Wissenschaftspolitik und Hochschulen zwischen Bologna und Forschungsexzellenz
In Anbetracht der Tatsache, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen immer stärker unter gesellschaftlichen Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck geraten, lohnt es sich, deren gesellschaftlichen Auftrag (wieder einmal) näher zu beschreiben. Können Hochschulen unternehmerisch und unter der Aufsicht eines von Wirtschaftsexperten dominierten Hochschulrates geführt werden? Ist es gesellschaftlich gewollt, dass Universitäten mehr als 40 % ihrer Einnahmen mit Drittmitteln bestreiten? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der stetigen Zunahme an Stiftungsprofessuren z. B. gestiftet von Energie- oder Automobilkonzernen? Wer bestimmt über das Profil der anwendungsnahen Forschung, die in Ermangelung einer leistungsstarken Industrieforschung verstärkt durch Hochschulen geleistet wird/werden muss? Wer bekommt ein Leistungsstipendium, wenn es zu 50 % von der Wirtschaft finanziert wird? Wie viel Demokratie kann (muss) sich eine Hochschule in dem Spannungsfeld von Exzellenz und Massenuni leisten? Zweifelsohne ist es an der Zeit, auch in Deutschland, vor dem Hintergrund der humboldtschen Tradition und der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Wissenschaft, über die Zukunft unserer Hochschulen gründlich zu streiten. Das Leitbild einer Demokratischen und Sozialen Hochschule1 wird von einer wissenschaftlichen Projektgruppe der Hans-Böckler-Stiftung in dreizehn kurzen, prägnanten Thesen beschrieben. Ein lohnenswerter Ansatz, doch ist diese Hochschule auch in Lehre und Forschung leistungsfähig, kann sie dem internationalen wissenschaftlichen Wettstreit standhalten? Dem steht die Konzeption der vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) maßgeblich mitbeschriebenen »unternehmerischen« oder »entfesselten« Hochschule entgegen, die ihren Gesetzesausdruck im sogenannten Hochschulfreiheitsgesetz in NRW findet. Kann die »unternehmerische« Hochschule auch den Anforderungen der demokratischen und sozialen Hochschule Rechnung tragen? Ist eine Hochschule, deren wesentliche Entscheidungskompetenzen auf einen externen Hochschulrat verlagert werden, der keine demokratische Legitimation hat und somit auch keinem Parlament rechenschaftspflichtig ist – anders als das Wissenschaftsministerium – tatsächlich eine »entfesselte« Hochschule?
In nahezu allen Bundesländern wurden seit Mitte der 1990er Jahre die Hochschulgesetze novelliert, mit dem Ziel einer Neujustierung des Verhältnisses zwischen staatlicher Steuerung einerseits und demokratisch gesteuerter Eigenverantwortung der Hochschule im Rahmen der Selbstverwaltung andererseits – weg von einer Input-Steuerung, verbunden mit einem umfassenden und kleinteiligen Kontrollsystem, hin zu einem Vereinbarungssystem mit stärkerer Budget- und Personalverantwortung, das auf die Ergebnisse von Lehre und Forschung abzielt (Output-Steuerung). Kein Hochschulgesetz gleicht dem anderen und mit dem faktischen Wegfall des Hochschulrahmengesetzes nach der Föderalismusreform I (2006) wird auch der letzte Rest der Gemeinsamkeit bis hin zu Zulassungs- und Abschlussregelungen Schritt für Schritt verschwinden. Allmählich erkennen auch die größten Befürworter des föderalen Systems die negativen Auswirkungen, vor denen alle Bildungsexperten rechtzeitig gewarnt haben. Es gleicht schon einem (deutschen) Anachronismus, wenn wir einerseits die Gestaltung des europäischen Hochschulraums mit Anerkennung, Durchlässigkeit und gemeinsamen qualitativen Standards auf den Weg bringen, gleichzeitig aber im eigenen Land die letzten gemeinsamen Rahmenregelungen über Bord werfen. Spätestens mit dem Auslaufen der Übergangsfrist für die Hochschulbauförderung im Jahr 2013 werden auch die Letzten verstehen, dass damit die armen Länder immer (bildungs-)ärmer werden und die reichen hinzugewinnen.
