Der Umgang der Gesellschaft mit Intellektuellen
Wissenschaftler nach der Wende
A. Zusammenfassende Feststellung
Die Einrichtungen für Wissenschaft, Forschung und Lehre der Deutschen Demokratischen Republik (Akademien, Universitäten, Technische Hochschulen und Spezialhochschulen) wurden in den Geltungsbereich des Grundgesetzes einbezogen, indem man sie an die institutionellen und strukturellen Bedingungen anpasste, die zum Zeitpunkt des Beitritts der fünf neu geschaffenen Länder in der Bundesrepublik Deutschland herrschten. Im Einigungsvertrag wurde dafür der Begriff »Einpassung« benutzt (Art. 38, Abs. 1). Der Vorgang reicht allerdings zurück in die Zeit der reformierten DDR und fand seinen rechtlichen Ausdruck für den Hochschulbereich in der »Verordnung über Hochschulen (Vorläufige Hochschulordnung)«, die noch vom Ministerrat der DDR erlassen wurde und zusammen mit dem Einigungsvertrag und dem Ländereinführungsgesetz diese Anpassung rechtlich steuerte. Der Verlauf war unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um die außeruniversitären Einrichtungen oder die Hochschulen handelte, ob die Hochschuleinrichtungen »überführt« oder »abgewickelt« wurden (Art. 13, Abs. 2 Einigungsvertrag) und ob man aus den abgewickelten Einrichtungen eine Nachfolgeeinrichtung aufbaute oder nicht. In diesen Fällen gab es jeweils eigene Akteurskonstellationen (z. B. Wissenschaftsrat, Hochschulstrukturkommissionen, Personal- und Fachkommissionen, Gründungskommissionen, Landesgesetzgeber). Die dadurch erzeugten unterschiedlichen Dynamiken wirkten sich auf die betroffenen Wissenschaftler unterschiedlich aus. Insgesamt allerdings sanken deren Chancen für eine Weiterbeschäftigung drastisch, zum einen wegen der Reduktion der Stellen, zum anderen wegen der westdeutschen Konkurrenten, die insbesondere in die abgewickelten und wieder aufgebauten Hochschulbereiche, also vor allem in die Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und teilweise auch die Geisteswissenschaften, drängten. Dies führte hier neben der institutionellen und strukturellen auch zu einer personellen Verwestlichung, übrigens auch zu einer Vermännlichung. Von dem bewahrenswerten Erbe der DDR-Hochschulen (z. B. stärkere Lehrorientierung des Lehrkörpers, gute Betreuungsrelationen, Forschungsstudium, aber auch basisdemokratische Regelungen aus der revolutionären Übergangszeit) blieb nicht viel übrig. Dennoch waren die langfristigen Rückwirkungen auf das westdeutsche Wissenschaftssystem beträchtlich. Insbesondere wurde die Begutachtung der öffentlich getragenen Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat in Ostdeutschland (Art. 38, Abs. 1 Einigungsvertrag) später auf westdeutsche Einrichtungen ausgedehnt.
B. Erläuterungen
1. Anders als die Kirchen, anders aber auch als etwa die Theater, bildeten die Akademien und Hochschulen keine Schutzräume für die wachsenden Protestbewegungen. Die Wissenschaftler, Hochschullehrer und Studenten gehörten in ihrer überwiegenden Mehrheit auch nicht zur Speerspitze der friedlichen Revolution.
2. Nach der (zufälligen) Öffnung der Mauer und dem rapiden Verfall der SEDHerrschaft wurden besonders die Studenten von den basisdemokratischen Ideen des Umbruchs ergriffen. Diese realisierten sich im Runden Tisch und in der Aufhebung von Verfassungsartikeln und Gesetzen (negative Verfassungsgebung). Dazu gehörte auch, dass die Hochschulparteileitungen der SED aufgelöst wurden, an die Stelle der FDJ gewählte Studentenräte traten und dass man das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, die Militär- und Zivilverteidigungsausbildung und die dreijährige Arbeitsplatzbindung der Absolventen beseitigte.
