Homo studens
Was ihn erwartet, was er erwartet und was er erwarten darf1
Es gab mal eine Zeit, da war die Welt des Studierens noch in Ordnung. Gaudeamus igititur haben ihre Bewohner damals gesungen – und vivat academia. Inzwischen hat sich vieles verändert, gerade in jüngerer Zeit. Fast kein Stein sollte ja auf dem anderen bleiben. Und je mehr die Verhältnisse ins Tanzen gekommen sind, desto weniger scheint den Leuten nach Singen zumute. Seitdem Exzellenz und Employability das universitäre System neu justieren (sollen), herrscht allenthalben schlechte Laune.
1. Vivat Academia?
Zunächst verwundert es wenig, dass dem Versuch, die deutsche Hochschullandschaft gründlich umzukrempeln, landauf, landab vehemente Kritik entgegengeschlagen ist. Handwerkliche Fehler wurden sogar eingestanden, doch hat es nicht an Stimmen gefehlt, die »Humboldt« – oder was sie dafür hielten (Tenorth 2009) – und mit ihm unsere gesamte Zivilisation untergehen sahen. Noch jeder Umbruch solcher Reichweite hat eine »Rhetorik der Reaktion« (A. O. Hirschman) provoziert, deren schrille Töne und schwarze Farben darauf schließen ließen, dass ihre Protagonisten das Ende der – jedenfalls ihrer – Welt kommen sahen.
Um was geht es? Klasse kann Masse zwar nicht verdrängen, doch soll sie von ihr säuberlich geschieden werden – darauf zielt das Verwandlungsrezept in Sachen Forschung. Ergänzt wird es durch eine Umgestaltung des Studiums, dessen neues Ziel darin besteht, die Masse soweit zu standardisieren, dass sie ihrem Namen auch gerecht wird und nicht in ein Meer bunter Lehrparzellen zerfällt. Forschungsklasse plus Bildungsmasse, dort Elite und Exzellenz, hier jener »größere Haufen« aus »Köpfen der zweiten Klasse«, die eine »bürgerliche Tätigkeit« anstreben (F. Schleiermacher). Analysen haben den Strukturbruch inzwischen gründlich rekonstruiert und auch darauf verwiesen, dass er keineswegs hinterrücks eingetreten ist, sondern in Kauf genommen, ja sogar eingeplant war, wiewohl öffentlich lange Zeit niemand davon reden wollte (Hartmann 2006, Münch 2007).
Öffentlich verkündet wurden in der Tat ganz andere Ziele. Konkurrenz und Selektion, ein Ruck durch die nationale Forschungslandschaft, mit dem Ziel, das allgemeine Niveau zu heben und am fernen Ende ein paar Wissensburgen zu produzieren, die sich mit amerikanischem Efeu würden schmücken dürfen: Dies sollte, wie treuherzig verkündet wurde, den ersten Reformabschnitt (Forschung) markieren. Dass daraus eine Farce werden würde, dafür gab es mehrere Ursachen, deren wichtigste mit dem Etikett Matthäus-Prinzip bedacht worden ist (Hartmann 2006): Wer hat, dem wird gegeben. Sprich: Überkommene Leistungsunterschiede sind zementiert worden – Bilanz stand für Perspektive, Vergangenheit sollte Zukunft garantieren, der Status quo war das ausschlaggebende Argument.
Die zweite Front (Lehre) sollte ganz im Zeichen von Mobilität und Differenz stehen. Am fernen Horizont würde ein europäischer Hochschulraum winken, der es Studierenden erlauben würde, kontinentweit ihr Wissen zu erwerben, um es anschließend auf dem weiten Feld beruflich einzusetzen – deutsche Nachwuchsakademiker könnten dereinst mit schwedischem Abschluss in Portugal arbeiten, so ihr Sinn nach diesem »Mix« stände. Darüber hinaus würde die neue Beweglichkeit dadurch zusätzlich befördert, dass man Studierende durch den Bachelor- Abschluss dazu motiviert, sich im Elfenbeinturm nicht über Gebühr einzuhausen – länger als unbedingt nötig sollte dort eigentlich nur jene Minderheit verweilen, deren Sinn nach akademischem Tiefsinn (und einem Doktorgrad) steht. Von all dem ist freilich so wenig wahr geworden, dass die Reform immer mehr zur Endlos- Schleife verkommt.
