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Fantasie und Systematik.

Zur Konzeption und Erarbeitung des Mendelssohn-Werkverzeichnisses

Im Jahre 1837 bekannte Felix Mendelssohn Bartholdy gegenüber seinem Verleger Simrock: »[…] ein vollständiges Verzeichniß meiner Compositionen hätte ich sehr gerne […].«1 Mehr als einhundertsiebzig Jahre hat es bedurft, diesen Wunsch Mendelssohns dank eines Projektes der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in grundlegender Weise zu erfüllen.

Am 26. August 2009 wurde im Leipziger Mendelssohn-Haus der Öffentlichkeit das Mendelssohn-Werkverzeichnis2 feierlich übergeben. Wie es zu diesem von Forschung und Praxis lang erwarteten Grundlagenwerk kam und welche Konzeption ihm zugrunde liegt, soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

An der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wird die Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy erarbeitet, eine historischkritische Gesamtausgabe, die sich zum Ziel gesetzt hat, sämtliche erreichbaren Kompositionen, Briefe, Tagebücher und Schriften sowie alle anderen, also auch die bildnerischen Dokumente des Mendelssohnschen künstlerischen Schaffens in wissenschaftlich angemessener Form für die Öffentlichkeit zu erschließen. Eingebettet in das Editionsprogramm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften dient sie als historisch-kritische Musikergesamtausgabe der Forschung und der Musikpraxis gleichermaßen. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig unterhält seit 1992 eine Forschungsstelle, die sich mittlerweile als zentrale Anlaufstelle für alle mit Mendelssohn-Handschriften in Zusammenhang stehenden Fragen etabliert hat und über die weltweit größte Sammlung an Mendelssohn-Literatur, Informationen über den Komponisten sowie über Quellenkopien aller Art verfügt. Die verlegerische Betreuung der Gesamtausgabe liegt in den Händen der traditionsreichen Firma Breitkopf & Härtel, Wiesbaden/Leipzig/Paris; wissenschaftlicher Gesamtleiter ist Prof. Dr. Christian Martin Schmidt (Technische Universität, Berlin). An der Edition sind neben den beiden hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Salome Reiser und Dr. Ralf Wehner auch externe Bandherausgeber beteiligt. Bis zum Herbst 2009 sind in dieser Edition nicht weniger als 22 Notenbände erschienen, darunter die Musik zu Ein Sommernachtstraum, das bis 2006 ungedruckte Singspiel Soldatenliebschaft, alle autorisierten Sinfonien, mehrere konzertante Werke, so das 2. Klavierkonzert, darüber hinaus das Oktett sowie das gesamte Klaviertrioschaffen und sämtliche Orgelwerke. Die genaue Aufstellung aller Bände und die Serieneinteilung sind unter www.saw-leipzig.de bzw. unter www.breitkopf.de abrufbar.

Schon zu Beginn der Arbeit an dieser Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy waren sich alle Beteiligten darüber einig, dass innerhalb der Edition ein thematisch-systematisches Verzeichnis erscheinen sollte, denn Felix Mendelssohn Bartholdy gehörte zu den letzten großen Komponisten des 19. Jahrhunderts, für die es kein umfassendes Werkverzeichnis gab, mithin keine einheitliche Verständigungsgrundlage, wie sie seit vielen Jahrzehnten etwa für Bach, Beethoven, Mozart und Schubert eine Selbstverständlichkeit ist und seit den achtziger bzw. neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts für Brahms, Chopin, Wagner und Schumann existiert. Klar war auch, dass das eigentliche »große« Verzeichnis am Ende des Projektes stehen müsse, um die Gewähr zu haben, den größten Teil der in Zusammenhang mit der Gesamtausgabe erworbenen Erkenntnisse einfließen lassen zu können. Die Vorstellung jedoch, weitere Jahrzehnte auf das allseits vermisste Mendelssohn-Werkverzeichnis warten zu müssen, haben Editions- und Akademieleitung, Forschungsstelle und den Verlag Breitkopf & Härtel dazu bewogen, bereits eher mit einer vom Umfang und Inhalt her kleineren Studien-Ausgabe an die Öffentlichkeit zu treten. Dieses Verzeichnis sollte über alle bekannten oder nachweisbaren Werke Auskunft geben, den Stand der aktuellen Quellenerfassung dokumentieren, Probleme einzelner Bereiche beleuchten und gleichermaßen Perspektiven und Chancen für die weitere Forschung und Musikpraxis aufzeigen. Gleichzeitig war einleuchtend, dass mit einer solchen Studien-Ausgabe weder einem Erstdruckverzeichnis noch einem detaillierten Skizzenkatalog vorgegriffen werden konnte und dass die Werk-, Publikations- und frühe Rezeptionsgeschichte allenfalls in Ansätzen und in prägnanten Fällen darzustellen waren. Als realistischer und geeigneter Erscheinungstermin für die Studien-Ausgabe des Werkverzeichnisses wurde das Jahr 2009 angesehen, ein Termin, der damals – Mitte der 1990er Jahre – noch weit genug entfernt erschien.

I Vorarbeiten

Ein Hauptproblem bei der Erarbeitung und gleichzeitig einer der zentralen Gründe, warum es bisher kein umfassendes Verzeichnis gegeben hatte, war der relativ hohe Grad an Verstreuung der Quellen zu den Kompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys. Bereits im Jahre 1863 musste Julius Rietz, ein enger Vertrauter und späterer Herausgeber von Werken Mendelssohns, konstatieren: »Außerdem sind von vielen einzelnen Liedern mit Worten und ohne Worte die Originale in alle Welt zerstreut, und sie konnten, bei dem lebhaften Wunsche, diesem Verzeichnisse die größtmöglichste Vollständigkeit zu geben, trotz aller darauf verwandten Mühe bis jetzt nicht ermittelt werden.«3 Befanden sich 1863 die meisten Quellen noch im Besitz derjenigen Personen, die sie direkt von Mendelssohn erhalten hatten, so musste der Grad an Verteilung in jenem Maße zunehmen, in dem die Nachlässe von Zeitgenossen aufgelöst und versteigert wurden. Später geriet ein Teil der Stücke in große und kleinere Privatsammlungen und hat dort so manche Zeitwirren überdauert. Eine wichtige Etappe bildeten die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Umfangreiche Sammlungen und Verlagsarchive wurden aufgelöst, Emigranten retteten kostbare Stücke ins Exil. So kamen gerade in dieser Zeit immer mehr Manuskripte in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Zahl der Standorte Mendelssohnscher Autographen vergrößerte sich rapide und Handschriften existierten Anfang des 21. Jahrhunderts auf fast allen Kontinenten. Der Hauptteil der vonss="EndNothn selbst gesammelten Kompositionen wurde glücklicherweise nicht zerstreut, auch wenn er sich mittlerweile ebenfalls auf mehrere Orte, insbesondere Berlin und Kraków, verteilt. Die seit 1878 zunächst in der Königlichen Bibliothek zu Berlin aufbewahrten sogenannten »Nachlass-Bände« bilden den Kern und Ausgangspunkt der Kenntnis darüber, was Mendelssohn geschrieben hat. Dennoch ist mehr als ein Drittel der Kompositionen oder Quellen zu einzelnen Werken außerhalb dieser Bände zu finden, vieles in öffentlichen Bibliotheken, manches in privater Hand.

