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Postrevolutionäre Intellektuellenpolitik?

Das Jubiläumsjahr 2009 hat zu allerlei Rückblicken auf die Ereignisse des Jahres 1989 und die seitdem vergangene Zeitspanne geführt. Zu den bemerkenswertesten Ergebnissen der Neubesichtigung des Umbruchs von 1989 gehört eine stärkere Bereitschaft, dem Vorgang revolutionäre Qualität zuzugestehen. Dies ist deshalb erstaunlich, weil sich selbst viele Bürgerrechtler geweigert hatten, von einer Revolution zu sprechen, und weil sich die Mehrheit der damaligen Demonstranten in ihrer Enttäuschung über das Ergebnis des kollektiven Aufbruchs dem bitteren Urteil von einer steckengebliebenen oder gar verratenen Revolution angeschlossen zu haben schien. Dem Alltagsverstand fehlt zur richtigen Revolution wohl das Blutvergießen und die emanzipatorischer Selbstermächtigung entspringende Veränderung des Elitentableaus, geschulten Marxisten- Leninisten dagegen ist der Sprung aus der realsozialistischen Zukunft in die kapitalistische Gegenwart sinnwidrig zum Verständnis einer Revolution.

Tatsächlich hat der Herbst 1989 einige Besonderheiten bereitgehalten, die nun beinahe großkonsensuell als »friedliche Revolution« zu einer welthistorischen Einmaligkeit stilisiert werden. Dabei ist die Geschichte der Revolutionen durchaus nicht nur eine der Blutorgien, bei so manchem Umsturz fiel der Kugelhagel eher bescheiden aus, manche Stadtrevolution begnügte sich mit der Besetzung einiger strategischer Punkte und setzte auf die beeindruckende Kraft der Großdemonstration. Die Kategorie »friedliche Revolution« verweist auf den stillen Abschied der Altherrschenden von der Macht, denn der Unmut der Revolutionäre schlägt nach aller historischen Erfahrung durchweg erst dann in exzessive Gewalt gegen Sache und Personen um, wenn die Staatsmacht zum Knüppel oder Ärgerem greift. In dieser Hinsicht also Bemerkenswertes, aber eigentlich nichts Einmaliges an der Revolution, die dem Regime Erich Honeckers den Garaus machte.

Auffälliger war dagegen ein anderer Zug des deutschen Herbstes 1989: Was (bei aller medialen ›innerdeutschen‹ Verflechtung) als Revolution der DDR-Bevölkerung begann, wandelte sich im Laufe der Monate zu einem Transformationsvorgang, in dem die alte Bundesrepublik eine wachsende Rolle spielte, ohne aber selbst in irgendeiner Weise revolutionär erschüttert zu werden. Auch dies ein Phänomen, für das man sich historische Vorbilder denken kann, wenn etwa die enormen regionalen Disparitäten in Rhythmus, Engagement und Radikalität der Revolutionäre von 1848 in Preußen, Sachsen und Südwestdeutschland Revue passieren. Es stand doch aber in der 48er Revolution für alle deutschen Territorialstaaten die politische Stabilität grundsätzlich auf dem Spiel. Dies war 1989 definitiv anders. Die Revolutionäre im Osten hatten zu akzeptieren und akzeptierten, dass in der Bundesrepublik niemand ernsthaft Anlass zum revolutionären Umbruch sah, während in ihrem eigenen Territorium ein eben noch für ziemlich stabil gehaltenes Regime in kürzester Zeit den Bach der Geschichte hinab gespült wurde. Mit dem immer öfter als Zielhorizont absehbaren deutschen Vereinigungsprozess wurde diese Koexistenz von sich revolutionierendem Landesteil und stabiler Mehrheitsgesellschaft immer mehr zu einem prägenden Faktor, für den die Revolutionsgeschichte kaum Blaupausen bereithielt und deshalb manchen engagierten Revolutionär zur Verzweiflung trieb.

Der jubilierende oder frustrierte Rückblick des Jahres 2009 blieb zu großen Teilen auf den nationalen Rahmen der Veränderungen fixiert, weitete sich vorsichtig auf die Ähnlichkeiten der ostmitteleuropäischen Umbrüche, blieb aber mit Ausnahmen reserviert gegenüber der transnationalen und vor allem gegenüber der globalen Dimension von ›1989‹. Dabei sticht diese dem Beobachter durchaus ins Auge und wird in den Bilanzen der Kommemorationsliteratur auch als Fehlstelle vermerkt. Timothy Garton Ash hat kürzlich in einem Literaturbericht die Erwartung geäußert, dass bis 2019 diese globale Dimension – die er vor allem durch die Einbeziehung Chinas in die Betrachtung anvisiert sieht – zum Thema werden und die Sterilität des 2009er Erinnerns herausfordern würde.1 Tatsächlich beginnt sich das Interesse an dieser globalen Dimension in dem Maße zu entfalten, wie 1989 als Beginn oder Teil eines Umbruchs zu einer neuen Weltordnung interpretiert wird.2 War aber 1989 nicht nur eine Revolution nationalen Ausmaßes, sondern Teil einer weltweiten Transformation, deren Eruptionen an vielen verschiedenen Orten zu bemerken waren, dann gilt es auch das Verständnis von Revolution, das noch immer vom methodologischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts geprägt ist, zu erweitern. In dieser Perspektive löst sich die Vorstellung von einem betroffenen (östlichen) und einem nichtbetroffenen (westlichen) Teil des Landes sofort wieder auf, denn während der eine Teil rasch und beinahe schockartig zu einem Laboratorium der neuen Globalisierungstrends wurde, kann sich der andere Teil dem keineswegs entziehen.