Die (unausgesprochene) Krönung des Ganzen wäre eigentlich das Paket: Bologna plus Exzellenz – wenn also Studienreform und Forschungswettbewerb nicht nur hochschulintern ausdifferenzierte Strukturen produzieren, sondern der gesamten Hochschullandschaft ein »gespaltenes« Gesicht verleihen: Lehranstalten hier, Forschungszentren dort. Falls es so weit hierzulande nicht kommt, dann sind dafür teils historische, teils systemische Eigenheiten verantwortlich; doch blockiert wird das heimliche Ideal auch dadurch, dass sich diese Doppelreform in die Universitäten hinein fortpflanzt und dabei selbst konterkariert.
Vivat academia! haben die Studierenden von einst intoniert. Und wenn ihnen nicht recht klar gewesen sein sollte, welchem Objekt denn ihr bierseliger Jubel gegolten hat, so lag das kaum daran, dass dieser Gegenstand über alle Maßen unaufgeräumt gewesen wäre. Im Gegenteil: Damals waren (eher) die Köpfe wirr, heute sind es (eher) die Verhältnisse.
2. Die »Voll-Absurdität«
Nicht viele Universitäten können es sich – im Stile Lüneburgs – leisten, ohne Rücksicht auf den (wirklichen oder vermeintlichen) Forschungsimperativ ihren Ruf als »Lehranstalt« aufzupolieren. Denn das hieße, sich in mehrfach prekärer Selbstbescheidung zu üben. Es gibt keine Möglichkeit mehr, Lehre durch Forschung auf dem Laufenden zu halten. Forscherische Enthaltsamkeit schneidet ihre Praktiker von substantiellen Geldtöpfen ab – was dann besonders zählt, wenn für Studienangebote kein Preis verlangt werden darf. Endlich der unweigerliche Reputationsverlust: Am Horizont droht das Gespenst der Verschulung (»höhere Lehranstalt«) – und mit ihm, nicht zu vergessen, Lehrdeputate, deren Umfang an Zeitbudget und Selbstwertgefühl gleichermaßen nagen. So überrascht es wenig, dass eine freiwillige Entscheidung für diesen Weg eher als aufgeputzte Verzweiflungstat und Muster ohne Wert gilt – was in Lüneburg geht, kann sich Leipzig nicht erlauben.
Die Politik schert sich um derartige Empfindlichkeiten wenig. Im Gegenteil, sie setzt den strapazierten Universitätsbetrieb unter zusätzlichen Stress. Ihr hauptsächlicher Hebel: das »profitliche« Regime des New Governance.
Nachdem schon vor Dekaden der erste Friedhof in die betriebswirtschaftliche Verschlankungskur geschickt wurde, war damit zu rechnen: Eines schönen Tages würde die Ökonomisierungswelle auch über Humboldts altertümliche Deichbauten – Einsamkeit, Freiheit – hinwegschwappen. Dass es gerade jetzt passiert ist, geht auf Begehrlichkeiten klammer Kassenwarte (Finanzminister) zurück, hat aber auch viel mit dem politisch inszenierten Wettbewerbsklima zu tun. Hochschulen, die ans große Geld wollen, müssen sich in schlagkräftige Unternehmen verwandeln.
So ist ein Paradigmenwechsel in Gang gekommen: hin zur Universität, die sich als corporate enterprise betrachtet und nach Kriterien des strategic organisational management auf dem Wissensmarkt educational and research products feilbietet (Bleiklie/ Lange 2010, S. 75). Seine enorme Sprengkraft bezieht der Transformationsprozess nicht zuletzt daraus, dass diese Produktsorten auf Parallelmärkten feilgeboten werden, deren Konstitution nach ganz und gar unterschiedlichen Gesetzen abläuft – mit gravierenden Verzerrungen, wie sie anderswo (etwa Großbritannien) schon in voller Blüte stehen.