Vorrangige Aufgabe in den ersten Jahren der Leipziger Mendelssohn- Ausgabe und schließlich während der Erarbeitung des in Rede stehenden Verzeichnisses war daher das Aufspüren dieser Quellen, das Sammeln und Ordnen von Informationen über Quellen, die Auswertung des sekundären Schrifttums, die möglichst umfassende Durchsicht der in Frage kommenden Auktions- und Antiquariatskataloge, aber auch anderer Verzeichnisse von Sammlungen oder Bibliotheken sowie die Kenntnisnahme der von Mendelssohn geschriebenen und an ihn gerichteten Schriftstücke, die etliche Hinweise auf Kompositionen brachten beziehungsweise die Identifizierung unbekannter Stücke erleichterten. Von speziellem Wert erwiesen sich die im Laufe der Zeit entstandenen Mendelssohn-Werklisten, auch wenn die wenigsten von ihnen einen wissenschaftlichen Anspruch hatten, vielmehr der Selbstorientierung des Komponisten, dem merkantilen Interesse von Verlegern oder der Illustration von biographischen Ausführungen dienten.

Das eigentliche Mendelssohn-Werkverzeichnis war mit aufwendigen Arbeiten verbunden und es bewahrheitete sich, dass ein solches Projekt kaum von einer Einzelperson, sondern nur in einem Forschungsinstitut geleistet werden kann, das über das entsprechende Hintergrundwissen über den Komponisten, ein über Jahre aufgebautes Quellenarchiv sowie weltweite Kontakte zu Bibliothekaren, Forschern, Sammlern und Auktionshäusern verfügt.

Bevor mit der Konzeption am eigentlichen Werkverzeichnis begonnen werden konnte, waren umfangreiche Vorarbeiten notwendig, die in folgenden Stichpunkten zusammengefasst seien. Es waren

  • weltweit 1500 Bibliotheken und Archive anzuschreiben, um überhaupt erst einmal einen Überblick über die Standorte der Autographen, Abschriften, frühen Drucke und weitere relevanten Primärquellen zu erlangen,
  • ca. 15 000 historische Auktionskataloge aufzutreiben, durchzusehen und die Wanderung der Autographen bis hin zum aktuellen internationalen Auktionsmarkt zu verfolgen. Dies geschah insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein erheblicher Teil der Mendelssohnschen Autographen zu allen Zeiten gesammelt und versteigert wurden. Bisweilen sind die Beschreibungen und Faksimile-Abbildungen in diesen Katalogen die einzige Möglichkeit, sich über ein verschollenes oder in Privatbesitz befindliches Manuskript zu informieren.
  • ca. 12 000 Briefdokumente der Korrespondenz, Notiz- und Haushaltbücher sowie Erinnerungen von Zeitgenossen durchzusehen, um Hinweise auf Kompositionen, Datierungen oder werkrelevante Details zu erlangen,
  • Erstdrucke seiner Werke zu suchen, die bei Mendelssohn in bis zu vier Ländern gleichzeitig, aber inhaltlich keinesfalls immer identisch, erscheinen konnten. Exemplare dieser frühen Publikationen sind heute bisweilen so selten wie Mendelssohns Handschriften selber, sie sind jedoch eine Grundvoraussetzung, um das Gesamtschaffen adäquat beurteilen zu können und zu einem authentischen Notentext zu gelangen.

Dabei erwies es sich als Vorteil, dass diese zeitintensiven Forschungen parallel zum allgemeinen Aufbau der Arbeitsstelle in den 1990er Jahren verlaufen konnten. Sie wurden also nicht primär und ausschließlich für das Werkverzeichnis betrieben, was wohl kaum einen solchen jahrelangen Aufwand gerechtfertigt hätte, sondern waren zunächst absolute Grundvoraussetzung, dass der Editionsbetrieb an der Sächsischen Akademie überhaupt aufgenommen werden konnte.

Unmittelbar während des Erarbeitungsprozesses mussten zweieinhalbtausend Notenbeispiele (Incipits) entwickelt, aufgeschrieben und Korrektur gelesen werden. Solche Incipits sind in Musikerwerkverzeichnissen unverzichtbare Ingredienzen, da mit ihrer Hilfe mehr über die Substanz eines Werkes ausgesagt werden kann als durch eine verbale Beschreibung des musikalischen Verlaufes. Über diese Notenbeispiele ist die Identifizierung eines kompositorischen Werkes zweifelsfrei möglich, infolgedessen müssen sie so angelegt sein, dass das Wesen und das Charakteristikum des jeweiligen Stückes mithilfe weniger Noten einwandfrei erfasst werden kann. Dazu reicht es bei Mendelssohns Kompositionsstil meist nicht, einfach nur die ersten Töne eines Stückes oder die Oberstimme wiederzugeben. Abgeschlossen wird ein solches Incipit traditionell mit einer Taktangabe des zitierten Stückes, um dem versierten Leser eine Vorstellung vom Umfang und der ungefähren Dauer an die Hand zu geben. Das bedeutet, dass die Taktzahlen sämtlicher Werke und aller Sätze von Werken zu ermitteln waren. Gerade bei den vielen Fassungen einzelner Lieder oder Klavierstücke ist das Zählen von Takten ein notwendiges Übel, da diese fast immer voneinander differieren, was mit Mendelssohns Revisionsfreude und Überarbeitungspraxis zusammenhängt und eine Herausforderung für jegliche Edition Mendelssohnscher Werke darstellt. Leider kann immer erst nach dem Zählen des letzten Manuskriptes eine Aussage darüber getroffen werden, ob alle Taktzahlen verschiedener Quellen zu einem Werk identisch sind oder voneinander abweichen. Gerade das Abweichen von Taktzahlen ist andererseits als erstes Indiz zu werten, dass auch sonst Unterschiede in den verschiedenen Notaten und Fassungen eines Werkes bestehen, und von daher ist eine Kenntnis darüber von hohem Nutzen.

So waren letztlich mehrere Jahre intensiver Grundlagenforschung vonnöten, bevor an die konzeptionellen Vorüberlegungen zum thematischen Werkverzeichnis gegangen werden konnte.