Je nachdem, wie wir das Jahr 1989 interpretieren, werden sich auch die Maßstäbe für die Beurteilung der Vorgänge und ihres Ergebnisses verschieben. Ist jener Landesteil, der sich unter großen sozialen und kulturellen Verwerfungen innerhalb von wenigen Monaten und Jahren wirtschaftlich undchulen rasch zu erhöhen.</p> <p clch nicht genau absehbare Weltordnung einstellen musste, tatsächlich der Nachzügler? Ist die Chance, die die revolutionäre Durchlüftung des festgefrorenen Bodens etablierter Verhältnisse bietet, genutzt worden? Wer hat die Kosten dieses in seiner Bilanz uneinheitlichen Prozesses getragen und wer waren die Gewinner? Man kann all diese Fragen sowohl unter dem Gesichtspunkt der (historischen) Gerechtigkeit beantworten als auch an den Parametern der Effizienz gesellschaftlicher Transformation messen. Beide Maßstäbe erweisen sich als explizierungsbedürftig und können nicht für sich in Anspruch nehmen, von allen geteilt zu werden.


Für die Intellektuellenpolitik schließen sich hier Fragen an, die den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel in Hinsicht auf eine soziale Gruppe zu bewerten versuchen und dabei verschiedene Institutionen des Innovationssystems (von den Hochschulen über die außeruniversitären Forschungsinstitute und die Akademien bis zur Industrieforschung) in den Blick nehmen. Interessanterweise beunruhigen diese Fragen heute nicht in besonders auffälliger Weise. Dies war nach 1989 ganz anders. Nach der Rolle der Intellektuellen wurde gefragt, mit erheblichem Aufwand wurde gerade im Bereich von Wissenschaft und akademischer Lehre nach der Leistungsfähigkeit der Einzelnen, ihrer Fächer und ihrer Strukturen ebenso gefragt wie nach der Legitimation einer Fortsetzung ihres Daseins als staatlich finanzierte Intellektuelle. Einrichtungen wurden abgewickelt, grundlegend verändert oder aus vorherigen Zwängen befreit. Dem evaluierenden Blick entging kaum jemand. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen jenseits der Promotion hatten sich Kommissionen zu stellen, die ihre akademische Kreditwürdigkeit maßen und ihre persönliche Integrität beurteilten.

Die durch den glücklichen Zufall mehrerer Universitätsjubiläen – Halle- Wittenberg 2002, Greifswald 2006, Jena 2008, Leipzig 2009, Berlin 2010 – inspirierte Beschäftigung mit der jüngsten Geschichte der Hochschulen sowie ein breiter Reflexionsprozess unter den Betroffenen hat ein reiches Schrifttum hervorgetrieben.

Ungeachtet der prall gefüllten Bibliographie zeichnet sich bisher kaum ein Konsens in der Beurteilung der Entwicklungen vor und nach 1989 ab.

Unstreitig hat es einen gravierenden Personalwechsel gegeben. Ob der allerdings zu einem vernichtenden Urteil über die Leistungskraft der Wissenschaftler in den Jahrzehnten davor berechtigt, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Denn nur ein zahlenmäßig kleiner Teil der evaluierten Wissenschaftler wurde entlassen, weil ihm fehlende Integrität und mangelnde fachliche Eignung in einer Weise nachgewiesen werden konnte, die eine Kündigung unter den arbeitsrechtlichen Bedingungen der Bundesrepublik aussichtsreich gemacht hätte.

Vielmehr bedurfte es des Rückgriffs auf Argumentationen, die dem Repertoire vergangener Revolutionen entlehnt waren: Bestimmte Fächer wären entweder als Fächer selbst oder jedenfalls in der Art, wie sie in der DDR verstanden worden waren, obsolet geworden. Nach dem Fall der SED-Herrschaft bedurfte es keiner Grundlagenausbildung in Marxismus-Leninismus mehr, eine entsprechende Sektion sei mithin überflüssig und abzuwickeln. Das Argument begegnet nicht zum ersten Mal, mit einem vergleichbaren Selbstbewusstsein hatten die französischen Jakobiner 1793 die Akademie geschlossen und die Mehrheit der Fakultätsstrukturen für entbehrlich erklärt – Ausfluss eines Neuorganisationswillens, der den Vorgang zur Revolution macht und nicht ohne Bruch mit der alten Rechtsordnung zu haben ist. Dem Argument, dass in neuen Verhältnissen die Bannerträger des alten Regimes überflüssig werden, ist denn auch kaum etwas entgegenzusetzen.

Das Argument erweiterte sich nach dem Abwicklungsbeschluss auf die Frage der finanziellen Zumutbarkeit. Die ostdeutschen Hochschulen ›litten‹ unter einer beträchtlichen Personalausstattung, die verschiedenen Entwicklungstrends der vorangegangenen 30 Jahre geschuldet war: Die von Ulbricht vorangetriebene Bildungsexpansion hatte erst Honeckers Schwenk zur Sozialpolitik und zum Facharbeiter als Leitbild zum Versiegen gebracht, die Universitäten aber waren personell für weit mehr als die rund 12 % einer Alterskohorte ausgestattet. Dazu kam, dass Universitäten in der DDR viele Aufgaben wahrnahmen, die man sich auch ›outgesourct‹ vorstellen konnte. Vom Ferienlager über den Werkstättenbetrieb bis zur Eigenentwicklung von benötigten Materialien, wo die Kooperation mit der Industrie nicht funktionierte. Entscheidend aber war für die DDR-Universitäten, dass sie spätestens seit der dritten Hochschulreform ziemlich konsequent von der Lehre her gedacht, institutionell konzipiert und entsprechend ausgestattet waren. Das heißt nicht, um einem langfristig gut gepflegten Vorurteil gleich entgegenzutreten, dass in den Universitäten nicht geforscht wurde, aber es bedeutete, dass die Ausbildungsfunktion zum Angelpunkt des Selbstverständnisses wurde. Eine solche Universität bedurfte einer nicht wesentlich größeren Zahl von Professoren, aber sie bedurfte eines deutlich ausgeweiteten akademischen Mittelbaus, der sich teilweise im Laufe einer langen Berufspraxis in Positionen schob, die man wohl heute als Lehrprofessuren bezeichnen würde.

