäologischen Befund bzw. der Stellung im Herrschafts- und Wirtschaftgefüge ergänzen beide Karten die bisher betrachtete bäuerliche Besiedlung um den Beitrag des Adels. Auch diesen muss eine Stadtgeschichte berücksichtigen, selbst wenn in Zwönitz eine spätmittelalterliche Burg nicht vorhanden war. Aber die Karten machen doch deutlich, welche Konzentrationspunkte des Feudalsystems für die Ortsgeschichte von entscheidendem Einfluss gewesen sein müssen.

Die kartographische Darstellung ermöglicht dem Historiker zu beurteilen, in welche Richtung weitere Forschungen lohnenswert sein könnten. So wird eine Beschäftigung mit Zwönitzer Geschichte stets die Burg Stollberg und das mit ihr in Verbindung stehende Rittergut Niederzwönitz, aber auch die Burg Hartenstein in den Blick nehmen müssen. Gerade die Burgenkarte mit ihrem funktionalen Zusammenhang zwischen Burgenbau, Besiedlung und Herrschaftsverwirklichung des Adels7 ist dazu geeignet, einen Deutungsrahmen für die Ortsgeschichte vorzugeben, den eine sich in Einzelheiten oft verzettelnde Sekundärliteratur in dieser Klarheit nicht bieten kann.

Abbildung 4: Ausschnitt aus der Karte B II 4, Hoch- und spätmittelalterliche Burgen (Gerhard Billig). Legende: Farben = Entstehungszeit: blau – bis 1200, rot – 1201–1250, orange – 1251–1300, grün – 1301–1500; Form = Art der Anlage: Kreis – Niederungsburg, Dreieck – Höhenburg, Ecke – besondere Burganlage (z. B. Felsenburg); Symbolgröße = Bedeutung in der Entstehungszeit. Abbildung 4: Ausschnitt aus der Karte B II 4, Hoch- und spätmittelalterliche Burgen (Gerhard Billig). Legende: Farben = Entstehungszeit: blau – bis 1200, rot – 1201–1250, orange – 1251–1300, grün – 1301–1500; Form = Art der Anlage: Kreis – Niederungsburg, Dreieck – Höhenburg, Ecke – besondere Burganlage (z. B. Felsenburg); Symbolgröße = Bedeutung in der Entstehungszeit.

Freilich wird man anhand der bisher vorgestellten Karten nicht die Hauptstreitfrage der Zwönitzer Frühgeschichte entscheiden können. Diese dreht sich um die ursprüngliche Herrschaftszugehörigkeit des Ortes. Für das späte 13. Jahrhundert ist diese Zugehörigkeit geklärt. Zwönitz und das heute eingemeindete Nachbardorf Kühnhaide befanden sich damals in Besitz des 1231/35 gegründeten Zisterzienserklosters Grünhain.8 Aber was war zuvor? Gehörten beide Orte, wie die übrigen hier interessierenden Dörfer zur Herrschaft Stollberg? Oder waren sie der Grafschaft Hartenstein einverleibt?

In der Literatur wird der Verfasser einer Stadtgeschichte auf Argumente für beide Varianten stoßen. Selbst eine Zuhilfenahme des Historischen Atlas wird die Ausgangsfrage vielleicht nicht zweifelsfrei klären. Und dennoch gibt es Atlaskarten, die dazu geeignet sind, bestimmte Argumente zu erhärten und andere zu verwerfen. Eine solche Karte ist beispielsweise das Blatt E II 1 (Kirchenorganisation um 1500) (Abb. 5).

Abbildung 5: Ausschnitt aus der Karte E II 1, Kirchenorganisation um 1500 (Karlheinz Blaschke und Manfred Kobuch). Legende: Farbflächen = Diözesen (Archidiakonate): grün – Bistum Meißen (Archid. Chemnitz; angeschnitten rechts oben: Archid. Dompropstei und Archid. Zschillen), braun – Bistum Naumburg (Archid. Muldenland; angeschnitten links unten: Archid. Proptei Zeitz und links: Archid. Pleißenland). Abbildung 5: Ausschnitt aus der Karte E II 1, Kirchenorganisation um 1500 (Karlheinz Blaschke und Manfred Kobuch). Legende: Farbflächen = Diözesen (Archidiakonate): grün – Bistum Meißen (Archid. Chemnitz; angeschnitten rechts oben: Archid. Dompropstei und Archid. Zschillen), braun – Bistum Naumburg (Archid. Muldenland; angeschnitten links unten: Archid. Proptei Zeitz und links: Archid. Pleißenland).