Der Forschungsmarkt wirft vergleichsweise hohe Rendite ab – man denke nur an die Dotierung beider Exzellenzinitiativen (1:200, über den Daumen gepeilt). Hinzu kommt, dass dieses Segment (hierzulande wenigstens) vielfältig untergliedert ist und damit eine Art »selektiver Kaskadenförderung« ermöglicht: Für alle MINT1-Disziplinen (aber keine weiteren) gilt, dass sie sich des Geldsegens kaum zu erwehren vermögen – scheitern sie auf Bundesebene, schießen Landesinitiativen wie Pilze aus dem Boden; wer da erfolglos bleibt, kann auf Regionalfonds umsteigen; und wem das Glück auch hier nicht hold ist, darf Subventionen aus Brüssel abholen. Am Ende sind alle berechtigten Fakultäten exzellente Fakultäten, irgendwie.
Die Moral von der Geschichte: Ambitionierte Hochschulen müssen sich unweigerlich nicht nur verwissenschaftlichen, sondern vernaturwissenschaftlichen. Jenseits des »verMINTen Geländes« operieren dann, von Randerscheinungen (»kleinen Fächern«) einmal abgesehen, ergraute Disziplinen ohne tragfähige Perspektive, »die notgedrungen versuchen müssen, mit großen Studierendenzahlen über die Runden zu kommen, und schnell die Hoffnung aufgeben, jemals bzw. jemals wieder forschungsstark werden zu können.« Ob mit oder ohne Studiengebühren, das Resultat ist immer dasselbe: Wenn sich »in der Forschung Qualität auszahlt, in der Lehre hingegen nur Quantität«, dann resultiert daraus »eine starke gleichzeitige Differenzierung und Stratifzierung«, nicht nur auf das Ganze gesehen, sondern auch innerhalb jeder einzelnen Hochschule (Meier/Schimank 2009, S. 55). Im Effekt wird reine Lehre zur gerechten Strafe für schlechte Forschung. Ein absurdes Theater, wenn man im Auge behält, dass Lehre eigentlich aufgewertet werden soll, um sie aus ihrem Mauerblümchen-Dasein herauszuholen und in eine halbwegs akzeptable Alternative zu verwandeln.
Die Absurditätsschraube lässt sich indes noch eine Umdrehung weiter anziehen, bevor sie sich endgültig festfrisst. Auf dem Markt der Lehre konkurrieren Exzellenz und Attraktivität miteinander: Wer dort nachfragt – das Gymnasiastenheer – hat (fast) keine Ahnung von dem Produkt, dessen Qualität es kundensouverän zu bewerten gilt. Wobei man sogar noch von Glück sprechen kann, denn wer könnte mit Sicherheit sagen, dass ein Publikum ohne Flausen, Unsinn oder Illusionen im Kopf massenhaft nach diesen unsortierten Bildungsstätten drängen würde? Wie auch immer: Man entscheidet nach bildungsfern-hedonistischen Kalkülen (Fahrweg, Zimmerpreise, Studiengebühren, Kneipenszene o. ä.). Die Universität als Lehranstalt reagiert darauf und mutiert zur spaßverheißenden »Elfenbeinhüpfburg« (ZEIT). Zwar hat Fichte den universitären Drang ins Lächerliche schon zu seiner Zeit diagnostiziert: »Es hat sich des Deutschen, insbesonderheit des Norddeutschen öffentlichen Lebens ein allgemeiner Ernst und eine feste Abgemessenheit bemächtiget, und es giebt in demselben ein öffentliches hochkomisches eigentlich gar nicht mehr, außer das beschriebene Studentensystem und Studentensitte; dies allein eignet sich noch dazu, den Abgang der aus der Sitte gekommenen öffentlichen Possen zu ersetzen, und dem Volke zuweilen ein außerdem schwer an sich zu bringendes herzliches Gelächter zu verursachen.« (Fichte 2005, S. 367). Doch damals hat die Hochschule dem »Eventbrimborium« (ZEIT) ihre eigene Ernsthaftigkeit entgegengesetzt, während sie heute dazu neigt, den Studienbetrieb der gerade aktuellen PR-Mode zu unterwerfen. (Lehr-)Populismus und (Forschungs-) Elitismus unter einem Dach – wie soll das gut gehen?