Die Hochschulproteste 2009/10 waren ein sichtbarer und hörbarer Ausdruck dieser Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft unserer staatlichen Hochschulen, vor allem aus der Perspektive der Studierenden, der zukünftigen Generation.
Bildungsproteste ernst nehmen
Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit die europäischen Bildungsminister und -ministerinnen in Bologna die gleichnamige Erklärung2 für eine der tiefgreifendsten Hochschulreformen verabschiedeten. Eine Erklärung, die das richtige bildungspolitische Ziel der Sorbonne-Erklärung von 1998 weiter verfolgte, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum (und Forschungsraum) bis 2010 zu gestalten. Transparenz der Abschlüsse, Durchlässigkeit im Gesamtsystem, vergleichbare Qualität sind nur drei der erklärten Ziele, denen bis heute bereits 46 Staaten in Europa folgen. Die Ziele von Bologna orientieren sich sowohl an der wirtschaftlichen wie aber auch an der sozialen Entwicklung Europas. Die freie Wahl des Studien- und Arbeitsortes in einem sozialen Europa ohne Grenzen – dem kann man nur zustimmen. Die Internationalität der Wissenschaft bringt die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gestaltung des Prozesses mit.
Leider wurden die Ziele von Bologna sehr schnell durch ein weiteres Dokument des Europäischen Rates dominiert, die Strategie von Lissabon im Jahr 20003d vorgedacht und erfunden, was ofon zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen. Ein ehrgeiziges Ziel, von dem die EU auch 2010 noch weit entfernt ist, das aber leider auch zu einer Instrumentalisierung der Bildung für vorrangig wirtschaftspolitische Zwecke führt. Am Rande erwähnt sei hier nur die fast zeitgleiche Ausweitung der Bildungsaktivitäten der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und die von ihr ausgehenden internationalen Leistungsvergleichsstudien (z. B. PISA).
Studienreform reformieren
Statt eine Feierstunde anlässlich des Bologna-Jubiläums im Juni 2009 durchzuführen, musste sich die Kultusministerkonferenz (KMK) mit den Protesten der mehr als 100 000 Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden auseinandersetzen. Da halfen auch kein Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten im Herbst 2008 und das Ausrufen einer »Bildungsrepublik«, zumal letzteres eher der Vorwahlkampfrhetorik zu entsprechen schien und kaum dazu geeignet war, die immer massiver werdende Kritik aus den Schulen und Hochschulen zu beruhigen. Wie ernst es mit der »Bildungsrepublik« gemeint ist, sieht man aktuell an den Rechenkünsten der Finanzminister, die bereits im Oktober 2009 ein Konzept zur Erreichung des 10-Prozent- Ziels der Bildungs- und Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis zum Jahr 2015 vorlegen sollten. Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Entwicklung des BIP und die öffentlichen Haushalte lassen keine schnelle Lösung erwarten. Die Finanzminister schaffen sogar das Kunststück, durch Neuberechnung der Bildungsfinanzausgaben (z. B. durch Einbeziehung aller Pensionslasten und genutzten Flächen und Gebäude) den erforderlichen Aufwuchs auf Null zu rechen, wobei ihnen auch das sinkende Bruttoinlandsprodukt hilft. Obwohl der Bildungsfinanzbericht 20094 bereits eine Verringerung des Anteils der öffentlichen Bildungsausgaben am BIP in Deutschland im internationalen Vergleich von 5,1 % (1995) auf lediglich 4,8 % im Jahr 2006 (OECD-Durchschnitt 5,7 %) konstatierte, in einer Zeit, in der andere OECD-Länder ihren Anteil teils deutlich steigerten. Auch bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) stagniert Deutschland seit Jahren auf dem Niveau von 2,54 % Anteil am BIP. Im Jahr 2007 betrugen somit die Gesamtaufwendungen (öffentliche und private) für Bildung, Forschung und Entwicklung 8,4 % des BIP. Um das angestrebte Ziel von zehn Prozent zu erreichen, bedarf es eines jährlichen Aufwuchses von 20 bis 25 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildung und FuE. Hinter den aktuellen Zahlen steckt eine in Kindertagsstätten, Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen täglich spürbare Unterfinanzierung, bei der Sanierung der Gebäude ebenso wie beim Personal. Die Bildungsprotestierenden haben auf diese Situation hingewiesen, ebenso wie auf die soziale Ungerechtigkeit im Bildungswesen, die Einführung von Studiengebühren, die verstärkte Ökonomisierung von Bildung und die Probleme in der Umsetzung der Studienreform.