Der eigentliche Zweck dieser Karte besteht darin, den Beitrag der Kirche zur Erschließung des Landes östlich der Saale deutlich zu machen.9 Indem sie das tut, vervollständigt sie das Bild der Siedlungsgeschichte weiter. Denn obwohl die Karte auf Quellen aus der Zeit um 1500 beruht, gestattet doch das Beharrungsvermögen der mittelalterlichen Kirchenorganisation, weitere Informationen über Siedlungs- und Herrschaftsbildungsprozesse aus der Karte zu gewinnen. Aufgrund ihrer Beständigkeit bezeichnet Karlheinz Blaschke die mittelalterliche Kirchenorganisation als »eine Geschichtsquelle ersten Ranges«.10 Im Vergleich mit anderen Karten wird eine Parallelität in der Entwicklung von Siedlungen und Kirchenorganisation deutlich, die für unser Beispiel zum Tragen kommt:

Der Blick auf die Karte zeigt, dass mitten durch das heutige Stadtgebiet von Zwönitz die Grenze zwischen den Bistümern Naumburg und Meißen verlief. Während Zwönitz naumburgisch war, gehörte Niederzwönitz zum Bistum Meißen. Unter der Voraussetzung, dass diese bedeutende kirchliche Grenze mit weltlichen Grenzen im Untersuchungsgebiet zusammenhängt, hilft die Kartenaussage, die Ausgangsfrage zu beantworten. Alle Orte der Herrschaft Stollberg liegen hier im Bistum Meißen, alle Orte der Grafschaft Hartenstein dagegen im Bistum Naumburg. Da auch Zwönitz kirchlich gesehen naumburgisch war, spricht einiges für die Zuordnung zur Grafschaft Hartenstein.

Jenseits der Indizien auf die ursprüngliche Herrschaftszugehörigkeit vermittelt die Karte selbstverständlich auch wertvolle Einblicke in das Verhältnis zwischen Ort und Kirche, wie in die kirchliche Raumordnung überhaupt. Pfarrkirchen, Filialkirchen und eingepfarrte Orte des Untersuchungsgebiets können auf einen Blick identifiziert werden und geben Ansatzpunkte für weitere kirchengeschichtliche Forschungen und Quellenarbeit.

Die erwähnte politische und kirchliche Grenze, die das heutige Zwönitzer Stadtgebiet durchlief, spielt auch in anderen Epochen der Ortsgeschichte und demzufolge auch an anderen Stellen des Atlaswerkes erneut eine wesentliche Rolle. Bei der sogenannten Leipziger Teilung der wettinischen Länder 1485 gelangte Zwönitz an die Ernestiner, während Niederzwönitz albertinisch wurde. Dies wiederum bedeutete ganz unterschiedliche historische Entwicklungen,dung 7: Ausschnitt aus der Karte B II 6, Das Stion anlangt.

Der Historiker, der sich mit Zwönitzer Stadtgeschichte im Reformationszeitalter beschäftigen will, kann jedoch nicht nur die unterschiedlichen Zugehörigkeiten der einzelnen Orte zu den wettinischen Landesteilen ablesen. Er erhält mit ihnen gleichzeitig einen schnellen Hinweis darauf, wie er für jeden einzelnen Ort sein Quellenstudium zu organisieren hat. Da er Kenntnis von dem im deutschen Archivwesen geltenden Provenienzprinzip besitzt, weiß er, dass einschlägige Überlieferungen zwischen 1485 und 1547/48 für das ernestinische Zwönitz im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar einzusehen sind, während er für das albertinische Niederzwönitz für den Betrachtungszeitraum an das Sächsische Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden oder das Staatsarchiv Chemnitz gewiesen ist.