Gegen jede Überzeichnung der Qualität dieser Entwicklung sollte man festhalten, dass dies auch eine Einladung sein konnte (!), sich aus der Forschung zurückzuziehen. Zwingend verbunden mit einer solchen Position war dies aber keineswegs. Vielmehr spielten die Möglichkeiten für Forschung (vom Kontakt zum internationalen Forschungsstand via Konferenz, Gespräch und Buch bis zu den Chemikalien und Apparaturen) eine ausschlaggebende Rolle für die Bestimmung des Grades, zu dem dieses System in der Lage war mit anderen Wissenschaftssystemen mitzuhalten.

Die Mehrheit der an ostdeutschen Hochschulen nach 1993 nicht mehr Beschäftigten wurde entlassen, weil sie in diesem System der von der Lehre her gedachten Universität tätig waren, für diese Universität aber das Geld künftig nicht mehr verfügbar war. Dieser Umbruch wurde vollzogen, indem ein Stellenplan festgelegt und anschließend diese Stellen ausgeschrieben wurden, mit dem Recht eines jeden, sich auf diese Stellen zu bewerben. Es hat an manchen Orten Festlegungen gegeben, ostdeutsche Bewerber zu bevorzugen oder ihnen eine Art Vertrauensvorschuss zu geben. Die Stellen im Mittelbau, die vordem häufig unbefristet waren, wurden nun befristet. Ihre Zuordnung geschah primär unter dem Gesichtspunkt der Forschungsausrichtung von Lehrstühlen, erst in zweiter Linie aus der Sicht des Lehrbedarfes.

Dieser grundsätzliche Wandel in der Ausrichtung der Universitäten entsprang dem Zusammenspiel zweier Tendenzen. Die stärkere darunter war die Antizipation unter ostdeutschen Akteuren, dass die Universitäten künftig weiterhin von staatlicher Alimentierung, nunmehr aber von der der Bundesrepublik abhängen würden. Entsprechend wurde Kommissionen eine breite Mitsprache an der strukturellen Umgestaltung eingeräumt, die sich am westdeutschen Hochschulmodell ausrichtete. Die schwächere, aber nicht unbedeutende Tendenz war, dass innerhalb der ostdeutschen Universitäten eine Gruppierung sich stärker Geltung zu verschaffen wusste, die den Forschungsimperativ höher gewichtet sehen wollte. Sie bestand mehrheitlich aus Naturwissenschaftlern, aber auch einzelne Geisteswissenschaftler vorzugsweise aus kleineren Fächern waren unter ihnen. In der diskursiven Gemengelage vermischten sich Plädoyers für die stärkere Ausrichtung der Universitäten an der Forschung mit Annahmen, die Naturwissenschaften (und die Theologie) seien in geringerem Maße den Systemeingriffen der SED ausgesetzt gewesen, und mit dem Bemühen, die Leistungsfähigkeit der Hochschulen rasch zu erhöhen.

Unter den Faktoren, die die Neuausrichtung der Universitäten beeinflussten, waren also einmal solche, die der Dynamik einer auf Ostdeutschland begrenzten Revolution entsprangen, und zum anderen solche, die der raschen Vereinigung Rechnung trugen. Der Blick nach außen, über den Tellerrand einer deutschen Hochschulreform, die de facto eine Befestigung der Nichtreform des westdeutschen Systems war, fehlte weitgehend.

Die faktische Entlassung eines erheblichen Teils des Personals – die juristisch gesehen eine Nichtberücksichtigung in einer anderen Universität war – hatte Folgen. Innerhalb der Hochschule machte sich der Systemwandel kaum als kultureller Umbruch bemerkbar, sondern die ostdeutschen Hochschulen fühlten sich nach wenigen Jahren an wie normale westdeutsche Hochschulen. Jedenfalls für diejenigen, die sich nun in dieser Hochschule bewegten. Die Studentenkohorten wechselten rasch, die befristet eingestellten Mitarbeiter rotierten nach drei oder sechs Jahren aus der Institution, die verbliebenen ostdeutschen Hochschullehrer näherten sich dem Ruhestand.

Fremdheitsgefühle schlugen der so erneuerten Hochschule eher von außen entgegen. Denn die Entlassenen begnügten sich nicht mit der Aussicht auf eine Karriere im Servicesektor, sondern organisierten sich teilweise neu in Vereinsstrukturen, für die inzwischen sogar der Begriff einer zweiten Wissenschaftskultur eingeführt wurde. Man könnte erwarten, dass zwischen der ersten und der zweiten Wissenschaftskultur ein heftiger Kampf tobe – verwunderlich wäre es nicht mit Blick auf die Bilanz des Personalwechsels, auf die Verletzungen, die ein solcher Prozess notwendigerweise hinterlässt. Man könnte sich auch vorstellen – entsprechend optimistische Weltsicht vorausgesetzt – es herrsche zwischen den beiden Kulturen ein Zustand der wechselseitigen Neugier darauf, wie es hinter den Gräben der Unterschiede im Verständnis von Universität und Innovationssystem aussieht.

Doch weder heftige Schlachten noch nie erlahmendes Interesse, sondern vielmehr Sprachlosigkeit und ignorantes Einrichten in Parallelwelten scheinen die Lage zu prägen. Nicht einmal die Herausforderungen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, die doch für die Einen Stoff zum Erinnern und für die Anderen Anlass zum produktiven Aneignen bieten, sind Provokation genug, um diesen Zustand zu überwinden. Gemeinsames Gespräch wird als Ausnahmefall inszeniert. Eine Institution, die sich der Verstetigung dieses Dialogs annähme, ist weit und breit nicht in Sicht – für entsprechende Erwartungen etwa an die Sächsische Akademie der Wissenschaften ist es möglicherweise zu früh oder schon zu spät.

Der Zustand ist nicht ohne logische Berechtigung. Es gibt ein Innen und ein Außen, mithin genug Anlass für abgrenzende Identifikation. Die Traumata der ersten postrevolutionären Jahre wurden schon erwähnt. Die Verankerung in unterschiedlichen, auch parteipolitisch unterschiedlich geprägten Milieus, die daraus resultierenden habituellen Differenzen, tragen das Ihre zur Verstetigung eines Zustandes bei, von dem manche erwarteten, er würde sich einfach im Laufe der Zeit auflösen.