Die Protestierenden spüren sehr genau den Widerspruch zwischen Bildungsrhetorik und Alltagspraxis. Sie wissen, dass ihre Zukunft – nicht die der Wirtschaft allein – von den konkreten Bildungsmöglichkeiten abhängig ist. Junge Menschen, die aus sozialen Gründen weder den Weg zum Abitur noch zu einem erfolgreichen Berufs- oder Studienabschluss ermöglicht bekommen, denen das Geld für das Studium oder eine Berufsausbildung fehlt, können nicht nachvollziehen, wie mit Studiengebühren mehr junge Menschen zum Studium verleitet werden sollen.
Die scharfe Kritik an der deutschen Umsetzung der Studienreform5 war keine pauschale Kritik an der Schaffung des europäischen Hochschulraums, an den Kernzielen des Bolognavertrages. Sie ist sehr konkret eine Kritik an den von der KMK festgelegten, viel zu engen und starren Kriterien (z. B. bei der Dauer der Bachelorstudiengänge) und an der konkreten Neugestaltung der Studiengänge und der Prüfungsordnungen. Bologna und das deutsche Prüfungs(un)wesen passen nicht zusammen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass an vielen Hochschulen und Fachbereichen die Studienreform zu einer ernsthaften qualitativen Verbesserung des Studiums genutzt wurde. Doch in viel zu vielen Fällen wurde alter Wein in neue Schläuche gegossen, wurde nicht erkannt, dass es um einen Paradigmenwechsel in der Lehr- und Studienkultur einschließlich der Prüfungen geht. Studiengänge müssen auf den wissenschaftlichen und beruflichen Kompetenzerwerb ausgerichtet sein. Selbstorganisiertes Lernen, Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Studierenden müssen Raum bekommen und Förderung erfahren. Warum bedarf es der Anwesenheitskontrolle in Vorlesungen, wenn anwendbare Kompetenzen, selbständiges wissenschaftliches Arbeiten, kritische Auseinandersetzung mit Sachverhalten etc. Ziele des Studiums sind? Warum müssen alle Diplomstudiengänge auf konsekutive BA/MA-Studiengänge umgestellt werden? Modularisierung und einheitliches Bewertungssystem sind Möglichkeiten einer gründlichen qualitativen Revision und kompetenzorientierten Neuausrichtung, aber nicht immer kann das dreijährige Bachelorstudium neben einer fundierten wissenschaftlichen Ausbildung auch noch Auslands- und Praxiserfahrung beinhalten. BAStudiengänge führen zum ersten akademischen Abschluss, sie müssen dem Anspruch der wissenschaftlichen, der kritischen Reflexion von Wissen Rechnung tragen. Sie sind und dürfen keine Schmalspurausbildung auf einen Beruf sein. So darf der Begriff der Employability aus den Bolognadokumenten nicht verkürzt werden. Das kann auch nicht im Interesse der unterzeichnenden Unternehmen der Erklärung »Bachelor welcome« von 20046 sein.
Ich wünsche mir mehr Mut zur sinnvollen Flexibilität, die sich an den Zielen der Bologna-Erklärung misst und nicht an starren Strukturvorgaben. Dazu gehört auch die Flexibilität im Anerkennungsverfahren. Es kann doch nicht sein, dass es einem BA-Absolventen leichter fällt, die Uni von Dresden nach London zu wechseln, als in Leipzig oder Bayern Anschluss zu finden.