Zur Stadtgeschichte gehört neben der Besiedlungs- und Reformationsgeschichte auch die Verfassungs-, Verwaltungs- und Territorialgeschichte. Eine ganz wichtige Karte in diesem Zusammenhang ist die Karte C III 5 (Das Kurfürstentum Sachsen am Ende des Alten Reiches 1790). Sie gibt eine Grundtatsache der sächsischen Geschichte wieder, die jeder Landeshistoriker beachten muss, egal, mit welcher Materie er sich beschäftigt. Über Jahrhunderte war Sachsen nämlich kein Einheitsstaat, sondern teilte sich in Territorien mit ganz unterschiedlichen Verfassungen auf. Die Karte ermöglicht einen schnellen Zugang zu dieser komplizierten territorialen Gliederung, die anhand der Flächenfärbung leicht überschaubar wird. So erhielten beispielsweise die sächsischen Erblande, seit dem Mittelalter Kern und uneingeschränkter Machtbereich der wettinischen Herrschaft, rote Farbtöne. Alle Standesherrschaften erscheinen braun, alle geistlichen Gebiete oder Stifter violett usw.

Es lässt sich dann das Stadtgebiet selbst (Abb. 6) anhand der kartographischen Darstellung auf unterschiedliche Besitz- und Verfassungsverhältnisse hin untersuchen. Unter Zuhilfenahme der Karte C III 6 (Schönburgische Herrschaften), die aufgrund ihres größeren Maßstabs regionale Details besser veranschaulichen kann, ist festzustellen, dass Zwönitz in einem Gebiet mit außerordentlich starker Besitzzersplitterung lag. Der größere Teil gehörte zu den sächsischen Erblanden (rot), während der kleinere Teil, namentlich die Hälfte des Dorfes Lenkersdorf, Bestandteil der Schönburgischen Herrschaften (grün) war.

Allerdings stößt die Karte hier auch an ihre Grenzen. Sie liefert eine Momentaufnahme, den Zustand Sachsens um 1790. Zeitliche Abläufe und Veränderungen im Territorialgefüge müssen unberücksichtigt bleiben. Andere Karten können frühere oder spätere zeitliche Querschnitte bieten und so vergleichend herangezogen werden. Doch ist es territorialgeschichtlichen Karten eben immer nur bedingt möglich, wandelbare Sachverhalte abzubilden.

Abbildung 6: Ausschnitt aus der Karte C III 5, Das Kurfürstentum Sachsen am Ende des Alten Reiches 1790 (Karlheinz Blaschke). Legende – Farbflächen: magenta – Erzgebirgischer Kreis, orange – Vogtländischer Kreis, braun – Schönburgische Lehnsherrschaften, grün – Schönburgische Rezeßherrschaften. Abbildung 6: Ausschnitt aus der Karte C III 5, Das Kurfürstentum Sachsen am Ende des Alten Reiches 1790 (Karlheinz Blaschke). Legende – Farbflächen: magenta – Erzgebirgischer Kreis, orange – Vogtländischer Kreis, braun – Schönburgische Lehnsherrschaften, grün – Schönburgische Rezeßherrschaften.

Abhilfe schaffen die erläuternden Beihefte, die jeder Atlaskarte beigegeben sind. Hier ist der Raum, eine begleitende Interpretation der Karte zu gewährleisten, aber auch Hintergrund- und Zusatzinformationen bereitzustellen, die das Kartenbild allein nicht geben kann.

Das Beiheft zur Karte C III 6 (Schönburgische Herrschaften) beispielsweise, mit 48 Seiten zu den mittelgroßen Beiheften gehörig, bietet ein Kompendium der schönburgischen Geschichte vom 12. Jahrhundert bis 1945, das von der Familiengeschichte über Herrschafts-, Territorial- und Verfassungsgeschichte bis hin zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte oder auch zur Kirchengeschichte reicht. Wie in jedem anderen Beiheft auch wird auf die Quellen eingegangen, die der kartographischen Arbeit zugrunde lagen und ein Überblick über die bisher erschienene Forschungsliteratur gegeben. Und es wird – wie schon angedeutet – all das ergänzend ausgeführt, was die Karte nicht abbilden kann, etwa dass die Stadt Glauchau zu 4/9 der Herrschaft Forderglauchau und zu 5/9 der Herrschaft Hinterglauchau angehörte, oder die kleinen Orte des schönburgisch-sächsischen, schönburgisch-wildenfelsischen oder schönburgisch-altenburgischen Grenzraumes bis zu sieben verschiedene Obrigkeiten hatten.