3. Nach der Wahl vom 18. März war klar, dass die DDR auf ihre Eigenstaatlichkeit verzichten und stattdessen der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 (alt) des Grundgesetzes beitreten werde. Die Frage war nur, wie schnell und auf welche Weise dies geschehen sollte. Dies wurde in den Debatten zum Einigungsvertrag ausgehandelt. Bereits während dieser Verhandlungen diente aber das Hochschulrahmengesetz der Bundesrepublik als Bezugspunkt für die Umgestaltung des Wissenschafts- und Hochschulwesens in der DDR. Es gab auch vor dem Beitritt Abwicklungen. Überhaupt ist diese zweite Phase der friedlichen Revolution dadurch gekennzeichnet, dass man im Blick auf den Beitritt auf eine eigenständige Institutionenbildung weitgehend verzichtete. Eine wichtige Ausnahme bildete das von der Volkskammer beschlossene Ländereinführungsgesetz, wodurch das Gebiet der DDR in fünf Länder gegliedert wurde. Nach vollzogenem Beitritt unterstellte man die Wissenschaftsund Hochschuleinrichtungen der DDR den Ländern, in denen sie örtlich lagen (Art. 13, Abs. 1 Einigungsvertrag). Die fünf Länder übernahmen die Kulturhoheit.
4. Der Einigungsvertrag in Verbindung mit dem von der Volkskammer beschlossenen Ländereinführungsgesetz und der am 1. Oktober 1990 in Kraft getretenen Vorläufigen Hochschulordnung markiert den rechtlichen Rahmen, in dem sich ab dem 3. Oktober 1990 die Umgestaltung des Wissenschafts- und Hochschulbereichs abspielte. Sie erfolgte also nicht mehr zentral, sondern dezentral. Im Einigungsvertrag hatte man den Unterschied zwischen der »Überführung« und der »Abwicklung« vormaliger öffentlicher DDR-Einrichtungen fixiert. »Abwicklung« ist eine Institution des bürgerlichen Rechts, z. B. des Vereinsrechts, und beschreibt die rechtlichen Schritte, um etwa einen Verein zu liquidieren und damit seine Rechtsfähigkeit aufzuheben. Dies ist »Abwicklung « im eigentlichen Sinn. Im Einigungsvertrag wurde der Begriff aber auch in einem erweiterten Sinn verwendet, nämlich als eine Art Übergangsrecht, unter dem der öffentliche Dienst der beigetretenen Länder neu gestaltet werden konnte. Hier bedeutete Abwicklung die Auflösung einer öffentlichen Einrichtung, mit der Folge, dass sämtliche Beschäftigungsverhältnisse ohne Angabe von Gründen ordentlich gekündigt waren und dass auch bei Aufbau einer neuen öffentlichen Einrichtung ähnlichen Charakters kein Anspruch auf Wiedereinstellung bestand. Dieses Verständnis von »Abwicklung« war verbunden mit der berühmt-berüchtigten Warteschleifenregelung, derzufolge die so Ausgestellten 70 % ihres letzten Gehalts 6 bzw. 9 Monate, abhängig vom Alter, weiterbezahlt bekamen. Meist begann nach Ablauf dieser Frist die Arbeitslosigkeit. Es handelte sich also um eine Art kollektive Kündigung. Daneben waren auch persönliche Kündigungen möglich: als ordentliche (wegen mangelnden Bedarfs oder mangelnder Qualifikation) oder als außerordentliche (z. B. wegen Stasi-Mitarbeit). Aufgrund dieser Bestimmungen wurde es für die Länder wichtig, zu entscheiden, ob eine Wissenschafts- oder Hochschuleinrichtung (oder Teileinrichtung) »überführt« oder »abgewickelt« und ob im Fall der »Abwicklung « eine neue Einrichtung gegründet werden sollte.