II Konzeptionelles

Das Komponieren musikalischer Werke geschieht in der Regel in einem Reich von Fantasie und Inspiration und hat nicht a priori zum Ziel, Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung zu werden. Infolgedessen ist es ganz natürlich, dass sich die Gesamtproduktion eines Künstlers nicht ohne größere Probleme in ein wissenschaftliches Korsett pressen lässt. Insbesondere bei Musikern, die in verschiedenen Bereichen der Tonkunst individuelle Werke geschaffen haben, ergeben sich oft Schwierigkeiten, Kategorien zu finden, in denen die Werke sinnvoll geordnet und untergebracht werden können. Bei einem überschaubaren Rahmen von wenigen Stücken ist dies meist nicht problematisch. Wenn sich aber – wie im Falle Mendelssohn – die Aufgabe so stellt, dass über 750 Werke und die dazugehörigen ca. 2500 Primärquellen in ein System zu bringen sind, so müssen in der Tat verschiedene Möglichkeiten in Erwägung gezogen werden, um sich dem heterogenen Gesamtkomplex zu nähern. Für diese Zwecke hat die Musikwissenschaft in der Vergangenheit anhand unterschiedlicher Komponisten verschiedene Modelle entwickelt. So wurden etwa die Werke von Mozart, Schubert oder Richard Wagner in einer durchgängig chronologischen Reihenfolge verzeichnet.4 Bei einigen Komponisten des 18. Jahrhunderts bot es sich an, strikt nach den Besetzungen der Stücke zu gehen und diese dann innerhalb der Gruppen nach Tonarten zu sortieren (so im Vivaldi-Verzeichnis5). Im Bach-Werkeverzeichnis6 sind die Besetzungen ebenfalls ausschlaggebend, doch orientierte sich dort insbesondere bei den Kirchenkantaten die Anordnung nach der im 19. Jahrhundert realisierten »Alten Bach-Gesamtausgabe«. Bei Komponisten des 19. Jahrhunderts sind, ausgehend vom Werkverzeichnis zu Beethoven und besonders prägnant bei Brahms, Chopin, Schumann oder Louis Spohr, Anordnungen beliebt, die die Werke nach den historischen Opuszahlen reihen und anschließend die »Werke ohne Opuszahl« folgen lassen.7 All diese existenten Muster wären im Falle von Felix Mendelssohn Bartholdy zwar theoretisch ebenfalls denkbar gewesen, doch erforderte die Spezifik seiner Kompositionspraxis letztlich doch eine andere bzw. modifizierte Herangehensweise.

Folgende Themenschwerpunkte waren im Vorfeld zu beachten und zu hinterfragen, inwieweit sie für eine Erfassung des Gesamtwerkes Felix Mendelssohn Bartholdys geeignet seien beziehungsweise als Grundlage zum Aufbau eines Verzeichnisses dienen könnten.

1. Vollendete und unvollendete Werke

Im strengen Sinne des Begriffes »Werkverzeichnis« kämen nur solche musikalischen Einheiten in Frage, die als Werk im emphatischen Sinne zu bezeichnen wären. Bereits frühere »Werkverzeichnisse« für andere Komponisten weiteten den Begriff jedoch insofern, dass sie alles erfassten, was als »Komposition« im engeren Sinne zu bezeichnen ist, also auch kleinere kompositionstechnische Einheiten, wie Rätselkanons, aufnahmen. Dazu kommt, dass ein nicht unerheblicher Teil des Mendelssohnschen Schaffens in jenem Grenzbereich zwischen Werk und schriftlich fixiertem, künstlerischem Gedanken angesiedelt ist, der sich von jeher einer einfachen Kategorisierung entzog.

Eine Aufteilung in vollendete und unvollendete Werke kam aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht. Die Zahl der wirklich abgeschlossenen, d. h. autorisiert vollendeten Werke ist klein, was primär mit Mendelssohns extremer Selbstkritik und Revisionsfreudigkeit zusammenhängt. Andererseits gibt es beispielsweise die merkwürdige Situation, dass sogar zwei Mendelssohn- Fragmente (einer Oper und eines Oratoriums) Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Opuszahl gedruckt wurden. Die unvollendeten Werke Mendelssohns werden also im neuen Werkverzeichnis nicht in einen Anhang verbannt, sondern sind trotz ihres vorläufigen oder fragmentarischen Charakters Bestandteil des Hauptverzeichnisses.

2. Gedruckte und ungedruckte Werke / Opuszahlen

Dieser Komplex hängt eng mit der Frage nach Werken mit und ohne Opuszahlen zusammen. Schon zu Lebzeiten gab es beide Formen, darüber hinaus noch diejenige des unerlaubten Raubdruckes; eine pauschale Einteilung nach Werken, die vor bzw. nach dem Sterbejahr 1847 gedruckt wurden, erwies sich ebenfalls als ungünstig.

Die Opuszahlen bei Felix Mendelssohn Bartholdy – nach seinem Ableben bis zur Zahl 121 weitergeführt – suggerieren eine Entstehungs- und Publikationsfolge, die in den wenigsten Fällen der tatsächlichen Chronologie entspricht. Als Mendelssohn am 4. November 1847 in Leipzig verstarb, lagen 70 Werke mit Opuszahlen gedruckt vor, wobei op. 69 nur in England veröffentlicht war und zwei weitere Sammlungen von Liedern als op. 71 und von Klavierstücken als op. 72 bis zum Ende des Jahres erschienen. Die Opuszahl 19 gab es versehentlich zweimal (bei Simrock und bei Breitkopf & Härtel), etliche Werke erschienen ohne Opuszahl, wurden aber nachträglich mit einer solchen versehen, die Zahlen 24 und 26 waren zunächst übersprungen und erst Jahre später besetzt worden. Durch ein Missverständnis verwechselte der englische Verleger Novello die geplanten Opuszahlen 43 und 45 und ließ die Stücke als op. 45 bzw. 44 drucken. Beide Zahlen waren allerdings in Deutschland mit anderen Werken besetzt. Etliche Briefe belegen, dass sich selbst der Komponist nicht immer sicher war, welche Opuszahl schon existierte beziehungsweise welche als nächstes verwendet werden sollte. Auf Wunsch eines Verlegers stimmte er sogar zu, ein Werk, das ihm zunächst als zu unbedeutend für eine Opuszahl erschienen war, doch mit einer solchen zu versehen: »Meine Absicht war zwar die Lieder, weils denn doch gar so kleine Thiere sind, ohne opus Zahl in die Welt zu schicken, da Sie mir aber schreiben, daß es Ihnen unbequem wäre, so setzen Sie op. 41 darauf, ud. der Psalm muß dann op. 42 bekommen.«8 Bei anderen Werken blieb Mendelssohn dagegen konsequent. In Zusammenhang mit der Hymne »Hear my prayer« führte er aus: »The Hymn must have no opus = number (keine Opuszahl, as we say) because it was always my fashion to leave such trifling things without these numbers […].«9

Nach Mendelssohns Tod erschien bald eine Reihe der »Nachgelassenen Werke«. Die Opuszahlen wurden dabei in zwei Etappen zunächst bis op. 100 (1848–1852), dann bis op. 121 (1867–1873) fortgesetzt. Überdies kamen einige Werke heraus, die keine Opuszahlen erhielten.