Eine gründliche Evaluation des bisherigen Umsetzungsprozesses mit allen Beteiligten und eine ehrliche Revision von Fehlentwicklungen können die positiven Ziele des Bologna-Prozesses retten, ja ihn überhaupt erst zum Erfolg führen. Das Akkreditierungsverfahren ist hierbei zwingend mit auf den Prüfstand zu stellen. Der von einigen Ländern und Hochschulen gewünschte schnelle Schwenk von der Programm- zur Systemakkreditierung könnte die Probleme eher verstärken. Auf keinen Fall darf der Erfolg daran gemessen werden, wie viele Studiengänge Ende 2010 als Bachelor und Master angeboten werden. Die Qualität der neuen Studiengänge, der Erfolg der Studierenden und die erfolgreiche Partizipation der Absolventen am Arbeits- und Wissenschaftsmarkt müssen die Gradmesser der erfolgreichen Studienreform sein. Die KMK hat in ihrem Beschluss vom 10. 12. 2009 Eckpunkte zur Korrektur ihrer eigenen Vorgaben beschlossen. Das kann nur ein erster, wenn auch noch unvollkommener Schritt sein.
Doch wie wichtig ist die Studienreform der Wissenschaftspolitik und den Hochschulen überhaupt? Wird sie nicht eher als (lästige) Nebensache betrachtet, die man 2010 abhaken kann, um sich dann wieder vollständig dem Bedeutenderen, der Forschung, zuwenden zu können?
Bologna versus Exzellenzinitiative
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind die Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts. Hier wird vorgedacht und erfunden, was oft erst Jahre oder Jahrzehnte später in gesellschaftliches oder wirtschaftliches Handeln mündet. Die Suche nach Lösungen für kulturelle, soziale, politische, ökonomische, technische oder ökologische Probleme gehört zum Kerngeschäft der Wissenschaft und ihrer Institutionen. Wer zuerst mit einer Lösung auf den ›Markt‹ kommt, kann national oder international Reputation erfahren, als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin, als Universität oder Forschungseinrichtung. Der Wohlstand einer Nation kann davon abhängen, wie gut es ihr gelingt, z. B. den technologischen Fortschritt voranzutreiben. Das ist nicht neu und galt schon, weit bevor es ein Lissabon-Ziel gab. Neu ist die internationale Dynamik, die auch die Hochschulen und Forschungseinrichtungen verstärkt erfasst hat. Neu ist der finanzielle Druck, der damit einhergeht, denn nur wer bereits gut ist, hat die Chance, zusätzliche Mittel (Drittmittel) einzuwerben und damit noch besser zu werden. Wesentliche Faktoren dafür sind die erworbene Stellung im DFGRanking und die Forschungseinrichtungen im Umfeld der Universitäten7. Bei sinkender Grundfinanzierung und gleichzeitig steigenden Aufgaben erlangen die Drittmittel eine immer größere Bedeutung zur Sicherung der Qualität von Lehre und Forschung. Die ostdeutschen Hochschulen haben im Ländervergleich einen erheblichen Wettbewerbsnachteil. Sachsen hat einen enorm steilen Entwicklungsgradienten seit 1990 aufzuweisen, dank dichter Forschungslandschaft und leistungsfähiger Universitäten. Doch es ist kaum möglich, in nur zwanzig Jahren, die noch dazu durch einen umfassenden Neustrukturierungsprozess und eine enorme Personalerneuerungsquote bei gleichzeitig fast verdoppelten Studierendenzahlen und Stellenabbau geprägt waren, auf das gleiche Ausgangsniveau tradierter westdeutscher Universitäten zu gelangen. Der Aufholprozess hat begonnen und ist in einigen Bereichen auch gelungen. Auf keinen Fall darf es in den kommenden Jahren zu einem Ausbremsen z. B. durch fehlende oder unzureichende Grundfinanzierung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen kommen. Das würde den erfolgreich begonnenen Prozess des Aufbaus einer hochpotenten Forschungslandschaft mitten im Lauf zurückwerfen. Die im Jahr 2008 gestartete Landesexzellenzinitiative mit einem Volumen von ca. 140 Mio. Euro (EU und Landesmittel) bis 2013 soll die Universitäten in die Lage versetzen, im Wettbewerb um Exzellenz in der Forschung nicht abgehängt zu werden.