5. Im Winter 1990/91 wurden von den zuständigen Landesministern viele Abwicklungen beschlossen. Im Mittelpunkt standen dabei die ›politiknahen‹ Wissenschafts- und Lehrbereiche, vor allem Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Teile der Geisteswissenschaften. Zwischen ›politiknah‹ und ›regimenah‹ ist zu unterscheiden. ›Politiknah‹ heißt, dass die Lehrinhalte bestimmter Fächer auf den Marxismus-Leninismus bezogen waren, ›regimenah‹, dass man unabhängig von den Lehrinhalten dem Regime nahestand. Gegen die Abwicklungsbeschlüsse protestierten die betroffenen Studenten. Der Kompromiss bestand darin, die abgewickelten Fächer mittels Gründungskommissionen verändert wieder aufzubauen – wieder ›aufzuwickeln‹ – und den Studenten so ein Weiterstudium und einen anerkannten Studienabschluss zu ermöglichen. In diesen Kommissionen, die überwiegend mit westdeutschen Wissenschaftlern besetzt wurden, hatten die ostdeutschen Studenten und auch Vertreter des ostdeutschen Mittelbaus ein Mitspracherecht.
6. Die Wissenschafts- und Hochschulbereiche in West und Ost waren institutionell und strukturell sehr verschieden. Die zwei deutschen Gesellschaften hatten sich auch hier auseinandergelebt. Der Westen folgte immer noch einem modifizierten Humboldtmodell mit der Einheit von Forschung und Lehre in der Universität, der Osten dem Sowjetmodell mit der (tendenziell) stärkeren Forschungsorientierung in der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin und der stärkeren Lehrorientierung in den Hochschulen. Zudem hatte sich die Akademie der Wissenschaften der DDR mit der III. Hochschulreform von den Hochschulen insofern ›unabhängig‹ gemacht, als sie danach auch A- und B-Promotionen durchführen durfte. Nicht, dass an den Hochschulen nicht geforscht worden wäre. Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil es viele Fächer überhaupt nur an Universitäten gab. Aber die Akademie der Wissenschaften der DDR und die Hochschulen gingen weitgehend getrennte Wege und das höhere Prestige lag bei der gesamtstaatlichen Akademie. Im Westen blieben die Akademien regional gebundene Gelehrtengesellschaften – wie ja auch im Osten die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Die Hochschulen behielten trotz wachsender Bedeutung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen das Monopol für Promotion und Habilitation. Mit dem Wissenschaftler-Integrations-Programm, vom Wissenschaftsrat am 5. Juli 1991 empfohlen, sollten Mitarbeiter gesamtstaatlicher Akademien der DDR, also der ehemaligen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, der Bauakademie und anderer vergleichbarer Einrichtungen, in die Hochschulen eingegliedert werden, um auch einen Teil der Forschung in diese zurückzuholen. Dieses Programm scheiterte nahezu auf der ganzen Linie. Die Hochschulen zeigten sich wenig geneigt, das Personal aus den Akademien aufzunehmen. Ihre Möglichkeiten dazu waren allerdings auch äußerst gering.
7. Dies hat natürlich auch mit den finanziellen Rahmenbedingungen zu tun, welche die neu gegründeten Länder einzwängten. Mit den Hochschulerneuerungsgesetzen suchten die Länder die Organisationsform neu zu fixieren, mit den Hochschulstrukturgesetzen den finanzierbaren Personalbestand. Auch hier war die Ausgangslage zwischen Ost und West extrem verschieden. Ich wähle zur Illustration den Vergleich zwischen Sachsen und Baden-Württemberg. Beide Länder hatten ungefähr dieselbe Zahl an Lehrpersonen im Hochschulbereich, aber Baden-Württemberg hatte die vierfache Zahl an Studenten. In der DDR studierten nur 12 % eines Altersjahrgangs, in der Bundesrepublik 25 %. Die Betreuungsrelation der DDR wäre zwar für die Bundesrepublik wünschenswert gewesen, aber sie galt als nicht finanzierbar. Die Ostländer waren also gezwungen, im Wissenschafts- und Hochschulbereich Stellen abzubauen.