Kurzum, bekümmern muss uns vielleicht weniger, dass ein Zweiklassensystem unter deutschen Hochschulen entsteht, sondern eher: dass sich dermaßen klare Verhältnisse gerade nicht herauskristallisieren. Leipzig ist weder Lüneburg noch München – seine Alma Mater muss forschend und lehrend am (gespaltenen) Markt bestehen. So geht es vielen Hochschulen des juste milieu – könnten Institutionen fühlen, wäre diese mittlere Schicht ›reif für den Psychiater‹.
3. Fichtes Gardinenpredigt
Wen wundert es da, dass das Publikum, auch dort, wo es nicht zahlt, unruhig wird und auf ein Studium sinnt, das gegen die allgemeine Malaise immun ist. Wohl so, nicht anders, ist jener omnipräsente Ruf nach selbstbestimmtem Studieren zu verstehen, mit dem jene Avantgarde ins Feld zieht, die sich als Sprachrohr der Hörer aller Klassen begreift. Das Ich als denkender Ort inmitten hirnloser Verhältnisse? Sum, ergo cogito?
Das freie, bestimmungs- oder jedenfalls berufsenthobene Denken wird freilich nicht als persönliches Recht auf geistige Abenteuer verteidigt, sondern zum Standesprivileg erklärt: Studierenden soll diese Möglichkeit gerade deswegen eingeräumt werden, weil ihr sonst niemand teilhaftig wird, eingeschlossen sie selbst, solange sie nicht studiert haben (Schulzeit) bzw. sobald sie nicht mehr studieren werden (Berufsarbeit, inklusive der wissenschaftlichen). Diesen studentischen Dünkel (damals freilich von viel dumpferer Sorte) hat Johann Gottlieb Fichte, Humboldts pädagogischer Konkurrent in Berlin, scharfzüngig und endgültig (z)erlegt.
Was ihn im Kern stört, ist weniger jenes närrische Moment, das dem Studentischen nachgerade gattungsmäßig anzuhängen scheint oder wenigstens schien; sondern: die Anmaßung, den kindischen Lebenswandel als überlegene Daseinsform zu prätendieren. »Die Menschenart, die ich meine«, verkündet er in seiner legendären Rektoratsrede von 1811, »entsteht auf folgende Weise: Indem solche, die durch eigene Erfahrung durchaus keinen Begriff sich zu machen vermögen vom Studieren, Universitäten sehen, und die mancherlei Eigenthümlichkeiten derselben erblicken, können sie, bei ihrem gänzlichen Unvermögen, alle diese Anstalten sich zu denken als das Mittel für den ihnen völlig verborgenen Zweck, dieselben nicht anders begreifen, denn als einen besondren Stand von Studenten, der eben so, wie etwa der Adel=, oder Bürger=, oder Bauernstand, auch in der Welt seyn müsse, aus keinem andern Grunde, als um zu seyn, und um die Zahl der Stände voll zu machen; und welcher nun einmal, zu folge seines Daseyns, die und die Befreiungen und Privilegien von Gott und Rechtswegen besitze. Der eigentliche Mittelpunkt und Sitz ihres Irrthumes liegt klar am Tage. Das Studieren ist ein Beruf; die Universität mit allen ihren Einrichtungen ist nur dazu da, um die Ausübung dieses Berufes zu sichern; und nur derjenige ist ein Studierender, der eben studiert.« (Fichte 2005, S. 362)
Angemessen aktualisiert heißt das: Selbstverliebte Studierende betrachten die Universität als eine große Veranstaltung, der beizutreten ihnen (alternativlos) das Abitur ein Recht gibt. Mit diesem Beitritt werden sie Mitglieder eines Berufsstandes, der seinen eigenen Gesetzen folgt – und so wenig auf andere Berufe hinführt wie etwa das Bäckerhandwerk die Vorstufe zum gelernten Schreiner abgibt. Doch welchen Beruf üben Studierende aus? Sie studieren, meint Fichte lakonisch, was damals meist hieß: Man säuft und schlägt sich. Heute stehen andere Praktiken im Vordergrund: Denken und Diskutieren, Protestieren und Besetzen, alles natürlich selbstbestimmt – und wenn schon nicht mehr ewig, dann doch so lange, wie es Spaß macht bzw. »die Sache« (irgendeine) erfordert. Fristen sind daher unanständig – man sagt schließlich Fleischern und Friseuren auch nicht, nach spätestens fünf Jahren sei im Regelfall Schluss.
