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Ein Netz der Wissenschaften? Wilhelm Ostwalds »Annalen der Naturphilosophie« und die Durchsetzung wissenschaftlicher Paradigmen. Vorträge des Kolloquiums, veranstaltet von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und dem Institut für Philosophie der Universität Leipzig im Oktober 2007.

Herausgegeben von Pirmin Stekeler-Weithofer, Heiner Kaden und Nikolaos Psarros (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 81, Heft 4), Verlag S. Hirzel, Stuttgart/Leipzig 2009. 167 Seiten.

In den Jahren 2006 bis 2008 hat die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig das Forschungsprojekt Rekonstruktion der wissenschaftsphilosophischen Diskurse in Ostwalds »Annalen der Naturphilosophie« bearbeitet. Das Vorhaben wurde vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert.

Die Zeitschrift »Annalen der Naturphilosophie« erschien von 1901 bis 1921 und wurde von dem Leipziger bzw. Großbothener Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald herausgegeben; einige Jahre trug sie den Titel »Annalen der Natur- und Kulturphilosophie«. Grundsätzliche Vorgabe des Herausgebers für die Zeitschrift war es, Philosophie sowie Forschung und Ergebnisse anderer Wissenschaften miteinander zu verknüpfen. Die wissenschaftlichen Abhandlungen standen all jenen Autoren offen, die Forschungsergebnisse von Einzelwissenschaften in das Licht des »Allgemeinwissens« zu stellen versuchten. Deshalb stammten die Aufsätze der Zeitschrift aus sehr unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen.

Über das o. g. Projekt und das Resultat seiner Bearbeitung wurde in dieser Zeitschrift berichtet.1 Im Zusammenhang mit dem Vorhaben fand im Oktober 2007 in Leipzig ein Kolloquium mit internationaler Beteiligung statt. Die Vorträge der Tagung sind in einem 2009 erschienenen Band der Abhandlungen der Sächsischen Akademie abgedruckt worden.

Die ausführliche Einleitung des Bandes, Autoren sind Pirmin Stekeler- Weithofer und Christian Schmidt, führt den Leser in die Beweggründe Ostwalds ein, die Zeitschrift »Annalen der Naturphilosophie« zu begründen. Ostwald hatte seit 1901 an der Universität Leipzig »Vorlesungen über Naturphilosophie« gehalten, in denen er »allgemeinere Fragen der Wissenschaft« behandeln wollte. Ihm schwebte vor, damit einzelwissenschaftliche Begrenzungen naturphilosophisch zu überwinden, wobei er die Gefahr erkannte, dass Forschungsergebnisse unzulässig zu sehr verallgemeinert werden könnten. Die »Annalen« Ostwalds hatten anfangs einen außerordentlichen Erfolg zu verzeichnen. Im Verlauf der Existenz der Zeitschrift kamen 166 Autoren zu Wort, von denen nicht weniger als ein Viertel angesehene Lehrstuhlinhaber in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen waren. Dazu gehörten so berühmte Wissenschaftler wie Ernst Mach, Max Planck, William Ramsay, Karl Lamprecht und Felix Hausdorff. Daneben traten aber auch Wissenschaftler in Erscheinung, deren Karriere eben erst begonnen hatte, unter ihnen der Philosoph Ludwig Wittgenstein und der Soziologe Franz Oppenheimer. Ostwalds Bemühungen um die Naturphilosophie fielen etwa zusammen mit der Zeit, als die Laufbahn Ostwalds als Chemiker an der Universität Leipzig zu Ende ging.

Zeitweiliger Mitherausgeber der »Annalen« wurde der Wiener Privatgelehrte, Philosoph und Soziologe Rudolf Goldscheid, zwischen 1912 und 1917 Präsident des Österreichischen Monistenbundes. Er gehörte ab 1906 dem von Ernst Haeckel gegründeten Deutschen Monistenbund an. Ostwald und Goldscheid waren sich 1905 in Salzburg begegnet, in einem ausführlichen Gespräch hatte Goldscheid das Interesse Ostwalds an der Soziologie geweckt.