8. Die Übertragung der Kulturhoheit auf die ostdeutschen Länder hatte trotz dieser finanziellen Restriktionen allerdings zunächst eine interessante Folge: Sie bauten aufgrund zeitlich begrenzter Strukturhilfen nicht nur um, sondern auch aus. Die Steuerung durch den Wissenschaftsrat verlor dabei an Bedeutung. Die Hochschulstrukturkommissionen der Länder, deren Einrichtung er empfohlen hatte, übernahmen die Führung. Die gesamtstaatliche wurde durch die landesspezifische Steuerung ersetzt. Der Wissenschaftsrat hatte zwar empfohlen, die Hochschulforschung durch die Integration von Akademiewissenschaftlern in die Hochschulen zu stärken, die Zusammenarbeit zwischen den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und den Hochschulen zu verbessern, die Spezialhochschulen zu integrieren, leistungsfähige Fachhochschulen zu gründen, die Studiengänge zu entspezialisieren, vor allem aber: Vorhandenes zu erneuern, statt Neues zu gründen. Aber die wenigsten hielten sich daran. Dies schuf zusätzliche finanzielle Probleme, die sich schon wenig später auswirken sollten. An anderer Stelle setzte ein zweiter Rückbau ein.
9. Bei schrumpfender Stellenzahl reduzierten sich die Beschäftigungschancen der ostdeutschen Wissenschaftler. Sie verschlechterten sich wesentlich auch deshalb weiter, weil in den zumeist offenen Berufungsverfahren für alle Professorenstellen auch westdeutsche Bewerber zugelassen waren. Diesem Verfahren mussten sich alle Mitglieder der überführten Einrichtungen unterziehen. Die Personalkommissionen überprüften die persönliche Integrität, die Fachkommissionen die fachliche Kompetenz. Entscheidend für die Chance der Weiterbeschäftigung war, ob eine Stelle in einem verkürzten oder in einem ordentlichen Berufungsverfahren besetzt wurde. Je ›geschlossener‹ das Verfahren war, desto größer waren die Chancen, dass die ostdeutschen Wissenschaftler nicht durch westdeutsche verdrängt wurden. In den abgewickelten und dann neugegründeten Bereichen waren die Verfahren ganz offen. Das Resultat war, wie schon erwähnt, eine weitgehende Verwestlichung und auch Vermännlichung des Lehrkörpers. Man sprach, vielleicht etwas zu boshaft, auch von einem Konjunkturprogramm für westdeutsche Privatdozenten.
10. Angesichts der institutionellen und strukturellen Unvereinbarkeit der Wissenschafts- und Hochschulbereiche in Ost und West musste im Grunde ›der Osten‹ ›dem Westen‹ weichen. Zu einer Synthese kam es nicht. Diese Anpassung des Ostens an den Westen bedeutete aber zugleich, dass die Mängel des sich durchsetzenden Modells eher verstärkt als abgeschwächt wurden. Das Wissenschafts- und Hochschulsystem der Bundesrepublik Deutschland ging am Ende nicht gestärkt aus der Einigung hervor.
11. Eine Änderung mit langfristiger Wirkung betraf allerdings auch den Westen: Als Folge seiner Rolle im Einigungsprozess konnte der Wissenschaftsrat seinen Einfluss auf die Gestaltung des Wissenschafts- und Hochschulwesens in ganz Deutschland erweitern. Schon bald wurde klar: Das vereinigte Deutschland braucht im Wissenschafts- und Hochschulbereich eine grundlegende Reform – um deren Gestalt seitdem gerungen wird. Dabei zeigt sich, dass auch manches von dem, was es in der DDR bereits gab, ›wiedererfunden‹ wird. Ich erinnere etwa an die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur (G 8) oder an das Forschungsstudium in Gestalt der Strukturierten Doktorandenausbildung.