Hat er überhaupt hinreichend hohe Kosten, um ihn zu beklagen?

Ich versuche im Folgenden einige dieser möglichen Kosten zu erörtern, spreche dabei im Konjunktiv, denn mehr als Vermutungen lassen sich hierzu vorläufig nicht formulieren, da entsprechende Untersuchungen weitgehend fehlen.3 Das Fehlen eines Interesses an der Empirie der Folgen des revolutionären Umbruchs für die Intellektuellen, an den Folgen des Systemwechsels von einem Universitätsmodell, das von der Lehre her gedacht wurde, zu einem, das den Forschungsimperativ in den Mittelpunkt rückt, kann man entweder als Beleg dafür ansehen, dass die Kosten doch nicht sehr hoch sind oder aber dafür, dass es kein Kostenbewusstsein gibt, mithin die Sozialwissenschaften bei ihrer Primäraufgabe (der Beschreibung und Erklärung der sie umgebenden sozialen Welt) in Rückstand geraten sind.

Um Missverständnissen nach Möglichkeit vorzubeugen: Wenn hier von Kosten die Rede ist, dann ist nicht von einer ökonomistischen Aufrechnung der Verletzungen die Rede, die in diesem Prozess des Elitenwechels aufgetreten sind – Verletzungen auf der Seite derer, die sich zu Unrecht in ihrer akademischen Entwicklung benachteiligt sehen, und Verletzungen auf der Seite derer, denen dieser Prozess keine hinreichende Genugtuung für zuvor erlittenes Unrecht bietet. Gerechtigkeit lässt sich nicht in klingende Münze umrechnen. Diese Einsicht des Historikers führt gelegentlich zur Enttäuschung, denn die historische Analyse ist kein Gericht, das über Geldbußen zu entscheiden hat.4 Wenn ich von Kosten spreche, dann meine ich eher ausgelassene Chancen der Lernprozesse einer Gesellschaft. Diese Chancen können bewusst beiseitegeschoben worden sein, wofür es gute Gründe geben mag, aber es kann sich auch um ausgelassene Gelegenheiten der Kenntnisnahme handeln. Hier kann der Rückblick unter Umständen hilfreich sein, sich verspätet, aber nicht zu spät, solche Chancen vor Augen zu führen.

Ein erstes Argument betrifft den Systembruch in den Hochschulen selbst. Es wurde oben argumentiert, dass wir es spätestens in den 60er Jahren mit einer Umwälzung an den ostdeutschen Hochschulen zu tun haben, in dem die Priorität des Forschungsimperativs zugunsten einer Ausrichtung der Universitätsidee an den Bedürfnissen der Lehre und damit der Ausbildung für einen Arbeitsmarkt zurückgedrängt wurde. Damit ging eine ›Entzauberung der Universität‹ einher. Das Humboldtsche Ideal, an dem sich die deutschen Hochschullehrer in ihrer Mehrheit seit ca. 1900 ausrichteten, geriet in den Hintergrund. Der Professor war zuallererst Hochschullehrer, und gemessen wurde er an der Erfüllung seiner Aufgaben in der ›Erziehung und Ausbildung‹ der Studierenden. Dieser Umbruch fand unter ›sozialistischen‹ Vorzeichen statt und implizierte die Erzeugung von Systemloyalität neben der Vermittlung fachlichen Wissens. Diese Verknüpfung machte die Universität besonders anfällig für ideologische Kriterien. Die Kritik daran gehört zu den Motoren des Umbruchs von 1989 – dass vor allem Studenten, aber auch einige Forscher und Lehrende sie vereinzelt und mit hohem Risiko für ihren Verbleib an der Universität auch schon in den Jahren vor dem Oktober 1989 artikulierten, darauf sei hier nur hingewiesen, um einer allzu strikten Legendenbildung über die stillgelegte Hochschule entgegenzutreten. Ungeachtet dieser nur zu berechtigten Kritik muss aber daran erinnert werden, dass die Hochschulreform der 60er Jahre, die auf die Berücksichtigung von Bildungsexpansion und Verwertungsinteressen an der Hochschulausbildung aufbaute, kein DDR-Phänomen allein war, sondern einem internationalen Trend folgte. Nicht zufällig verwiesen die Vorreiter der Reform auf das Vorbild der Departments in den USA.5 Sollte die Zahl der Studierenden pro Jahrgang so massiv wachsen, wie das in den Jahren der Babyboomer und der gesellschaftlichen Reintegration der GIs geschah, dann bedurfte es einer anderen Organisation der Universität als im klassischen Modell. Verbindlichere Studienprogramme schränkten die Wahlmöglichkeit zwischen den Seminaren ein, Vermittlungsformen, die auf geringere Bildungsvorbereitung Rücksicht nahmen, gewannen an Bedeutung, die Ressourcen wurden entlang der Bedürfnisse der Studienprogramme verteilt. Im deutsch-deutschen Systemwettstreit beobachtete man sichn.</p> itig haargenau, aber die Wege der Hochschulentwicklung trennten sich, obwohl die Herausforderungen und das internationale Umfeld ähnlich waren. Einem technokratischen Universitätsideal lagen die Reformen näher, aus einem eher traditionsbewussten Selbstverständnis ergaben sich weit zögerlichere Änderungen.6 Die Verwandlung des ›Homo academicus‹ in einen Laufbahnberuf wurde in der DDR energisch vorangetrieben, weil sich das widerspenstige Feld auf diese Weise auch politisch besser kontrollieren ließ, in der Bundesrepublik gelang es dagegen, diesen Prozess partiell aufzuhalten, auch wenn jede Generation Autonomieverluste beklagte und voller Nostalgie auf die Vorgänger im Amte und deren Machtfülle bei der Definition ihres Aufgabenzuschnitts schaute. Diese Autonomieverluste ergeben sich also nicht zwingend allein aus der politischen Herrschaftsabsicht, die in der DDR andere Ursachen überdeckte, sondern sie ergeben sich auch aus der Logik der Massenuniversität, deren Steuerung ein vergleichsweise hohes Maß (jedenfalls höher als in der Vergangenheit) an Hinnahme bürokratischer Intervention zur Voraussetzung hat. Die Entfremdung zwischen den beiden deutschen Hochschulsystemen hatte nun drei Ursachen: Das internationale Umfeld der ähnlich gelagerten Reformintentionen der 60er Jahre geriet immer mehr aus dem Blick. Paradoxerweise blieb die DDR-Hochschulpolitik bei ihrer strikten Durchorganisation der Universität, obwohl sie den quantitativen Ausbau rigide stoppte. Und in der Bundesrepublik gab es nur eine Minderheit, die die Bereitschaft aufbrachte, aus der stets wachsenden Studentenzahl weitgehende Folgerungen für Selbstverständnis und Organisation zu ziehen.