Im Juli 2005 unterzeichneten Bund und Länder die erste Vereinbarung zur Exzellenzinitiative. 1,9 Milliarden Euro wurden für einen nationalen Wettbewerb der Universitäten um die besten Graduiertenschulen, Forschungscluster und Zukunftskonzepte zum projektbezogenen Ausbau der Spitzenforschung bereitgestellt. Sachsen hat mit zwei Graduiertenschulen und einem Forschungscluster im ostdeutschen Vergleich sehr gut abgeschnitten, im gesamtdeutschen aber den Nachholbedarf offenbart. Die zweite Runde startet 2010 und es bleibt abzuwarten, inwieweit die Universitäten die Erfahrungen aufarbeiten und u. a. mithilfe der Landesexzellenzinitiative eine bessere Ausgangsposition erlangen können.
Es kann an dieser Stelle keine umfassende Auseinandersetzung mit der Exzellenzinitiative und ihren Folgen stattfinden. Sie hat im Ergebnis zu einer positiven Belebung der Auseinandersetzung um die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit und die notwendige Prioriätensetzung der einzelnen Universität geführt. Sie hat gleichzeitig eine nähere Verbindung zwischen Universität und Forschungseinrichtungen geradezu erzwungen und damit in die traditionelle Versäulung zumindest Bewegung gebracht. Der Wettstreit um Reputation (›Eliteuniversität‹), um die besten Köpfe bei Studierenden, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie um Drittmittel hat einerseits die Wissenschafts- und Hochschullandschaft deutlich belebt, andererseits aber auch stärker differenziert. Welche Folgen hat das für die Hochschullandschaft insgesamt? Was passiert in Forschung und Lehre, wenn wissenschaftliches Spitzenpersonal dem Erfolg hinterherwandert? Was bedeutet diese Ausdifferenzierung für die wirtschaftliche Entwicklung und für den wissenschaftlichen und den Fachkräftenachwuchs in einer Region? Bleibt die Lehre auf der Strecke, wenn sich alles um die Forschung dreht? Die wissenschaftspolitisch zu beantwortenden Fragen liegen auf dem Tisch, werden aber derzeit eher an den Rand gedrängt, da die zweite Runde der Exzellenzinitiative politisch und von den Universitäten und Forschungseinrichtungen gewollt ist – ohne ausreichende Evaluierung der ersten Runde. Am Ende der nächsten Runde der Exzellenzinitiative wird die Hochschullandschaft in Deutschland anders aussehen. Es wird wenige Spitzenuniversitäten geben, die eine Magnetwirkung auf Studierende und Wissenschaftler aus aller Welt ausüben. Drei oder zwölf – die Frage bleibt heute noch offen. Werden die TU Dresden mit einem unvergleichlich dichten Forschungsumfeld oder die Universität Leipzig in diesem Rennen mit Schritt halten können? Ohne die Unterstützung des Landes, insbesondere durch eine ausreichende, verlässliche Grundfinanzierung, wird es nicht möglich sein. Sachsens Hochschulen haben nicht nur die zentrale Aufgabe, neues Wissen zu generieren, sondern dieses möglichst zügig auch in die Gesellschaft zu transferieren. Sie müssen die Lücke der fehlenden Industrieforschung schließen, dürfen aber nicht darauf reduziert werden. Und sie haben eine mindestens ebenso wichtige Aufgabe – den dringend notwendigen wissenschaftlichen und Fachkräftenachwuchs zu bilden. Die Auswirkungen der Halbierung der Geburtenzahl nach 1990 auf die Fachkräftesituation und der ab 2010 einsetzende massive Generationswechsel in Unternehmen, Verwaltungen und wissenschaftlichen Einrichtungen sind enorme gesellschaftliche Herausforderungen. Die Hochschulen sind die einzigen Institutionen, die in der Lage sind, die demografische Entwicklung abzumildern, wenn es ihnen gelingt, junge Menschen aus anderen Ländern und dem Ausland nach Sachsen zu holen. Allerdings bleibt abzuwarten, wie sich der angekündigte (weitere) Stellenabbau im öffentlichen Dienst des Landes als Negativbotschaft für Einwanderungswillige auswirkt oder gar die Tendenz zur Abwanderung der gut Ausgebildeten aus Sachsen verstärkt. Die zu erwartenden doppelten Abiturientenjahrgänge in den westlichen Ländern und der Bund-Länder-Hochschulpakt8 zur Schaffung bzw. zum Erhalt von Studienplätzen sind die große Chance, diese Herausforderung des wachsenden Fachkräftebedarfs zu bestehen.9
