Lebensvorgänge. Deutsch-russische Wechselbeziehungen in der Physiologie des 19. Jahrhunderts.
Von Regine Pfrepper (= Relationes. Schriftenreihe des Vorhabens »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin« bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Band 3) Shaker, Aachen 2009. 300 Seiten, 11 Abbildungen.
Unter den medizinischen Grundlagenfächern, die sich im 19. Jahrhundert neu ausrichteten bzw. etablierten, erfreut sich die Physiologie in der Medizingeschichtsschreibung traditionell der größten Aufmerksamkeit, wobei in den letzten Jahren vor allem die Modellhaftigkeit des Körperwissens, wissenschaftstheoretische Implikationen, die Durchsetzung von Interessen, die historische Laborpraxis und die Ethik des Tierversuchs Schwerpunkte bildeten. Für die Annäherung an solche Fragen hinsichtlich der russischen Physiologie oder gar im Zusammenhang mit einem deutsch-russischen (und auch russisch-deutschen) Wissenschaftsaustausch fehlte bisher fast jede Voraussetzung: Gängige Handbücher und Lexika versagen ihren Dienst, Bibliographien und Einzeldarstellungen fehlen, die Quellen sind schwer zugänglich und kaum erschlossen – kurzum, für die »westliche« Wissenschaftshistoriographie ist Russland de facto ein weißer Fleck, der mangels Sprachkompetenz auch durch die (wenigen) biographischen und institutionengeschichtlichen Beiträge von russischer Seite nicht gefüllt wird. Mit dem vorliegenden Band aus dem Akademie-Projekt »Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medizin« soll nun eine tragfähige Basis für weitergehende Untersuchungen gelegt werden. In mühevoller und akribischer Grundlagenarbeit wurden deutsche und russische Quellen aus dem 19. Jahrhundert systematisch ausgewertet, um zunächst Institutionen und Forscherpersönlichkeiten zu identifizieren, ihre Interaktionen zu verorten und die jeweiligen Beiträge zur (Entwicklung der) Physiologie darzulegen. Der erste Teil befasst sich daher mit der Etablierung des neuen Fachs an Akademien, Universitäten und außeruniversitären Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen des Russischen Reichs und geht auch auf russische Fachzeitschriften und Fachgesellschaften ein. Das zweite Hauptkapitel widmet sich den Wissenschaftsbeziehungen zwischen dem deutschen Sprachraum und Russland und substanziiert diese durch den Nachweis der Studienaufenthalte russischer bzw. deutscher Physiologen im jeweils anderen Land sowie durch die Erfassung der zwischen 1796 und 1932 entstandenen Übersetzungen von Lehrbüchern und Monographien aus dem Deutschen ins Russische und umgekehrt. Den Schwerpunkt der Dokumentation bilden die (die deutschsprachigen Schriften erfassenden) Biobibliographien russischer Physiologen, die die wichtigen Lebensdaten nennen, die einschlägige Forschungsliteratur auswerten und ansonsten nach Publikationen aus Deutschland und aus dem Russischen Reich differenzieren. Berücksichtigt werden auch russische Veröffentlichungen, sofern sie in deutschsprachigen Journalen referiert wurden. In besonderen Fällen, wie bei Pavlov, werden noch Einzelarbeiten von Schülern angegeben. Ein Personenregister erschließt das reiche Material, das hoffentlich die verbreitete Fehleinschätzung des Umfangs der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert korrigieren hilft.