In Verbindung mit den Karten stellen die Beihefte einen unschätzbaren Fundus komprimierten Wissens zur sächsischen Landesgeschichte dar und es ist ausdrücklich zu betonen, dass die Redaktionskommission qualitativ hochwertige Beihefte von vornherein als integralen Bestandteil des Atlaswerkes gesehen hat.

Doch damit zurück zu unserem Beispielfall. Der Zwönitzer Stadtgeschichtsforscher hat anhand des Kartenbildes die unterschiedlichen Besitz- und Verfassungsverhältnisse der einzelnen Ortsteile ermittelt und kann unter diesen Voraussetzungen nun an die weitergehende, ja, die eigentliche Forschungsarbeit gehen. Die Fragestellungen sind ihm von der Karte quasi vorgegeben. Er wird nach den Unterschieden im öffentlichen Lebensvollzug diesseits und jenseits der schönburgisch-sächsischen Grenze zu fragen haben. Gab es prägende Andersartigkeiten, die je eigene Identitäten schufen? Welche Auswirkungen hatte es, dass schönburgische und sächsische Untertanen in je andersartige Verwaltungshierarchien eingebunden waren, andere Maße und Gewichte verwendeten, eine je eigene Feiertagskultur pflegten, bis 1883 aus unterschiedlichen Kirchengesangsbüchern sangen oder völlig anderen Abgabesystemen unterworfen waren? Welche sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Schlüsse sind aus der zoll- und abgabepolitischen Sonderstellung der Schönburgischen Herrschaften zu ziehen, durch die ein schönburgischer Handwerker ca 20–30 % billiger produzieren konnte als sein sächsischer Konkurrent? Wie und in welchen zeitlichen Dimensionen verlief der Prozess der Angleichung und des Zusammenwachsens der bis ins 19. Jahrhundert so unterschiedlichen Ortschaften zur heutigen Stadt Zwönitz? Welchen exemplarischen Wert hat der ermittelte Verlauf im Vereinheitlichungsprozess des sächsischen Staatsgebietes insgesamt?11

Derartige Fragestellungen versprechen eine spannende orts- und regionalgeschichtliche Darstellung mit erheblichem Erkenntnisgewinn. Indem gerade aus der Beschäftigung mit der Karte diese und ähnliche Fragestellungen erwachsen, erreicht der Historische Atlas eines seiner eingangs erwähnten Hauptziele, nämlich zu weiteren Forschungen und neuen Erkenntnissen anzuregen. Wenn dann Einzelergebnisse aus verschiedenen Orten, Regionen oder Landesteilen vorliegen, kann dies wiederum vergleichenden Forschungen Anschub geben.

Hier ist etwa an die vergleichende Stadtgeschichtsforschung zu denken, die ja ebenfalls Anteil an dem angerissenen Themenbereich der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte hat. Zwönitzer Stadtgeschichte, wenn sie den gesamtsächsischen Kontext beachten will, muss die Ergebnisse der bisherigen Forschungen zum sächsischen Städtewesen aufnehmen und weiterführen, etwa unter Berücksichtigung der Karte B II 6 des Historischen Atlas (Abb. 7).

icken Sie um zu Endnote 8 zu gelangen.">8</a>Vgas Städtewesen vom 12. bis zum 19. Jahrhundert (Karlheinz Blaschke). Dargestellt sind u. a. Zustand und Verfassungsverhältnisse städtischer Siedlungen bis 1550, die Entstehungszeit von Städten, Gebiete unter der Grundherrschaft eines städtischen Rates, Einwohnerzahlen, städtische Siedlungen bis 1834, der Stand der Selbstverwaltung im 16. Jahrhundert und die Landtagszugehörigkeit 1792. icken Sie um zu Endnote 8 zu gelangen.">8</a>Vgas Städtewesen vom 12. bis zum 19. Jahrhundert (Karlheinz Blaschke). Dargestellt sind u. a. Zustand und Verfassungsverhältnisse städtischer Siedlungen bis 1550, die Entstehungszeit von Städten, Gebiete unter der Grundherrschaft eines städtischen Rates, Einwohnerzahlen, städtische Siedlungen bis 1834, der Stand der Selbstverwaltung im 16. Jahrhundert und die Landtagszugehörigkeit 1792.