Der Umbau am Anfang der 1990er Jahre schien denen Recht zu geben, die von der grundsätzlichen Überlegenheit des westdeutschen Systems überzeugt waren. In der Fokussierung auf die Vereinigungsprobleme war kaum Zeit, auf ausländische Modelle zu schauen. Und einer Verteidigung des Hochschulmodells der DDR in toto oder in Teilen hatte die Revolution den Boden entzogen.

Zuweilen wurden Hoffnungen laut, der Umbau im Osten könnte die Reformminderheit im Westen inspirieren oder es gäbe eine Chance, transnational längst wirksam gewordenen Vorstellungen mehr Raum zu verschaffen, aber das erwies sich auf kurze Sicht als schwierig.

Es entbehrt also nicht einer gewissen Logik und Berechtigung, wenn mit dem Elitenaustausch jene Kräfte geschwächt wurden, die für eine alternative Lösung eintraten – ob sie dies aus einer Haltung des trotzigen Beharrens oder aus dem Versuch heraus taten, ausländische Vorbilder aufzugreifen und gefilterte Einsicht in Brauchbares aus dem DDR-Modell festzuhalten, spielte dafür nur eine sekundäre Rolle.

Wäre die Geschichte hier zu Ende, wäre über weitere Kosten nicht länger nachzudenken.

Die Ende der 90er Jahre einsetzende Diskussion um eine erneute Reorganisation des Studiums stellte jedoch den ca. 1993 gefundenen Zustand massiv in Frage. Die inzwischen allseits als Bologna-Prozess beschriebene Umwälzung fordert das traditionale Verständnis der deutschen Universität fundamental heraus und erinnert zugleich an Reformdebatten der 60er Jahre, mit dem Unterschied, dass nunmehr das amerikanische Vorbild nicht mehr in der Sprache der zeitgleichen Entwicklung sondern des weit vorausgeeilten Vorbildes geoder verzeichnet wird.

Man könnte sagen, die transnationale Dimension der Revolution holt die nationale Dimension ein, 1989 ist nicht nur der Aufbruch in die Vereinigung sondern zugleich die Öffnung hin zu einer globaler verflochtenen Welt, in der Modelle schneller zirkulieren und schwerer in ihrer Wirkung abzuwehren sind.

Hier nun ließe sich vorstellen, dass ein gemeinsamer Lernprozess zwischen erster, vorzugsweise westdeutsch dominierter, und zweiter, deutlich ostdeutsch besetzter Wissenschaftskultur einsetzt, denn weder ist die Bologna-Reform mit den Rezepten, die vor 1989 im einen, noch mit jenen, die im anderen Landesteil praktiziert wurden, zu meistern. Die doppelte Transformationserfahrung der 60er und 90er Jahre könnte zur Geltung gebracht werden, als Schatz an Einsichten in Fehlentwicklungen und mögliche Sackgassen. Dies setzte voraus, dass es in der sogenannten zweiten Wissenschaftskultur zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme der ›entzauberten Universität‹ käme, wie sie in ihrer sklerotisierten, ressourcenschwachen und massiv politisch-ideologisch überformten Variante in der DDR bestand. Die eine kritische Auseinandersetzung wird gewissermaßen zur Voraussetzung für die zweite kritische Auseinandersetzung, nämlich die mit der Spannung zwischen traditionellem Universitätsverständnis und heutigen gesellschaftlichen und hochschulpolitischen Veränderungen.

Dieser Wunsch lässt sich allerdings tatsächlich nur im Konjunktiv schreiben, denn eine solche Debatte ist nicht wirklich in Sicht. Das institutionelle Gedächtnis ist inzwischen erfolgreich auf die letzten 20 Jahre begrenzt. Und ob ein Gespräch zwischen den verschiedenen Wissenschaftskulturen zustande kommt, wird von vielen skeptisch beurteilt. Immerhin ließe sich aber eine Situation denken, in der die Verwandtschaft der heutigen Reformen mit denen der 60er Jahre ins Auge springt und dieser Zusammenhang Kritikern wie Anhängern der Bologna-Reform Anlass genug ist, um nach Erfahrungen mit einer Universität zu fragen, die strikt im Kriterium des Funktionierens der Lehre ausgerichtet war.


Was zunächst wie ein Heilmittel gegen die Beschwerden vorzugsweise organisatorischer Natur aussehen mag, hat aber einen weiteren Kontext. In der Wissenschaftstheorie wird der Gedanke propagiert, Wissenschaft und Gesellschaft wüchsen stärker zusammen, wiesen mehr und mehr (erfreuliche wie problematische) Verflechtungen auf. Gar von einem Wissenschaftstyp II ist die Rede, bei dem das überlieferte Modell weitgehender Differenzierung und darauf aufbauender Autonomieansprüche der Wissenschaft schrittweise überwunden werde.7 Gemeint sind mit dieser Prognose Phänomene eines schwindenden Monopols der akademischen Community auf autoritative Feststellungen in ›wissenschaftlichen Fragen‹. Vielfältige gesellschaftliche Akteure beanspruchen, mitreden zu können. In dem einen Fall organisieren sie sich weitgehend autonom von traditionellen Wissenschaftseinrichtungen (etwa im Fall des Wissenschaftsjournalismus, an dem sich zuweilen ein rein instrumentelles Verhältnis zur Expertise der ›Spezialisten‹ beobachten lässt). Im anderen Fall finden wir Verflechtungen von Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen. Was sich schon länger im Bereich der Anwendung natur- und technikwissenschaftlicher Erkenntnisse beobachten ließ, betrifft nun mehr und mehr auch die Geistes- und Sozialwissenschaften, die in der Regel selbstbewusster auf der Autonomie des akademischen Sektors beharrt haben (mit Ausnahme einer gewissen Anlehnung an den Staat, der als Auftrag- und Geldgeber bereitwilliger akzeptiert wurde und wird als die Wirtschaft oder zivilgesellschaftliche Akteure).