Die Autoren der Einleitung des vorliegenden Bandes erläutern eingehend die monistischen Positionen der Herausgeber der »Annalen« mit Soziologie als Universalwissenschaft, wie sie Ostwald zunächst weitgehend unterstützt hat. Die insgesamt sehr lesenswerte und für das Verständnis des gesamten Bandes nützliche Einleitung wird abgeschlossen sowohl mit Erläuterungen zum Scheitern der »Annalen« als auch mit einer Würdigung ihres bleibenden Wertes. Letztlich, vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, kommt es dazu, dass Ostwald die Zusammenarbeit mit Goldscheid aufkündigt. Etwas überraschend war die Begegnung mit Goldscheid für Ostwald offenbar nicht von bleibendem Wert. In Ostwalds »Lebenslinien«2, 2003 in neuer, eingehend kommentierter Auflage erschienen, wird Goldscheid nur an einer Stelle, quasi nebenbei, erwähnt. Nimmt man dies zum Maßstab, so scheint Ostwald auch der immerhin 20-jährigen Geschichte der »Annalen« letztlich keine überragende Bedeutung beigemessen zu haben.

Die in dem vorliegenden Band abgedruckten sechs Beiträge stammen von fünf Autoren. Die wissenschaftlichen Bearbeiter des eingangs genannten Projektes sind mit drei Beiträgen vertreten. Katharina Neef befasst sich in einer ausführlichen Studie mit Rudolf Goldscheid. Ihre Arbeit birgt eine Fülle interessanter und neuer Informationen über Leben und Werk Goldscheids. Zugleich wird der Hintergrund der Zusammenarbeit Goldscheids mit Ostwald für das Erscheinen der »Annalen der Naturphilosophie« in den Jahren 1913 bis 1917 deutlich; für diese Zeit war der Titel der Zeitschrift auf »Annalen der Natur- und Kulturphilosophie« erweitert worden. Der Kriegsausbruch 1914 verschlechterte das Verhältnis der beiden Herausgeber, was wohl vor allem an der unterschiedlichen Stellung der Herausgeber zum Weltkrieg lag; Goldscheid war Pazifist, Ostwald hatte einen »deutschtümelnden Standpunkt«, wie die Autorin schreibt. Im Weiteren geht sie vor allem auf die Gründung der »Soziologischen Gesellschaft« in Wien 1907 und der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« in Berlin im Jahr 1909 ein. In einem Fazit beleuchtet die Autorin die Bedeutung Ostwalds und Goldscheids im Vergleich zu den, wie sie es nennt, »Klassikern« der Soziologie. Sie gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Bedeutung der zeitgenössischen Soziologen, zu denen Goldscheid, Ostwald und andere gehörten, bisher unterschätzt wurde. Mehr als 50 Literaturzitate runden das Bild dieser inhaltsreichen Arbeit ab.

Von Christian Schmidt stammen zwei Beiträge, die ebenfalls aus der Bearbeitung des oben genannten Projektes resultieren. In dem Aufsatz »Die spekulative?uri=http://www.denksht der Autor auf Ostwalds Hierarchisierung der Wissenschaften ein. Am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vollziehen sich die Herausbildung der Sozialwissenschaften und die Trennung von Philosophie und Naturwissenschaften. Einer der Autoren in den »Annalen« spricht im Gegensatz zum üblichen Begriff »Geisteswissenschaften« nun von »Kulturwissenschaften«, worauf Schmidt näher eingeht. Ein weiterer Gesichtspunkt, der von Schmidt erörtert wird, ist die eingangs des 20. Jahrhunderts beginnende Differenzierung der Naturwissenschaften in kleinere Forschungsgebiete, eine Entwicklung, die der von Ostwald angestrebten »einheitlichen Weltauffassung« entgegensteht. Er sieht die von ihm begründete physikalische Chemie als Verknüpfung von Forschungszweigen, nicht als Differenzierung. Weitere Themen, die von Schmidt diskutiert werden, sind die Genese des Energiebegriffs und, in einem längeren Abschnitt, die »… Ablehnung wissenschaftlicher Hypothesen …« durch Ostwald. Schließlich enthalten drei folgende Abschnitte Überlegungen Schmidts vor allem zu der Bestrebung Ostwalds, die Einheit der Wissenschaften zu retten.

Der zweite Beitrag Schmidts mit dem Titel »Die Heterogenität der Naturphilosophie Ostwalds und seiner Nachfolger« führt von Ostwald zu einer Reihe von Autoren, die sich mit Ostwald auseinandergesetzt haben oder als seine Nachfolger anzusehen sind, u. a. Ludwig Wittgenstein und Hans Witte.