Das wird allerdings nur gelingen, wenn neben der Qualität der Forschung auch die Qualität der Lehre stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird. Die Qualität der Studienreform einschließlich der personellen Ausstattung für die Lehre, auch in den Bereichen, die zeitweilig nicht im besonderen Fokus der Forschung stehen wie z. B. die Lehrerausbildung, wird mit darüber entscheiden, ob Sachsens Hochschulen attraktiv sind. Dazu gehören die Studienfinanzierung – Studieren ohne Gebühren –, innovative Studienund Lehrformen, die Möglichkeiten mit Kind zu studieren, die Attraktivität des Studiums für junge Frauen ebenso wie deren Aufstiegsmöglichkeiten und die Durchlässigkeit für beruflich Qualifizierte.
Die Hochschulen insbesondere in einem ostdeutschen Land dürfen nicht alleingelassen werden mit dem Spannungsverhältnis Studienreform versus Forschungsexzellenz. Schon gar nicht, indem man ihnen die Handlungsspielräume nimmt, die durch rückgängige Studierendenzahlen in den kommenden Jahren entstehen. Der Wissenschaftsrat, dem alle sechzehn Wissenschaftsminister und -ministerinnen ebenso wie der Bund angehören, hat 2008 die Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Studium und Lehre beschlossen, die den mehrdimensionalen Handlungsbedarf umfassend aufzeigen. Er fordert eine deutlich verbessert finanzielle Ausstattung (1,1 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich) jenseits der befristeten Projektförderung. Diese Empfehlungen müssen in der Wissenschaftspolitik und in den Hochschulen ebenso ernst genommen werden wie die Beschlüsse zur Exzellenzinitiative in der Forschung. Die in Sachsen anstehende Hochschulentwicklungsplanung für die nächsten zehn Jahre muss diesen Herausforderungen Rechnung tragen, denn Sachsens gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft wird ganz wesentlich von der Leistungsfähigkeit seiner Menschen und wissenschaftlichen Institutionen abhängig sein.
- 1Hans Böckler Stiftung (Hg.), Hochschulen in gesellschaftlicher Verantwortung, 2009, http://www.boeckler.de/pdf/stuf_proj_leitbild_leitbild_2009.pdf (03.02.2010).
- 2Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, Bologna 19. Juni 1999.
- 3Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Lissabon 23. und 24. März 2000, http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm (04.02.2010).
- 4Statistisches Bundesamt (Hg.), Bildungsfinanzbericht 2009. Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2009.
- 5Vgl. auch Ulf Banscherus u. a., Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, Frankfurt a. M. 2009.
- 6Bachelor welcome. Erklärung führender deutscher Unternehmen zur Umstellung der Bachelor- und Masterabschlüsse in Deutschland, 2004, http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/Bachelor_Welcome.pdf/$file/Bachelor_Welcome.pdf (04. 02. 2010).
- 7Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (Hg.), Gemeinsame Forschungsförderung des Bundes und der Länder. Finanzströme im Jahre 2007, Bonn 2008.
- 8Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern gemäß Artikel 91 b Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes über den Hochschulpakt 2020 (Zweite Programmphase), 2009, http://www.bmbf.de/pub/verwaltungsvereinbarung_hochschulpakt_zweite_programmphase.pdf (04.02.2010).
- 9Winfried Killisch und Karl Lenz (Projektleiter), Hochschulen im demografischen Wandel. Die Lage in Sachsen. Studie erstellt im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, Dresden 2007.