Dieser Öffnungs- und Verflechtungsprozess stößt auf Misstrauen und Ablehnung in den Universitäten, aber die jüngsten Erfahrungen mit Hochschulgesetzgebung zeigen, dass die staatliche Aufsicht durchaus bereit ist, einen gewissen Druck gegen diese ablehnende Haltung aufzubringen, um beispielsweise Kuratorien oder Hochschulräte als gesellschaftliche Aufsichtsorgane zu installieren, die diese Verflechtung (die zuweilen unter der Tarnkappe der Anwendungsorientierung daherkommt) forcieren sollen.

einr kommt die fehlende Verbindung zwischen erster und zweiter Wissenschaftskultur auf zweierlei Weise ins Spiel. Zunächst ließe sich von jenen im DDR-Hochschulwesen Sozialisierten einiges lernen in Bezug auf Vor- und Nachteile solcher Einbindung in außerakademische gesellschaftliche Strukturen und zum anderen hat sich, gerade weil diese Einbindung als Instrumentalisierung und Unterdrückung, zumindest aber als meistens sachfremde Zumutung wahrgenommen wurde, ein Ensemble an Techniken entwickelt, mit denen dieser Zumutung ausgewichen werden kann. Auch hier gilt es zu berücksichtigen, dass die Einflussnahme durch Politik auf die Wissenschaft und die Selbstpolitisierung der Wissenschaft qualitativ anders motiviert war und zu grundsätzlich anderen Ergebnissen führte als in einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft. Nichtsdestotrotz sollte die berechtigte Ablehnung eines Vergleichs auf Äquidistanz nicht von vornherein ausschließen, dass auch über diese Systemgrenzen hinweg gelernt werden könnte. Und auch hier gilt wieder, dass die Erfahrungen aus der Epoche vor 1989 nicht ohne ihre kritische Reflexion für einen solchen Lernprozess bereitgestellt werden können.

Die zweite Wissenschaftskultur begegnet den Hochschulen aber auch als Teil jenes gesellschaftlichen Umfeldes, auf dessen Wissens-, Bildungs- und Ausbildungsbedürfnisse zu reagieren ist und das selbst durch Wissensproduktion und -distribution aktiv in diesem Verflechtungsvorgang wirkt. Um es an einem Beispiel zu konkretisieren: Beschränken sich akademische Einrichtungen in all ihrer Autonomie auf die Produktion einer Expertise zum aktuellen Gesellschaftszustand oder auch zur Bewertung der jüngeren Vergangenheit, die nicht im Dialog mit dem Erfahrungswissen relevanter gesellschaftlicher Gruppen steht und dieses nur beobachtet, dann werden sie möglicherweise einen Vertrauens- und damit Legitimationsverlust erleiden, der dem Anspruch auf Gehör in der Gesellschaft gerade entgegen wirkt.

Dies ist nun keineswegs ein völlig neuer Vorgang, denn um die Universitäten des 19. Jahrhunderts hatte sich ebenfalls bereits ein Kreis von Gebildeten geformt, der teilweise über die Privatdozentur in die Lehrtätigkeit an den Hochschulen eingebunden war, teilweise in quasi-akademischen Tätigkeiten (als Editor, Sammler, Verleger, Museumsangestellter usw.) wirkte. Und die Diskussion um den Bezug von Gesellschaft und Wissenschaft ist in der alten Bundesrepublik ebenfalls fest etabliert, spätestens seit 1968, aber in anderer Ausrichtung auch schon deutlich früher als permanente Aushandlung des Autonomieanspruchs.

Neu sind in Bezug auf Ostdeutschland zwei Dinge: Erstens folgt die nun vorangetriebene Institutionalisierung dieses gesellschaftlichen Dialogs in universitären Gremien geschichtlich einer Erfahrung mit vergleichbaren Strukturen unter anderen politischen Vorzeichen – eine Erfahrung, die eine Minderheit in der Hochschule, aber eine Mehrheit außerhalb der Hochschule repräsentiert. Zweitens behindert die eingetretene Sprachlosigkeit zwischen der ersten und zweiten Wissenschaftskultur eine reibungslose Etablierung dieser neuen Formen des Dialogs, so dass das Risiko besteht, dass es zwar zur Institutionalisierung, nicht aber zur gewünschten repräsentativen Abbildung der umgebenden Gesellschaft in diesen Gremien kommt. Die zwischen beiden Wissenschaftskulturen zu beklagende Sprachlosigkeit ist eine Folge der postrevolutionären Intellektuellenpolitik, die mit der revolutionären Umbrüchen eigenen Schärfe zwischen ›weiterverwendbar‹ und ›nicht weiterverwendbar‹ unterschieden hat. Die Folgen dieses Exklusionsprozesses werden unterschiedlich bewertet, was aber hier gar nicht weiter verfolgt werden soll, denn diese Diskussion machte nur so lange Sinn, wie der Prozess selbst lief oder noch Aussicht bestand, ihn im Einzelfall, in dem Irrtümer unterlaufen waren, zu revidieren. 20 Jahre nach der Revolution von 1989 und 17 Jahre nach der Neubegründung der Fakultäten und Institute infolge einer abgeschlossenen Rekrutierung für die verbliebenen Stellen läuft diese Debatte zunehmend ins Leere. Sie hat erkennbar eine Bedeutung behalten für die Bearbeitung verbliebener Traumata, aber sie reagiert nicht auf die inzwischen eingetretene Lage.