In der Mendelssohn-Forschung besteht mittlerweile zunehmend Konsens darüber, dass die postum vergebenen Opuszahlen ab op. 73 auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können und sollen. Zu sehr widerspiegeln sie die Beurteilungsweise des 19. Jahrhunderts, die keine Probleme darin sah, Werkfassungen zu kompilieren, Titel und Satzbezeichnungen zu verändern, willkürliche Zusammenstellungen von Einzelstücken zu Zyklen vorzunehmen (op. 75–77, 81, 84–86, 88, 99, 100, 102, 104, 120) oder nur Teile von Werken zu veröffentlichen. Die Reihenfolge der Entstehung, die bei den originalen Opuszahlen zumindest annähernd nachvollziehbar war, wurde völlig ignoriert. Hohe Opuszahlen suggerierten Spätwerke, obwohl Stücke wie op. 101, 105, 106, 110 oder 119 der Jugendzeit entstammen. Die Leipziger Mendelssohn-Ausgabe hat dieser Entwicklung insofern Rechnung getragen, als sie in ihren Bänden die betreffenden Opuszahlen in eckige Klammern stellt, um so auf deren unautorisierten Zustand hinzuweisen.

Nach dem alten Leitsystem der Opuszahlen hätte ein Werkverzeichnis allein die Klavierwerke entsprechend ihren Erscheinungsformen im 19. Jahrhundert in insgesamt fünf Rubriken unterteilen müssen: »Werke mit Opuszahlen, zu Lebzeiten des Komponisten erschienen (bis 1847)«, »Werke ohne Opuszahlen, zu Lebzeiten des Komponisten erschienen (bis 1847)«, »Werke mit postum vergebenen Opuszahlen (1848 bis 1873)«, »Werke, nach 1847 im 19. Jahrhundert ohne Opuszahlen erschienen«, und »Im 19. Jahrhundert unveröffentlichte Werke«. Aus all dem folgt, dass im neuen Werkverzeichnis eine Trennung in Werke mit und ohne Opuszahlen nicht sinnvoll war.

3. Datierung und Datierbarkeit

Obwohl Felix Mendelssohn Bartholdy den größten Teil seiner Manuskripte exakt, das heißt auf den Tag genau datiert hat, erweist es sich als schwierig, eine umfassende Chronologie des Gesamtwerkes von 1819 bis 1847 zu realisieren. Das wird vor allem durch vielfältige Überlappungen parallel komponierter Werke und lange Entstehungszeiträume einzelner Stücke unmöglich. Innerhalb bestimmter Werkgruppen dagegen, die nach gleicher oder ähnlicher Besetzung bzw. nach Funktionalität von Stücken gebildet werden können, ist aufgrund der kleineren Anzahl an Kompositionen pro Werkgruppe eine chronologische Reihenfolge bis auf wenige Ausnahmen durchaus möglich. Das Mendelssohn-Werkverzeichnis strebt demzufolge keine komplette Chrono- logie an, sondern eine quellenorientierte und gruppenbezogene Teilchronologie.

Im Autograph undatierte Werke können mittels verschiedener Kriterien des Schriftduktus, der Papiersorte oder anderer quellenkundlicher Analysetechniken wenigstens bestimmten Zeiträumen zugeordnet werden. Als undatierbar gilt momentan nur eine Handvoll von Kompositionen, die ausschließlich in Abschriften oder späteren Drucken überliefert sind. Diese undatierbaren Werke werden den datierten Stücken nachgestellt. Über darüber hinausgehende Spezialprobleme mit der chronologischen Einordnung, die insbesondere aus Mendelssohns Praxis der permanenten Revision resultiert, unterrichtet die Einleitung des Mendelssohn-Werkverzeichnisses.

4. Einzelwerk – Sammelquelle

Mendelssohns Werke erschienen – so sie denn gedruckt wurden – entweder als Einzelopus oder als Sammelopus. Letzteres war eine im 19. Jahrhundert noch gern praktizierte Publikationsform, bei der man – meist sechs – kleine Stücke ähnlicher Faktur unter einer Opuszahl drucken ließ, damit sich diese besser verkaufen ließen. Die nähere Analyse der Werke ergab, dass so gut wie alle Kompositionen Mendelssohns zunächst als eigenständige Werke und nicht als Teile eines Zyklus’ entworfen wurden. Insbesondere die Lieder ohne Worte für Klavier, aber auch die Sololieder oder Chöre sind – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als Einzelstücke komponiert und erst später zusammengestellt worden. Neben Sammeldrucken hat Mendelssohn auch verschiedene Sammelhandschriften hergestellt, das sind Manuskripte, in denen der Komponist befreundeten Personen – meist mit Widmung versehen – mehrere Werke gleichzeitig zukommen ließ. Gerade unterschiedliche Kombinationen von Liedern in Sammeldrucken und Sammelhandschriften zeigen, dass Mendelssohns Zusammenstellungen solcher bereits vorhandener Lieder zu Sammelopera als ein sekundärer künstlerischer Akt zu verstehen sind und nicht primär intendiert waren. Das schließt nicht aus, dass bestimmte Lieder kurz vor Drucklegung einer Sammlung in Hinblick auf die Vervollkommnung derselben komponiert wurden, weil die Zahl der Einzelstücke nicht ausreichte oder die vorhandenen Werke inhaltlich nicht passten. Im Mendelssohn-Werkverzeichnis werden all die Sammlungen von Klavierstücken, Liedern, Streichquartetten, Chören etc. in einem gesonderten Kapitel »Sammelquellen« behandelt. Es gibt jedoch unter den Klavierwerken keine neue Nummer beispielsweise für die Sammlung der Sechs Lieder ohne Worte op. 30. Die Werke, die Bestandteile jener Sammeldrucke und Sammelhandschriften bilden, werden im Hauptverzeichnis einzeln betrachtet und dort mit einer eigenen Nummer versehen. Auf diese Weise ist eine zweifache Annäherung an ein Lied möglich. Alle Informationen zum konkreten Werk sind im Einzeleintrag zu finden. Dort wird darauf verwiesen, in welchen Sammelquellen das Lied enthalten ist. Aus welchen Bestandteilen diese bestehen, also mit welchen anderen Stücken das Lied kombiniert wurde, kann unter dem jeweiligen Kapitel zu den Sammelquellen nachgeschlagen werden. Dort ist dann auch der zentrale Ort, der über die historischen, auf Mendelssohn zurückgehenden Sammlungen, beispielsweise das erwähnte op. 30, informiert. Auf diese Weise entfällt ein kompliziertes System an Querverweisen, das bei denjenigen Werken geboten wäre, die mit anderen Stücken in Zusammenhang stehen.