Diese Karte ermöglicht den Zugang zum Städtewesen Sachsens in dem bemerkenswerten Zeitraum vom 12. bis zum 19. Jahrhundert. In der Karte werden alle wesentlichen Merkmale des städtischen Wesens dargestellt, die sich aus der Kenntnis der sächsischen Stadtgeschichte zusammentragen lassen. So kann für jede Stadt ihre Entstehungszeit, Größe, Bevölkerungsentwicklung oder Rechtsqualität ermittelt werden. Darüber hinaus ist ablesbar, ob eine Stadt landtagsfähig war oder nicht, wie es um ihre Wehrhaftigkeit, sprich Ummauerung, bestellt war oder welche Formen der Gerichtsbarkeit sie ausübte. Aber auch ihre territoriale Einbindung, etwa ins Netz der alten Fernhandelsstraßen oder ihre Lage in einem bedeutenden Bergbaurevier werden deutlich.12 Das Beispiel ergibt, dass das ursprünglich bäuerlich besiedelte Zwönitz um 1475 unter dem Grünhainer Klosterabt Johannes Funck zum Bergstädtlein geworden ist. Dem entspricht in der Karte die Färbung orange für den Entstehungszeitraum und das auf die Spitze gestellte Quadrat als Signatur für den Zustand als Städtlein.

Da viele benachbarte Städte ganz ähnliche Merkmale aufweisen, kommt der Kartenleser rasch dem größeren Zusammenhang auf die Spur, in dem sich die Zwönitzer Stadtwerdung vollzog. Sie fällt in die Phase des Aufschwungs des erzgebirgischen Bergbaus, in der im Westerzgebirge völlig neue Städtelandschaften mit dicht gedrängten Bergstädten entstanden. Für sie waren nicht mehr wie für die mittelalterlichen Städte die Verläufe der Fernstraßen, son- dern die Standortbedingungen der Erzlagerstätten ausschlaggebend. Dass diese Standortbedingungen bedeutend ungünstiger als in Schneeberg, Annaberg oder Marienberg waren, machen Vergleiche mit der weiteren qualitativen und quantitativen Entwicklung der genannten Städte deutlich. Zwönitz blieb ein Städtlein minderen Ranges, ohne je den Grad der städtischen Selbstverwaltung oder die Entfaltungsmöglichkeiten sowohl der älteren, an Fernstraßen entstandenen Städte als auch der jüngeren Bergstädte zu erreichen.

Solche Vergleiche, Einordnungen oder gar Typisierungen können aus dem ortsbezogenen Quellenmaterial nicht unmittelbar abgeleitet werden. Dazu ist ein Historischer Atlas praktisch unentbehrlich. Mit seiner Hilfe können für den Einzelfall weitere landschaftliche Besonderheiten aufgedeckt sowie Langzeitentwicklungen besser überschaut werden. Die zu schreibende Zwönitzer Stadtgeschichte wird unter Zuhilfenahme weiterer Karten, insbesondere zu wirtschaftlichen Themen und zum Bergbau, Zusammenhänge zwischen Stadtentwicklung, Bevölkerungsgang und Wirtschaftspotential herstellen können. Aber auch die politische Bedeutung und Stellung darf nicht außer Acht gelassen werden. Deshalb ist es besonders erfreulich, dass auch das Merkmal der Landtagsfähigkeit in die Kartendarstellung aufgenommen worden ist.

Die Landtagsfähigkeit berührt die Frage nach Mitwirkung und Einflussmöglichkeiten der Städte auf den sächsischen Landtagen. Nun sind für das wenig bedeutende, aber doch landtagsfähige Zwönitz gewiss keine bahnbrechenden Erkenntnisse zu erwarten. Doch scheinen mir solche Fragen in Bezug auf verschiedene Städte und Städtegruppen insgesamt ein größeres Forschungsinteresse zu verdienen, als das bislang der Fall gewesen ist. Die Atlaskarte erfüllt also eine weitere wichtige Funktion, nämlich Forschungslücken erkennbar zu machen.

