Direkt zum Inhalt | Direkt zur Navigation

Benutzerspezifische Werkzeuge
Anmelden
Bereiche

1809 – 1909 – 2009. Ideeller und struktureller Wandel von Wissenschaft am Beispiel der Universität Leipzig

Im November 2009 hat ein neues Forschungsvorhaben an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig unter diesem Namen in der Arbeitsstelle Dresden seine Arbeit aufgenommen.

Die Jahre 1809 – 1909 – 2009 sind nicht nur Jubiläumsjahre der 1409 gegründeten Universität Leipzig, sondern können darüber hinaus auch als Chiffren für entscheidende Brüche innerhalb einer Herausbildung des deutschen Universitätssystems und der Wissenschaft gelesen werden. Brüche zeichnen sich in bildungsbegrifflicher, institutionenhistorischer und wissenschaftshistorischer Hinsicht ab:

»1809« steht für die Einleitung einer bis heute wirksam gebliebenen geschichtlichen Entwicklung. An deren Anfang standen philosophische Entwürfe von Fichte, Humboldt, Schleiermacher und Schelling, die, bei aller Verschiedenheit, die Gemeinsamkeit hatten, ein neues Konzept von Persönlichkeitsbildung, Universität und Wissenschaft entwickelt zu haben, und zwar gerade aus der Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit dieser drei Bereiche. Eine Konsequenz davon war die Gründung der Berliner Universität, in der sich – bei allen Defiziten, die zu einer Realisierung dazu gehören – diese theoretischen Überlegungen praktisch realisierten. Es ist zu prüfen, inwieweit die Auseinandersetzung mit den philosophischen Entwürfen wie auch die Entwicklung der Berliner Universität für den großen wissenschaftlichen Erfolg der »deutschen« Universitäten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verantwortlich waren.

»1909« steht für eine sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollziehende Entkoppelung von Lehre und Forschung, deren eindrückliches deutsches Signal die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist, die Vorläuferin der Max-Planck-Gesellschaft. Die machtpolitischen Interessen des Staates, eng verbunden mit der Entwicklung von Technologie und Großindustrie, aber auch mit den Bedürfnissen der komplexer werdenden Naturwissenschaften an technischer Ausstattung, führten zur Entstehung von außeruniversitären Institutionen der Forschung. Es ergibt sich dabei ein Spannungsfeld zwischen grundlegender Persönlichkeitsbildung und innovativer Grundlagenforschung auf der einen und technischen Anwendungen bekannter Verfahren auf der anderen Seite.

»2009« ist schließlich Fluchtpunkt der Untersuchung. Ausgehend von der viel beredeten Krise der heutigen Universität, den Debatten über ihre Verschulung, der Entkoppelung von Forschung und Lehre und einer zunehmenden Dominanz technisch ausgerichteter Naturwissenschaften stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, inwieweit die zu untersuchenden Probleme zur heutigen Situation geführt haben.

Dieser historische Problemaufriss bildet den Ausgangspunkt für drei systematisch angelegte Frageperspektiven, einer bildungstheoretischen, einer institutionengeschichtlichen wie einer rezeptions- und wissenschaftshistorischen:

Der Teilbereich »Bildungstheorie« untersucht den Bildungsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, ausgehend vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Das vom Neuhumanismus und der Romantik geprägte Konzept beruhte auf dem Gedanken der Selbstkonstitution des Individuums durch die Entwicklung individueller Denk- und Handlungskompetenzen. Es stand in unmittelbarer Beziehung zur Entwicklung der Wissenschaft und der Universität als Institutionalisierung des Bildungsprozesses.

Im Anschluss daran war es zum einen die realgeschichtliche Entwicklung von Wissenschaft und Universität, die bis heute diesen Bildungsbegriff immer wieder auf seine Haltbarkeit hin herausforderte. Zum anderen wurde auch ein kontinuierlicher Diskurs darüber geführt, der durch diese veränderten Rahmenbedingungen immer wieder ausgelöst wurde. Gerade die starke Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften warf die Frage nach der Vereinbarkeit von allgemeiner Persönlichkeitsbildung und speziellen wissenschaftlichen Fachkenntnissen auf. Diese Ausdifferenzierung führte dann zu wissenschaftsinternen Spannungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern über die richtige Methode der Wissensgenerierung, die auch die Frage nach der Bedeutung der Forscherpersönlichkeit berührte.

Eine Kritik an der Ablösung des Wissens von personaler Bildung hat sich auch nach 1945 erhalten und wird von Autoren verschiedenster Couleur thematisiert, die sich aber nicht nur auf die Wissenschaft und auf den klassischen Bildungsbegriff beziehen. Ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie sich gegen die aktuelle Tendenz einer Bewertung von Wissen nach externen quantitativen Kriterien wenden und es vielmehr in der Perspektive der Bildung hinsichtlich weiterer Wissensgenerierung betrachten.