Einen anderen Stellenwert haben die vielen künstlich erzeugten Zyklen, die nach Mendelssohns Tod erschienen und in denen Werke unterschiedlicher Provenienz unter einer Opuszahl vereint wurden. Zwar war dies prinzipiell auch bei einigen Opuszahlen vor 1847 geschehen, aber dort geschah das immerhin noch in Abstimmung mit dem Autor, der sich – meist auf Wunsch des Verlegers – für eine bestimmte Zusammenstellung und eine bestimmte Reihung von Stücken entschieden hatte. Bei den Opuszahlen ab 73 übernahm diese Aufgabe ein Gremium verschiedener dem verstorbenen Komponisten nahe stehender Personen, doch waren in erster Linie merkantile Interessen ausschlaggebend für diese Entscheidungen (Zyklen verkauften sich nach wie vor besser als Einzelstücke). Das Mendelssohn-Werkverzeichnis löst auch diese postumen Zusammenstellungen konsequent auf und ordnet die Einzelstücke, die Mendelssohn nicht veröffentlicht hatte, in den chronologischen Zusammenhang ihrer Entstehung. Zusammen mit den aus den originalen Opuszahlen entnommenen Werken wird nun in besonders eindringlicher Weise deutlich, wie sich Mendelssohn in bestimmten Zeiträumen, manchmal nur innerhalb weniger Tage, speziellen Gattungen zuwandte und wie er dann, wenn es um die Drucklegung einer Sammlung ging, einzelne Stücke speziell aussuchte. Interessant ist dabei der Umstand, dass vor allem bei Solo- und Chorliedern, aber auch bei Klavierwerken in Sammelhandschriften andere und abweichende Zusammenstellungen vorgenommen wurden, was darauf schließen lässt, dass eine einmal im Druck erschienene Verbindung von Werken für Mendelssohn keinesfalls sakrosankt sein musste.

5. Verschollene Werke und Quellen

Im Gesamtschaffen Felix Mendelssohn Bartholdys gab es aus verschiedenen Gründen und zu allen Zeiten eine erhebliche Anzahl verschollener und verlorener Primärquellen.10 Die Frage, ob ein »Werkverzeichnis« Werke (und Quellen) verzeichnen darf, die gar nicht mehr vorhanden sind, wurde in den bisherigen Musikerwerkverzeichnissen unterschiedlich beantwortet.

Generell wird im Mendelssohn-Werkverzeichnis angestrebt, eine Auflistung des gesamten vorhandenen und nachweisbaren Werkbestandes zu liefern. Das bedeutet auch, dass sowohl derzeit nicht zugängliche, aber noch nachweisbar vorhandene Werke als auch solche Kompositionen aufgenommen werden, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, dass sie die beiden Weltkriege oder anderweitige Schicksalsschläge nicht überlebt haben. Die wenigen nachweislich vernichteten Werke und Quellen finden ebenfalls Erwähnung. Gleichwohl konnte es nicht darum gehen, ein Verzeichnis aller hypothetisch einmal vorhandenen Quellen vorzulegen, denn selbstverständlich gehörten zu jedem Werk, das Mendelssohn dirigierte, auch Aufführungsmaterialien, und zu jeder gedruckten Komposition muss es eine bestimmte Anzahl von Herstellungsunterlagen (Korrekturabzüge, Revisionen) gegeben haben. Diese Quellen, von deren Existenz nur theoretisch auszugehen ist, finden keine automatische Erwähnung.

Exakt zu belegende und eindeutig zuzuordnende Werke, die nur momentan inhaltlich nicht bekannt sind, werden im Hauptverzeichnis an der betreffenden Stelle mit dem Zusatz »Standort unbekannt« eingeordnet und mit einem kurzen Nachweis für die Existenz versehen. Ausgeschlossen bleiben davon Kompositionen, die nur vage einzuordnen sind, weil Mendelssohn etwa in einem Begleitbrief nur pauschal von einem »Lied« schrieb, von dem jedoch nicht klar ist, ob es mit Worten oder ohne komponiert wurde, also ein Klavierstück ist, ein Sololied oder ein Chor.

6. Rahmenteile des Werkverzeichnisses

Bei der Gestaltung des Werkverzeichnisses ging es im Vorfeld auch darum, in welchen Kontext das eigentliche Hauptverzeichnis innerhalb des Buches einzubetten ist. Konkret war die Frage zu beantworten, welche Rahmenteile notwendig seien, um Grundlagen zum Verständnis und zur Erschließung des Verzeichnisses zu legen. Die für wissenschaftliche Publikationen selbstverständlichen Sigel-, Abkürzungs- und Literaturverzeichnisse sowie Register waren um spezifische Teile zu erweitern. So erklärt ein Abschnitt »Hinweise für den Benutzer« den Aufbau der Werkgruppen und die Struktur der einzelnen Werkeinträge.

Gesucht werden kann im Hauptverzeichnis zunächst primär nach Werken, musikalischen Gattungen, Besetzungen oder Zeiträumen. Es mussten aber auch Vorkehrungen getroffen werden, die die Erschließbarkeit des Ganzen über die Logik des eigentlichen Verzeichnisses hinaus auch nach anderen Suchkriterien ermöglichte und garantierte. Zu diesem Zwecke ist ein ausführlicher und mehrgliedriger Registerapparat entwickelt worden. Er besteht aus einem Index der Personen und Institutionen, der Auflistung aller Sammelquellen, einer Liste der Werke fremder Komponisten, einer Konkordanz der historischen Opuszahlen mit den Bezeichnungen des MWV, aber auch aus einem alphabetischen Verzeichnis der Titel und Textanfänge von Vokalwerken sowie der Titel von Instrumentalwerken. Wer möchte, findet auf diese Weise sehr schnell den Hochzeitsmarsch oder das Violinkonzert, lernt aber auch, dass es einen Bärentanz oder einen Bolero von Mendelssohn gibt. Abgerundet wird das Register durch ein Fundortverzeichnis, in dem die über einhundert Bibliotheken mit den Werknummern genannt werden, zu denen sie Quellen aufbewahren.