Die Karten D IV 2 (Reichstagswahlen 1871–1912) und D IV 3 (Landtagswahlen 1869–1896) können helfen, die für Zwönitz ermittelten Einzelwahlergebnisse in den Zusammenhang einzuordnen, eventuelle Auffälligkeiten und Sonderentwicklungen zu erkennen und Rückschlüsse auf soziale Strukturen, politische Prägungen usw. in der Stadt zu ziehen. Die Beschäftigung mit der Karte D IV 6 (Kriegshandlungen und Besetzung 1945) verdeutlicht z. B., was es mit der unbesetzten Zone um Schwarzenberg auf sich hat. Und nicht zuletzt vermögen die Karten der Sachgruppe A die so wichtigen Zusammenhänge mit den naturräumlichen Bedingungen, unter denen sich Geschichte vollzieht, zu erhellen.

Was die Anwendbarkeit des Historischen Atlas auf verschiedene Fragestellungen der aktuellen Landesgeschichtsforschung angeht, so mag dieser Beitrag zumindest ansatzweise gezeigt zu haben, welches Potenzial in dem Kartenwerk steckt. Nach intensiven Vorarbeiten sind schon mindestens 80 weitere Kartenblätter geplant. Allein die Auflistung der Titel und Themenbereiche lässt die thematische Breite und Vielfalt erkennen: »Mittelalterliche Wüstungen«, »Verstädterung und Eisenbahnen«, »Reformation in Mitteldeutschland«, »Gewerbe und Manufakturen um 1800« oder »Bodenreform 1945/46«. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Mauerfalls ist die Sonderkarte »Friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen« soeben erschienen.

  1. 1Die Bezeichnungen »Historischer Atlas« und »Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen« werden nachfolgend synonym verwendet. Zu den Ursprüngen dieses doppelten Sprachgebrauchs vgl. den vorstehenden Beitrag von Jana Moser.
  2. 2Jana Moser, »Der Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. Voraussetzungen und Ziele«, inSächsische Heimatblätter 1/2006, S. 4–7, hier S. 7.
  3. 3Einzig nennenswert sind dieBeiträge zur Geschichte der Stadt Zwönitz und ihrer Dörfer, 21 Hefte, Zwönitz 1979–2007.
  4. 4Alle im Folgenden genannten Karten aus dem Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen können im Internet unter www.geschichtsatlas-sachsen.de → Atlasplan/Themen angesehen werden.
  5. 5Vgl. Karlheinz Blaschke, »Mensch und Siedlung. Orts- und Flurformen in Sachsen«, inSächsische Heimatblätter 1/2006, S. 27–29.
  6. 6Eine gute zusammenfassende Darstellung hierfür bietet Renate Wißuwa, »Die Entwicklung der Chemnitzer Region im Verkehrsgefüge Sachsens«, in Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Zur Entstehung und Frühgeschichte der Stadt Chemnitz, Chemnitz 2006, S. 64–77.
  7. 7Vgl. Reiner Groß, »Burgen und Herrschaftliche Güter. Entwicklung vom hohen Mittelalter bis zur Neuzeit«, inSächsische Heimatblätter 1/2006, S. 30–33.
  8. 8Vgl. Lothar Enderlein, Kloster Grünhain im Westergebirge, Schwarzenberg 1934; Winfried Schich (Hg.), Zisterziensische Klosterwirtschaft zwischen Ostsee und Erzgebirge, Berlin 2004.
  9. 9Manfred Kobuch, »Die Kirchenorganisation als Folge des Landesausbaus bis zum 15. Jahrhundert«, inSächsische Heimatblätter 1/2006, S. 43 f.
  10. 10Karlheinz Blaschke, »Der Beitrag der Kirche zur Erschließung des Leipziger Landes im hohen Mittelalter«, in Lutz Heydick u. a. (Hg.), Zur Kirchen- und Siedlungsgeschichte des Leipziger Raumes (Leipziger Land – Jahrbuch für Historische Landeskunde und Kulturraumforschung 2/2001), Beucha 2001, S. 9–25, hier S. 13.
  11. 11Vgl. dazu Michael Wetzel, Das geteilte Lenkersdorf 1312–1878. Ein Beitrag zur Geschichte des schönburgisch-sächsischen Grenzraumes, Zwönitz/Aue 2004.
  12. 12Karlheinz Blaschke, »Das Städtewesen vom 12. bis zum 19. Jahrhundert«, inSächsische Heimatblätter 1/2006, S. 34 f.
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Heft 3 (2009)
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