Selbstverständlich ist auch die Einschätzung dieser neuen Lage nicht unstrittig. Immer klarer zeichnet sich aber ab, dass die rein deutsch-deutsche Dimension der laufenden Hochschulreform an Bedeutung verliert und transnational bemerkbare Trends in den Vordergrund drängen.

Man kann eine unterdurchschnittliche Performance ostdeutscher Hochschulen bei dem einen oder anderen Parameter des Benchmarking natürlich mit den Verwerfungen der frühen 90er Jahre in Verbindung bringen, nur hört kaum noch einer der inzwischen international mobilisierten Gutachter auf dieses Argument und ist nicht bereit, dafür einen Postrevolutions-Bonus zu verteilen. Auch den Studierenden, die im Zuge grenzüberschreitender Mobilität beispielsweise nach Greifswald oder Halle kommen, ist der Einfluss jener Periode, die zeitlich beinahe mit ihrer Geburt zusammen fällt, auf das aktuelle Lehrangebot und auf die Mühen mit den Strukturen des Bologna-Prozesses ziemlich gleichgültig. Sie erwarten einfach, dass sich die ostdeutschen Hochschulen aus den Logiken der postrevolutionären Intellektuellenpolitik befreien, indem sie sie historisieren und auf ihre fortwirkende Plausibilität befragen.

Es gibt keinen Grund, ganz ohne bewertende Maßstäbe an die postrevolutionäre Phase heranzutreten, nur sollte man sich inzwischen bewusst sein, dass es eben Maßstäbe einer historischen Bewertung sind und nicht mehr der Auswahl von Personal in neue Strukturen oder der Entscheidung über die Ausrichtung dieser Strukturen dient. Die Fortdauer der Verwechslung handlungsbestimmender Bewertung von Personen oder Strukturen mit deren historischer Bewertung reflektiert einen rückblickenden Ärger über Haltungen, die man im Moment der Revolution keineswegs zu teilen bereit war.

So gab es in den ersten Jahren nach 1989 eine oftmals implizite, ganz oft aber auch sehr explizite Aufforderung, den Weg in die neue Gesellschaft abzukürzen mit der Repetition einiger vorgegebener Wertungen des Ancien Régime und der neu entstehenden Gesellschaft. Dies ist nach allen Erfahrungen aus der Revolutionsgeschichte nichts Singuläres, die binäre Logik der Revolution zwingt zur Stellungnahme für oder wider. Wem das am leichtesten über die Lippen ging, der fand sich rasch in entscheidender Position auch an den Universitären wieder. Eckprofessuren, Leitungsämter, Einfluss auf Berufungsentscheidungen standen in Korrelation mit einer heftigen und expliziten Zustimmung zu den Zielen der Revolution – eine Haltung, die im Einzelfall auch Erstaunen auslösen konnte, wenn man die Vergangenheit der Betroffenen im DDR-Wissenschaftssystem noch erinnerte. Eine bestimmte Stilisierung der Biographie war Voraussetzung, um Gehör zu finden. Als Gegenstrategie etablierte sich ebenso schnell trotziges Beharren, dessen intellektuelle Defensivqualitäten kaum zu überbieten sind.

Diese Polarisierung hat notwendigerweise viele Verletzungen hinterlassen, zumal sie unter Beobachtung durch scheinbar nicht Betroffene ablief, denen aber rasch Entscheidungsgewalt über die Konsequenzen zukam, die aus diesen beiden Grundhaltungen zu ziehen waren. Man könnte leicht den Eindruck gewinnen, dass sich auf der einen Seite die 1990 getroffenen Entscheidungen zur Positionierung gegenüber dem (damals nur undeutlich absehbaren) Verlauf und Resultat der Revolution konsequent vertieft haben und damit einen Dialog zunehmend erschweren. Andererseits ist aus der Sicht der alsbald zu Entscheidern über die Personal- und Strukturfragen aufsteigenden Beobachter der Stellenwert dieser binären Logik nicht mehr zu erkennen. Hieraus ergibt sich eine neue Polarität zwischen jenen, die an den Frontstellungen festhalten, die 1990 entstanden sind, und jenen, die sie für eine Art posttraumatischen Zustand halten, der therapeutische Interventionen erfordert, aber keine Relevanz für heutige Handlungsoptionen mehr besitzt. Eine postrevolutionäre Intellektuellenpolitik, die sich ihren besonderen, zeitgebundenen Charakter nicht vergegenwärtigt, der sich daraus ergibt, dass sie eben nach dem Ereignis stattfindet, aber gleichzeitig auf dieses bezogen bleibt, wird jedoch eher Spannungen vertiefen, als dazu beitragen sich selbst aufzuheben. Es wäre unter diesem Gesichtspunkt hilfreich, wenn die Debatte den postrevolutionären Charakter der Intellektuellenpolitik in Ostdeutschland selbst zum Thema machen würde, als einfach die Polarisierungen der Revolutionszeit selbst zu verlängern oder die Gebundenheit an diese Epoche ignorieren zu wollen.