Die Knappheit der Einzeldarstellung, die die Studien-Ausgabe mit sich bringt, hat zur Folge, dass die Einleitung stärker zu gewichten war, insbesondere deshalb, weil viele unmittelbar mit dem historischen Hintergrund des Werkverzeichnisses verbundenen Prozesse in der bisherigen Mendelssohn- Forschung nicht ausreichend genug aufgearbeitet waren. In der Einleitung geht es deshalb nicht nur um grundlegende Fragen des Aufbaus und der Struktur des Werkverzeichnisses. Es mussten auch – in dennoch gebotener Kürze – Fragen der Handschriftenüberlieferung, der komplizierten Drucklegung der Werke und die Geschichte und Problematik bisheriger Mendelssohn-Verzeichnisse behandelt werden.

7. Abgrenzung zum »großen« Werkverzeichnis

Zur konzeptionellen Vorbereitung der Studien-Ausgabe gehörte es ferner, eine klare Abgrenzung zu dem am Ende der Gesamtausgabe geplanten »großen« Werkverzeichnis zu treffen, wobei momentan keiner die Frage beantworten kann, in welcher Gestalt ein solches ausführliches Verzeichnis in dreißig Jahren vorzulegen sei. Mögliche Themenfelder, die die Studien-Ausgabe nicht oder nur in Ansätzen leisten kann und die später in wünschenswerter Vollständigkeit und Breite zu behandeln sind, wären:

  • eine ausführliche quellenphilologische Beschreibung (mit Umfangsangaben, diplomatischer Wiedergabe von Titeln etc.) und kurze Bewertung sämtlicher erhaltenen Quellen der Werke;
  • eine vollständige Provenienzkette der Vorbesitzer;
  • eine Katalogisierung aller Skizzen und Entwürfe;
  • Erfassung der Widmungsexemplare von Drucken, die Mendelssohn verschenkte;
  • eine umfassende Beschreibung vernichteter oder verschollener Quellen;
  • eine Darstellung der Kompositions- und Wirkungsgeschichte der einzelnen Werke inklusive Verweise auf die Dokumente zur Entstehung, Uraufführung und frühen Rezeption;
  • eine Darlegung der Publikationsgeschichte und die detaillierte bibliographische Beschreibung der Veröffentlichungen der Werke, insbesondere eine Darlegung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Paralleldrucken sowie die Analyse und Nachweise der Titelauflagen, Umdrucke etc.; Belege für die Chronologie der Publikationen;
  • eine Identifizierung sämtlicher Kopisten bzw. eine Rubrizierung anonymer Abschreiber;
  • die Auflistung der Kompositionsvorhaben;
  • eine ausführliche Beschreibung der im Anhang oder in den Varia erwähnten Komplexe der künstlerischen Tätigkeit, die als Randbereich der eigenen Komposition zu interpretieren sind oder in den Bereich »Mendelssohn und Werke anderer Komponisten« fallen, wie z. B. Transkriptionen, Bearbeitungen und Herausgaben fremder Kompositionen, Aufzeichnungen und Bearbeitungen von Volksweisen, Aufzeichnungen gehörter Werke, Notenzitate (Incipits u. a.) aus fremden Werken in Briefen und anderen Dokumenten;
  • Mitteilungen über die Aufführungsdauer des Werkes;
  • Angaben zu fremden Bearbeitungen und Arrangements von Mendelssohnwerken.

Die kritische Auseinandersetzung mit den soeben besprochenen Themenkomplexen und die Beantwortung weitere konzeptioneller Grundfragen, die sich vor allem aus der internen musikalischen Faktur einzelner Werke ergaben, führten schließlich zur Realisierung der Studien-Ausgabe des Mendelssohn- Werkverzeichnisses.

III Resultate – Struktur des MWV

Im Sommer des Jahres 2009 ist das Mendelssohn-Werkverzeichnis im Rahmen der Leipziger Mendelssohn-Ausgabe an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften im Verlag Breitkopf & Härtel planmäßig erschienen. Das bis dato maßgebliche thematische Werkverzeichnis war ein Katalog der im Handel erhältlichen Mendelssohn-Werke und stammte aus dem Jahre 1882. Es umfasste rund 150 bis 1877 veröffentlichte Werke bzw. Werkgruppen. Insgesamt verbargen sich dahinter etwa 350 Einzelkompositionen, von denen zwei Drittel zu Lebzeiten erschienen waren. Dieser über 125 Jahre alte Katalog prägt bis heute unser Bild vom Schaffen Felix Mendelssohn Bartholdys. Das neue Mendelssohn-Werkverzeichnis dagegen listet 750 Kompositionen auf, die weltweit in mehr als einhundert Bibliotheken überliefert sind. Ein gewisser Teil der Werke blieb nach wie vor unveröffentlicht, etliche Kompositionen sind bislang nur dem engsten Spezialistenkreis bekannt, eine erhebliche Zahl von Handschriften schließlich wird zum ersten Male dokumentiert. Das neue Werkverzeichnis soll als Kurzsigel mit »MWV« bezeichnet werden.

Um den raschen Zugriff auf das Gesamtwerk zu ermöglichen und eine einheitliche Basis für weitere Beschäftigung zu schaffen, wurde im Mendelssohn- Werkverzeichnis eine systematische Gliederung in 26 Werkgruppen sowie ein neues Klassifizierungssystem eingeführt, das jedem enthaltenen Werk eine bestimmte Nummer zuordnet. Innerhalb der einzelnen Werkgruppen werden die Kompositionen nach der Zeit ihrer Entstehung aufgelistet, ungeachtet dessen, ob sie zu Lebzeiten Mendelssohns erschienen waren oder nicht. Eine bei anderen Komponisten vorgenommene Einteilung in »Werke mit Opuszahlen« und »Werke ohne Opuszahlen« wurde nach eingehender Fach-Diskussion als nicht sinnvoll erachtet, und diese Entscheidung hat sich im Nachhinein als sehr positiv erwiesen. Die Werkgruppe »Sinfonien« ist beispielsweise Werkgruppe N und die Italienische Sinfonie trägt dann die Bezeichnung N 16, dagegen ist das Oratorium Elias in der Werkgruppe A »Groß besetzte geistliche Vokalwerke« unter A 25 zu finden. Vor allem ist aber wichtig, dass die vielen kleinen, so schwer voneinander unterscheidbaren Werke in Zukunft eindeutig benannt werden können.