Paul Ziche, Universität Utrecht, befasst sich mit Wilhelm Ostwald als dem Begründer der modernen Logik unter Bezug auf dessen »Vorlesungen über Naturphilosophie«, die 1914 in revidierter Neuauflage als »Moderne Naturphilosophie« neu erschienen. Er zitiert Ostwald mit der bemerkenswerten Schlussfolgerung, dass »die Logik, die besser und allgemeiner Mannigfaltigkeit zu nennen ist, eine noch allgemeinere Wissenschaft ist, als die Mathematik.« Weiter gelangen in dieser Arbeit Gesichtspunkte neuer künstlicher Sprachen, Ostwalds Begründung der Logik zwischen Mathematik und Empirie sowie Überlegungen zu Ostwalds Scheitern bei der Einführung neuer Kunstsprachen zur Diskussion.

Ein ebenfalls interessanter Aspekt des »späten« Schaffens Ostwalds sind seine pädagogischen Aktivitäten und die Bestrebungen, eine neue Technik »geistiger Arbeit« zu etablieren. Diese Seite des Ostwaldschen Schaffens wird von Thomas Hapke, Technische Universität Hamburg-Harburg, untersucht. Es werden die Konzepte zur »Organisation geistiger Arbeit«, darunter zur Organisation der wissenschaftlichen Kommunikation und Information, behandelt, die auf Naturphilosophie und Energetik basieren und zwingend zu einer Rationalisierung der Informationsflut in der wissenschaftlichen Kommunikation führen. Auch in dieser Arbeit steht Wilhelm Ostwald im Mittelpunkt, indem auf seine wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten eingegangen wird. Von besonderem Interesse dürften die Bezüge Hapkes zu Ostwalds Ansichten über Hochschulpädagogik, zur Kreativität, zum Erfinden sowie zu Psychologie und Biologie der Wissenschaft sein, die von Ostwald u. a. in der Buchreihe »Große Männer« als »Studien zur Biologie des Genies« behandelt worden sind. Der Autor gelangt zu besonders interessanten Schlussfolgerungen, die in der heutigen Zeit die Nutzung wissenschaftlicher Literatur und die Popularisierung wissenschaftlicher Resultate in der Öffentlichkeit betreffen. Auf das sehr ausführliche Literaturverzeichnis mit mehr als 80 Zitaten sei hingewiesen.

Die Rezeption von Ostwalds Energetik in Frankreich behandelt Matthias Neuber, Universität Tübingen. Nach einem Rückblick auf das Entstehen der Energetik und die Akzeptanz seiner Ideen nach dem berühmten Vortrag »Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus« auf der Lübecker Naturforscherversammlung 1895 geht der Autor auf Abel Rey, den französischen Physiker und Philosophen, ein. Sowohl Rey als auch Ostwald bekannten sich zum Positivismus; Übereinstimmung und Unterschiedlichkeit der beiden Wissenschaftler im Bezug auf den Positivismus werden von Neuber eingehend untersucht.

Zu erwähnen ist, dass die Abhandlung eingangs das Foto einer Zeichnung mit Wilhelm Ostwalds Portrait enthält, die von dem Maler und Pressezeichner Emil Stumpp (1886–1941) stammt; das Original befindet sich im Besitz der Leipziger Akademie.

Insgesamt liegt mit dieser Abhandlung eine Schrift vor, in deren Mittelpunkt das Schaffen Wilhelm Ostwalds auf nichtchemischen Gebieten steht. Seine Bedeutung reicht bis in die Jetztzeit. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften würdigt damit ihr prominentes Mitglied erstmals in einer Abhandlung, die in der Philologisch-historischen Klasse angesiedelt ist.

  1. 1Christian Schmidt, »Wissenschaftsbegründung und Interdisziplinarität. Zum Abschluss des Akademievorhabens Rekonstruktion der wissenschaftsphilosophischen Diskurse in Ostwalds ›Annalen der Naturphilosophie‹«, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Heft 2 (2009), S. 227–233.
  2. 2Wilhelm Ostwald, Lebenslinien – Eine Selbstbiographie, nach der Ausgabe von 1926/27 überarbeitet und kommentiert von Karl Hansel, Stuttgart/Leipzig 2003. (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematischnaturwissenschaftliche Reihe, Band 61).
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Heft 3 (2009)
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1867-7061

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