In diesem Lichte soll schließlich untersucht werden, wie sich die Universität Leipzig als wissenschaftliche Institution zu dieser Entwicklung verhält, beispielsweise anhand der Einrichtung des pädagogischen Instituts.

Der Teilbereich »Institutionengeschichte« umfasst die Aufarbeitung der institutionellen Veränderungen im deutschen Universitätssystem im Allgemeinen und an der Universität Leipzig im Besonderen. Die zentrale Fragestellung in diesem Zusammenhang ist, welche besonderen institutionellen Bedingungen dazu beitrugen, die deutschen Universitäten als »Forschungsuniversitäten« Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts zu weltweit führenden, vielleicht den erfolgreichsten Einrichtungen ihrer Art werden zu lassen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es aus systematischen und historischen Gründen kein eindeutiges Kriterium für den Erfolg einer Universität geben kann. Die Debatte um die institutionellen Rahmenbedingungen, die für den wissenschaftlichen Erfolg der deutschen Universitäten verantwortlich waren, ist umfangreich und langwährend. Im Fokus des Teilprojekts stehen u. a. die Bedeutung und Funktion der universitären Autonomie in ihrer konfliktreichen Beziehung zum Staat und die Einheit von Lehre und Forschung. Darüber hinaus ist die Frage von Interesse, inwieweit die Spannung zwischen einer – idealtypisch gesprochen – neuromantischen Bildungsideologie und einem positivistischen Wissenschaftsverständnis institutionell Niederschlag gefunden hat. Angedachte Untersuchungsgegenstände sind die Gründung der Universität Berlin und die Entstehung neuer wissenschaftlicher Praxen im 19. Jahrhundert, die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911, die Reform der Universität Leipzig um 1830 sowie die Herausbildung der Laborwissenschaften an der Universität Leipzig seit den 1870er Jahren.

Im Teilbereich »Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte« stehen zwei Fragen im Vordergrund:

Zum einen interessiert allgemein die Frage nach der Art von Idealen, durch die sich die Leipziger Universität universitätsintern und einer externen Öffentlichkeit präsentiert, und nach deren zeitlichen Veränderungen. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Frage, ob, wann und welche der gemeinhin Humboldt zugeschriebenen Ideale aufgegriffen werden (z. B. forschendes Lernen, Bildung durch Wissenschaft, Philosophie als übergeordnete Einheit, Einsamkeit und Freiheit usw.). Werden sie als solche überhaupt explizit konkreten Personen oder Orten (etwa Humboldt und Berlin) zugeordnet? Inwiefern kommt es zu einer Verknüpfung verschiedener Arten von Idealen, etwa zwischen Bildungs- und Wissenschaftsidealen (z. B. methodische Ideale)? Insgesamt soll stets auch gefragt werden, welche Funktion den im Präsentationskontext der Universität Leipzig stehenden Idealen zukommt. Welche Rolle spielen dabei insbesondere etwa Rangstreitigkeiten verschiedener Disziplinen?

Zum anderen soll ebenfalls am Beispiel der Universität Leipzig untersucht werden, in welchem Verhältnis Bildungs- und Wissenschaftsideale zu strukturellen Entwicklungen und Veränderungen stehen. Es ist zu fragen, inwiefern Strukturreformen, die heute gern als Umsetzung ›humboldtscher‹ Ideen gesehen werden und auf die man sich eventuell auch damals berief, ihnen tatsächlich entsprechen. Damit ist die Frage verknüpft, ob man in ihrem Zusammenhang überhaupt bildungsideelle Diskussionen findet? Oder stehen im Gegenteil ganz andere Argumente oder Ideale (z. B. auch Wissenschaftsideale) im Vordergrund? Inwiefern treten evtl. auch Unterschiede zwischen einer naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Wissenskultur zu Tage?

Das Forschungsprojekt wird bis Ende des Jahres 2011 durch den Freistaat Sachsen gefördert. Projektleiter ist Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer. Wissenschaftliche Mitarbeiter sind Martin Eichler, M. A., Wiebke Herr, M. A. und Lars Osterloh, M. A.

loading ....
Artikel Navigation
Heft 4 (2010)
Beiträge Diskussionen Berichte & Notizen
Footer - Zusätzliche Informationen

Logo der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Sächsische Akademie
der Wissenschaften

ISSN:
1867-7061

Alle Artikel sind lizensiert unter:
Creative Commons BY-NC-ND

Gültiges CSS 2.1
Gültiges XHTML 1.1