Baltische Genesis. Die Grundlegung der Embryologie im 19. Jahrhundert.
Von Thomas Schmuck. (= Relationes. Schriftenreihe des Vorhabens »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin« bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Band 2) Shaker, Aachen 2009. 316 Seiten, 32 s/w-Abbildungen, 16 Farbtafeln.
Obwohl die internationale Wissenschaftshistoriographie in den letzten Jahren eine ganze Reihe von theoretischen, ideen-, kultur-, sozial- und mentalitäts- geschichtlichen Fragestellungen entwickelt hat, die in Bezug zur Embryologie stehen, blieben die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ein weitgehend ›unbeackertes‹ Feld. Die Forschungslücke zwischen den beiden bisherigen Schwerpunkten im 17./18. Jahrhundert einerseits und dem späten 19. bzw. dem 20. Jahrhundert anderseits wird mit der vorliegenden Monographie geschlossen. Deren Gegenstand ist somit genau diejenige Phase, in der sich die Embryologie von naturphilosophischen Erklärungsmustern löste, sich die ›modernen‹ naturwissenschaftlichen Methoden zu eigen machte und in deren Gefolge wiederum eine neue Begrifflichkeit und eine neue theoretische Fundierung erfuhr. So fallen die für das Verständnis der Entwicklungsvorgänge grundlegenden Entdeckungen in diesen Zeitraum: Keimblattkonzept, Säugetier-Ei, Chorda dorsalis und Kiemenanlagen bei Landtieren; allein dieser Umstand macht eine solche Untersuchung zu einem lohnenden Unterfangen. Für das Akademie Projekt »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin«, in dessen Rahmen das Buch entstand, bot sich diese Thematik jedoch darüber hinaus insofern an, als die Akteure – allen voran Christian Heinrich Pander, Karl Ernst von Baer und Martin Heinrich Rathke, aber auch andere Forscher, die bisher weniger Beachtung fanden, – ganz überwiegend in der relativ kleinräumigen Wissenschaftsregion zwischen Königsberg und St. Petersburg (und damit zwischen Preußen und dem Russischen Reich wechselnd) tätig waren; vor allem die Universität Dorpat spielte durch ihre transnationale Scharnierfunktion eine zentrale Rolle. Die Ergebnisse der Untersuchung gehen jedoch über Biographien und Institutionengeschichte hinaus: Der durchgängige Rückgriff auf die historischen Originalarbeiten ermöglichte zum einen die Veröffentlichung bisher unbekannten Materials und zum andern auf dem Weg der Diskursanalyse eine Neubewertung des Paradigmenwechsels in der Embryologie. Dieser vollzog sich keineswegs abrupt, sondern in zäher Auseinandersetzung mit nach wie vor persistierenden naturphilosophischen Konzepten, denen nicht nur ein Teil der Terminologie, sondern auch die Affinität zu Deduktion und Analogie entstammte. Parallel dazu lässt sich die Ablösung der Säftelehre durch die Zelltheorie beobachten, aber auch auf dieser Ebene konnte das neue Modell seine Überlegenheit gegenüber traditionellen Plausibilitäten nur langsam erweisen, so dass insgesamt die Gründungsphase der modernen Embryologie weniger einen Umbruch als die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« exemplifiziert. Für die Interpretation werden nicht nur Texte herangezogen: 32 Schwarz-weiß-Abbildungen und 16 ganzseitige Farbtafeln tragen zur Visualisierung der komplexen Materie bei, bilden jedoch – zumal überwiegend als Erstpublikationen – teilweise auch eine Quelle sui generis.