Das MWV ist in die Großabschnitte Vokalmusik – Bühnenmusik – Instrumentalmusik – Miscellanea eingeteilt. Innerhalb dieser vier Abschnitte finden sich sowohl inhaltlich begründete Zusammenfassungen von Werken (Geistliche bzw. Weltliche Vokalmusik, Sinfonien, Konzerte etc.) als auch besetzungstechnische Aspekte, die es zum Beispiel ermöglichen, alle weltlichen A-cappella-Chöre in einer Abteilung zu finden. Hier schreitet das Verzeichnis von groß besetzten zu kleiner besetzten Formationen voran (siehe die Aufstellung im Anhang dieses Beitrages). Den Werkgruppen folgt ein Kapitel, das nähere Angaben zu insgesamt 159 Sammelquellen enthält. Das sind 60 Drucke und knapp 100 Handschriften, die aus mehr als zwei, im Extremfall aus über 20 Stücken bestehen und im eigentlichen Verzeichnis abgekürzt dargestellt werden. Die beliebteste Form heißt »Sechs Lieder ohne Worte«. Insgesamt gibt es vierzehn solcher Sammlungen, in denen jeweils sechs, aber immer andere Klavierstücke zusammengestellt werden. Um nicht immer dasselbe schreiben zu müssen, wurde die Entscheidung getroffen, bei den Einzelwerken nur auf jenes gesonderte Kapitel zu verweisen, in dem dann ausführlich über die jeweilige Sammelquelle unterrichtet wird.

Darüber hinaus gibt es zwei Anhänge, die einerseits über Werke zweifelhafter Echtheit informieren, andererseits Mendelssohns differenzierten Umgang mit fremden Werken beleuchten. Hier eröffnet sich ein ganz eigener, differenzierter Kosmos, dessen räumliche Dimensionen bisher kaum ausgelotet waren. Diese Seite des künstlerischen Schaffens Felix Mendelssohn Bartholdys gehört in ihrer bemerkenswerten Fülle zu den kaum bekannten Seiten des Komponisten und ist keinesfalls nur auf wenige Stücke von Bach und Händel beschränkt. Den größten Raum nehmen aufführungspraktische Einrichtungen, Uminstrumentierungen und neu geschriebene Orgelstimmen zu Kompositionen des 18. Jahrhunderts ein. Da Mendelssohn jedoch nicht nur als Bearbeiter fremder Werke, sondern auch als Dirigent und Instrumentalsolist, als Programmdramaturg, Berater, Editor und Sammler gewirkt hat, war dieser Bereich sehr groß und forderte konzeptionell eine sinnvolle Einschränkung. In Anhang B flossen zunächst nur Nachweise zu Werken ein, sofern sie in schriftlicher Form erhalten sind. Grenzbereiche stellten Markierungen und kurze Ergänzungen dar, die Mendelssohn bei der Durchsicht in den Musikalien seiner Bibliothek oder anderer Sammlungen anbrachte. Sie wurden erst ab einem bestimmten Grade erwähnt. Völlig unberücksichtigt blieben dagegen Werke anderer Komponisten, die in Briefen zitiert, besprochen oder empfohlen wurden. Denn im Gegensatz zu Notenzitaten in Albumblättern, die in Anhang B Erwähnung finden, liegt die inhaltliche Gewichtung bei Briefen in der Regel auf dem kommentierenden Wort, und ihre Incipits dienen mit wenigen Ausnahmen lediglich der Illustration. Das gilt in besonderem Maße für Fremdzitate.

Das MWV ist in seiner Gesamtheit viel mehr als die bloße Aufzählung von Werken und Quellen. Nachdem tatsächlich der größte Teil an Handschriften in Kopien in der Forschungsstelle der Sächsischen Akademie vereinigt und ein Überblick über den Rest gewonnen war, zeigte sich, dass nicht die Verstreuung das Hauptproblem darstellte, warum kein Werkverzeichnis existierte, sondern die Schwierigkeit, das vorhandene heterogene Material zu vernetzen und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Das beginnt mit der Frage, wie mit der großen Zahl an Fragmenten und Albumblättern umzugehen sei, und endet mit der Notwendigkeit, alle jene kleinen Notate strukturieren zu müssen, deren Charakteristikum gerade die Strukturlosigkeit und Multivalenz der Formen und Inhalte ausmacht. Wo man auch immer glaubte, einen Ansatzpunkt oder ein System gefunden zu haben, gab es irgendwelche Gegenbeispiele, die nicht in das System passten. Die Individualität des Gesamtschaffens Felix Mendelssohn Bartholdys widersetzte sich beharrlich einer einfachen, katalogartigen Zusammenstellung der Werke. Infolgedessen waren ein hohes Maß an Einarbeitung, umfassende Kenntnis der Spezifik Mendelssohnscher Kompositionspraxis und jede Menge Fantasie aller Beteiligten gefragt.

Als besondere Herausforderung erwiesen sich beispielsweise die Rätselkanons. Das sind fast durchweg einstimmig notierte und aus wenigen Takten bestehende kompositorische Einheiten, aus denen der musikalisch Gebildete ein mehrstimmiges polyphones Stück entwickeln kann, so es ihm gelingt, die nicht mitgeteilte Einsatzfolge der verschiedenen Stimmen zu erraten. Diese meist für Albumzwecke notierten Kanons wurden in der bisherigen Mendelssohn-Forschung gewöhnlich als chronologische Liste der Niederschriften mitgeteilt, ohne dass je ernsthaft der Versuch unternommen wurde, die Bezüge zwischen den einzelnen Niederschriften zu untersuchen. In einem systematischen Werkverzeichnis musste es vor allem darum gehen, übergreifende Besonderheiten zu finden, die es auch in Zukunft ermöglichen, neu auftauchende Kanons einordnen zu können: Tonart, Stimmenanzahl, Taktübereinstimmungen. Wie sich zeigte, gibt es zwar über einhundert Kanonniederschriften, allerdings nur reichlich zwanzig verschiedene Kanons. Drei verschiedene Kanons in h-Moll machen dabei die Hälfte aller Kanonniederschriften aus.

Kanons sind indes nur ein Teil des Abschnittes Miscellanea, die bei der Bearbeitung außergewöhnliche Schwierigkeiten mit sich brachten. Amüsant und nervenaufreibend waren auch jene Stücke, die unter Varia eingeordnet werden mussten. Dabei handelt es sich um acht mehrgliedrige Komplexe, in denen nach bestimmten Kriterien kompositorische Einheiten unterschiedlicher Anzahl zusammengefasst wurden. Generell ist den letztlich rund 200 Stücken dieser Rubrik eigen, dass sie in keinem Zusammenhang mit den andernorts aufgelisteten Kompositionen stehen und sich durch ihre individuelle Form einer problemlosen Einordnung in das musikalische OEuvre entziehen. Andererseits handelt es sich um schriftlich fixierte Gedanken, die durch Struktur, Anspruch und ihre meist exakt zu definierende Funktionalität eindeutig zum Gesamtschaffen gehören und deshalb nicht erst im Anhang des Werkverzeichnisses zu nennen waren. Übereinstimmendes Hauptmerkmal ist ferner die in der Regel nur einmalige – da zweckgebundene – Niederschrift. Die Werkgruppe der Varia lässt sich in drei Bereiche einteilen: Kompositionsstudien und Aufzeichnungen für den persönlichen Bedarf; dann: Schriftstücke, die Mendelssohn an befreundete oder fremde Personen gab (also Albumblätter und anderweitige Notate, musikalische Scherze etc.); schließlich Notate mit ungewissem Bezug. Die gewählte Systematik erwies sich als sehr praxistauglich, denn jede neu auftauchende kompositorische Miniatur, von denen es bis zuletzt einige gab, ließ sich dank der sinnvollen Strukturierung der Varia problemlos einordnen. Gerade die entscheidende Frage, ob Mendelssohn nur etwas für sich aufschrieb oder ein Notat an andere Personen und damit außer Händen gab und ihm so einen gewissen Rang verlieh, erwies sich als taugliches Mittel, überhaupt erst einmal die Richtung und damit die Rubrik festzulegen, unter der das Stück weiterzuverarbeiten war.