Zu einem historisierenden Umgang mit der postrevolutionären Intellektuellenpolitik gehört ebenfalls eine Debatte über die Versuche einiger Universitäten im Osten (vor allem Berlin und Leipzig) einen selbstbestimmten Weg der Erneuerung einzuschlagen. Zwischen 1990 und 1992, teilweise sogar bis 1993 gab es das Bemühen, die personelle, strukturelle und inhaltliche Erneuerung in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Versuche werden mit Blick auf die Naturwissenschaften durchaus differenziert beurteilt, für die Hochschulen insgesamt hat sich jedoch der Topos der Aussichtslosigkeit solcher Anstrengungen fest etabliert. Entweder wird betont, dass die Universitäten aufgrund ihrer Verstrickung in das DDR-Regime überhaupt nicht fähig zur Selbsterneuerung gewesen seien, oder es wird unterstrichen, dass solche Versuche zwar aus dem ersten revolutionären Überschwang erklärlich, angesichts der Dynamik, die der Vereinigungsprozess spätestens ab März 1990 nahm, zum Scheitern verurteilt waren. Dem stehen allerdings lokale Initiativen entgegen, die einerseits eine stärkere Internationalisierung der ostdeutschen Universitäten ins Auge fassten, andererseits für interdisziplinäre Strukturen als wichtige Ergänzung der Rekonstruktion traditioneller Fächerorientierungen plädierten und sich schließlich auch als Plattformen des Gespräches zwischen Vertretern verschiedener Generationen und wissenschaftlicher Schulen erwiesen. Man kann nun fragen, welchen Platz dieser Abschnitt in der Universitätsgeschichte einnimmt und was sich aus dieser Phase, auch wenn sie 1993 mit der Neubegründung der Fakultäten und Institute faktisch beendet wurde, an Lektionen ergibt, auf die zurückzukommen möglicherweise lohnen würde. Man könnte auch die beiden Perspektiven auf diese Phase zu der bewusst provokant zugespitzten Frage verknüpfen: Hat die Verzögerung durch die idealistische Vorgehensweise einer selbstbestimmten Erneuerung etwa die Universität Leipzig wichtige Dynamiken und Impulse gekostet oder sind eher in der Folgezeit wichtige Anregungen verschüttet worden, die es heute – nachdem sich die einfache Kopie des krisenhaften westdeutschen Hochschulsystems als nicht weiterführend erwiesen hat – wieder auszugraben gälte?

In Summe zeigt sich: Es ist bis heute umstritten, also nicht geklärt, wie wir mit dieser Phase in der Geschichte Ostdeutschlands und unserer Universität umgehen wollen. Das verunsichert nicht zuletzt viele Studierende, die die Zwiespältigkeit der postrevolutionären Intellektuellenpolitik, in der sich auch unterschiedliche Einschätzungen der Erfahrungen spiegeln, die aus der DDR herüberreichen, zuweilen als scharfen Konflikt zwischen Lehrmeinungen an ihrer Hochschule und Erfahrungen mit den Erinnerungen im Elternhaus erleben. Das Jahr 2009 war notwendigerweise als Jahr des Jubiläums und des Gedenkens charakterisiert durch einen Rückblick auf die postrevolutionäre Intellektuellenpolitik – die Stunde der Geschichtspolitiker. Zur Stunde der Historiker wird ein solcher Rückblick allerdings erst, wenn zukunftsfähige Visionen Platz gewinnen, wie man diese Phase der revolutionären und postrevolutionären Intellektuellenpolitik historisieren kann.

  1. 1Timothy Garton Ash, »1989! – The unwritten history«, in The New York Review of Books, Volume 56, Number 17, 5. November 2009. Online verfügbar unter http://www.nybooks.com/articles/23232 (31.01.2010).
  2. 2Die Zahl der Beiträge, die in diese Richtung argumentieren, wächst gegenwärtig rasch an. Symptomatisch dafür etwa die Reihe »Global History of the Present« (Zed Books London / New York), deren Einzelbände ganze Weltregionen bzw. einflussreiche Staaten »since 1989« analysieren. Für eine stärker auf das Jahr 1989 selbst fokussierende Analyse vgl. die Leipziger Konferenz »1989 in a global perspective« und den derzeit in Vorbereitung befindlichen Band. (Bericht von Michael Mann / Katja Naumann in Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte 19 (2009), H. 6). Eher die transnationalen europäischen Dimensionen betonend: Philipp Ther, »Das ›neue Europa‹ seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit«, in Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 6 (2009) H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Ther-1-2009 (31.01.2010).
  3. 3Mit zahlreichen Details über die nationalhistorischen Interpretationen, die in der zweiten Wissenschaftskultur verhandelt werden: Stefan Berger, »Former GDR Historians in the Reunified Germany: An Alternative Historical Culture and its Attempts to Come to Terms with the GDR Past«, in Journal of Contemporary History, vol. 38, no. 1, (2003), S. 63–83 und ders., »Was bleibt von der Geschichtswissenschaft in der DDR? Blick auf eine alternative historische Kultur im Osten Deutschlands und ihre Fragen nach der eigenen Vergangenheit«, in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, vol. 50, H. 11 (2002), S. 1016–1034.
  4. 4Zur Diskussion der Rolle des Historikers als Anwalt, als Richter oder als Leiter der Untersuchungsbehörde vgl. die klassischen Passagen bei Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002.
  5. 5Vgl. die Diskussion in der Zeitschrift der Humboldt-Universität 1964, Heft 22, S. 5, wo auf den Nachdruck eines Beitrages von Johannes Müller »Was heißt Department?« aus der Leipziger Universitätszeitung Berndt Musiolek mit einem Beitrag »Wozu Departments? « reagierte.
  6. 6Für einen pointierten Vergleich siehe Ralph Jessen, »Massenausbildung, Unterfinanzierung und Stagnation. Ost- und Westdeutsche Universitäten in den siebziger und achtziger Jahren«, in Konrad H. Jarausch u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen, Göttingen 2010 (i. E.), der argumentiert, »dass die ost- und westdeutsche Hochschulpolitik vor allem während der sechziger Jahren zahlreiche Gemeinsamkeiten aufwiesen. Experten und Wissenschaftspolitiker in Ost und West teilten in den Jahren nach dem Mauerbau eine ganze Reihe grundsätzlicher Vorstellungen über die anzustrebende Entwicklung des Hochschulwesens. Erst als diese Visionen Anfang der siebziger Jahre hüben wie drüben aus teils ähnlichen, teils unterschiedlichen Gründen aufgegeben wurden oder versandeten, nahmen die Differenzen während der siebziger und achtziger Jahre immer mehr zu. Die Fremdheit im Augenblick der Vereinigung speiste sich somit aus dem kumulativen Effekt zweier Entwicklungen: Erstens aus dem Gegensatz zwischen der ausgeprägten strukturellen und personellen Kontinuität im Westen und der stalinistischen Überformung der ostdeutschen Universitäten während der vierziger und fünfziger Jahre … Zweitens aus den gegensätzlichen Konsequenzen, die das Scheitern recht ähnlicher Modernisierungshoffnungen in den siebziger und achtziger Jahren nach sich zog.« (Ms. S. 2)
  7. 7Helga Novotny, Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001.
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Heft 4 (2010)
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