So war am Ende jede Menge Fantasie vonnöten, um für die vielen Sonderfälle flexible Lösungen anzubieten. Letztlich aber hat jede Komposition von Mendelssohn, die bekannt ist oder nachgewiesen werden konnte, ihren Weg in das Werkverzeichnis gefunden.

Anhang: Übersicht über die Werkgruppen im Mendelssohn-Werkverzeichnis

Rubrik Werkgruppen Anzahl der Nummern
Vokalmusik (A bis K)
Geistliche Vokalmusik (A bis C)
A Groß besetzte geistliche Vokalwerke
Werke für Solostimmen, Chor und Orchester bzw. Chor und Orchester
26
B Kleiner besetzte geistliche Vokalwerke
Werke für Chor a cappella oder mit Begleitung von wenigen Instrumenten oder einem Instrument, auch mit Solostimmen
60
C Geistliche Werke für Solostimmen mit Begleitung 4
Weltliche Vokalmusik (D bis K)
D Groß besetzte weltliche Vokalwerke
Werke für Solostimmen, Chor und Orchester bzw. Chor und Orchester
6
E Kleiner besetzte weltliche Vokalwerke
Werke mit Chor und Klavierbegleitung
2
A-cappella-Werke (F und G)
F Werke für gemischten Chor bzw. Solistenensemble 33
G Werke für Männerchor bzw. Männerstimmen 38
Werke für Singstimmen (H bis K)
H Werke für eine Singstimme und Orchester 8
I Werk für eine Singstimme und Instrumentalensemble 1
Werke für Singstimmen und Klavier (J und K)
J Werke für zwei Singstimmen und Klavier (Duette) 12
K Werke für eine Singstimme und Klavier 129
Bühnenmusik (L und M)
L Singspiele und Opern 7
M Schauspielmusiken und andere Bühnenwerke 16
Instrumentalmusik (N bis W)
Orchestermusik (N bis P)
N Sinfonien 19
O Konzerte und konzertante Werke 14
P Ouvertüren und andere Orchesterwerke 19
Kammermusik (Q und R)
Q Kammermusikalische Werke mit Klavier 34
R Kammermusikalische Werke ohne Klavier 37
Klaviermusik (S bis U)
S Werke für zwei Klaviere 2
T Werke für Klavier zu vier Händen 4
U Werke für Klavier zu zwei Händen 199
Orgelmusik (V und W)
V Orgelwerk für zwei Spieler 1
W Orgelwerke für einen Spieler 61
Miscellanea (X bis Z)
X Vokalkanons 17
Y Instrumentalkanons 21
Z Varia 8
  1. 1Brief vom 9. Juni 1837 von Felix Mendelssohn Bartholdy an den Verlag N. Simrock, S-Smf, gedruckt in Rudolf Elvers (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, Berlin 1968, S. 212–213, hier S. 212.
  2. 2Ralf Wehner, Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (MWV), Studien-Ausgabe, Wiesbaden/Leipzig/Paris 2009, 684 S. (= Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie XIII, Band 1A).
  3. 3Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy (Hg.), Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863, S. 502.
  4. 4Siehe hierzu:Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts nebst Angabe der verlorengegangenen, angefangenen, von fremder Hand bearbeiteten, zweifelhaften und unterschobenen Kompositionen von Dr. Ludwig Ritter von Köchel, Leipzig 1862, 8. unveränderte Auflage bearbeitet von Franz Giegling, Alexander Weinmann und Gerd Sievers, Wiesbaden 1983; Otto Erich Deutsch, Schubert. Thematic Catalogue of all His Works in Chronological Order, London 1951 bzw. Ders., Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge. Neuausgabe in deutscher Sprache bearbeitet und hrsg. von der Editionsleitung der neuen Schubert-Ausgabe und Werner Aderhold, Kassel etc. 1978; John Deathridge, Martin Geck und Egon Voss, Wagner- Werk-Verzeichnis (WWV). Verzeichnis der musikalischen Werke Richard Wagners und ihrer Quellen, Mainz etc. 1986.
  5. 5Peter Ryom, Verzeichnis der Werke Antonio Vivaldis (RV), Leipzig 1974 bzw. Ders., Antonio Vivaldi. Thematisch-systematisches Verzeichnis seiner Werke (RV), Wiesbaden etc. 2007.
  6. 6Wolfgang Schmieder, Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach. Bach-Werke-Verzeichnis, Leipzig 1950.
  7. 7Georg Kinsky, Das Werk Beethovens. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen. Nach dem Tode des Verfassers abgeschlossen und hrsg. von Hans Halm, München/Duisburg 1955; Margit L. McCorkle, Johannes Brahms. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, München 1984; Krystyna Kobylan´ska, Frédéric Chopin. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, München 1979; Margit L. McCorkle, Robert Schumann. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, München 2003; Folger Göthel, Thematisch-Bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981.
  8. 8Brief vom 5. April 1838 an Breitkopf & Härtel, D-DS, Breitkopf & Härtel Archiv, gedruckt in Rudolf Elvers (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, Berlin 1968, S. 71.
  9. 9Brief vom 14. Mai 1845 von Felix Mendelssohn Bartholdy an Edward Buxton, GBOb, MS. M. Deneke Mendelssohn c. 42, fols. 75–76, auszugsweise gedruckt inThe Musical Times 46 (1905), S. 167.
  10. 10Zur Terminologie von verschollenen und verlorenen Mendelssohnwerken siehe Ralf Wehner, »›It seems to have been lost‹: On Missing and Recovered Mendelssohn Sources «, in John Michael Cooper und Julie D. Prandi (Hg.), The Mendelssohns: Their Music in History, Oxford 2002, S. 3–25.
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Heft 3 (2009)
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1867-7061

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