Welche Vorrechte möchte der Homo studens für seine Gattung reklamieren? »Der Studenten=Stand«, so fasst Fichte die Forderungen zusammen, »solle zu allem berechtigt seyn, was allen übrigen Ständen durch Gesetz und Sitte verboten ist, grade darum, weil es ihnen verboten ist, indem nur dadurch das Ausschließende des Rechts dargestellt wird.« Diese Privilegien gebühren ihm »durch göttliches und natürliches Recht, welches durch die Anerkennung aller Zeiten bestätigt ist, und älter ist als alle bestehenden Staaten, und diese selbst bindet. Errichtet drum ein Staat eine neue Universität, so kommt es nach diesem Lehrgebäude keineswegs ihm zu, die Rechte derselben zu bestimmen. Diese sind schon bestimmt, bloß dadurch, dass das Wort Universität ausgesprochen wird.« (Fichte 2005, S. 363)
Wiederum aktualisiert: Da sich die Berufsstudierenden im Gegensatz zu anderen Professionen dadurch bestimmten, dass sie sich nicht selbst erhalten, postulieren ihre Sprecher ein Quasi-Menschenrecht auf eine frist- und bedingungslose Bafög-Unterstützung, gegebenenfalls einkommensunabhängig, da elterliche Subventionen elterliche Interventionen nach sich ziehen könnten, was schon als schiere Möglichkeit mit der Berufsehre nicht zu vereinbaren ist. Alles andere als eine völlige Separation von den Niederungen und Notwendigkeiten des praktischen Lebens wäre dem Studentenleben unangemessen, nimmt es doch nicht nur den höchsten Rang ein, »sondern einen solchen, der zu dem ganzen übrigen Menschengeschlechte gar kein Verhältniß hat; sie stellen dar das auserwählte Volk Gottes, alle Nichtstudenten aber werden befaßt unter den Verworfenen.« (Fichte 2005, S. 363).
Wer kennt diese Attitüde nicht? Die Studierenden als herausgelöste Sondereinheit, voll des »Gefühles der Erhabenheit und Ungebundenheit«, die ihren Dienst an der (ihre Lebensform subventionierenden) Gesellschaft eben dadurch erfüllt, dass ihr diese Gesellschaft gleichgültig ist. Auch wenn sie alles, was sie will, in deren Namen will.
4. Vivant professores?
Jene herrlichen Burschen, die ihresgleichen aufgefordert haben, sich des Lebens doch zu freuen (gaudeamus igitur), sind auch in der richtigen Stimmung gewesen, Professoren (neben Prostituierten) hochleben zu lassen: vivant professores! Die Professoren leben, doch warum sie (hoch)leben sollen, das erschloss sich nicht unmittelbar. Welche Reize hatte ihnen der »Lehrkörper« zu bieten? Was offeriert er den Heutigen?
An dieser Stelle richtet sich der Blick nachgerade reflexartig auf die Verhältnisse jenseits des großen Teiches, da, wo – wenigstens am efeuumrankten Gipfel – alles besser sein soll, nicht zuletzt das Lehrklima: niedriger Deputate und kleinerer »Klassen« wegen. Was man empirisch von den Verhältnissen dort weiß, spricht freilich eine andere Sprache: Einschlägige Studien lamentieren darüber, dass »too many professors, perhaps most, are doing a mediocre job in the classroom. Students are inclined to agree.« Umfragen in diesen Kreisen stellen die Verhältnisse nachgerade auf den Kopf, hat sich doch gezeigt, dass »satisfaction is highest in colleges that keep their enrollments small, don’t have graduate programs, and are not necessarily nationally known. The lowest scores« – die noch erstaunlichere Kehrseite der Medaille – »went to undergraduate instruction at large, well-known research universities.« Harvard, Yale, Princeton als Hochburgen eines pädagogischen Lotterlebens. Um das Maß voll zu machen, wird diese Not auch noch als Tugend gepriesen: »As matters stand, one measure of university’s prestige is how little teaching is asked of its tenured professors.« (Hacker 2005). Das Heilmittel gegen schlechte Lehre ist keine Lehre.
In abgewandelter Form wird diese Therapie auch hierzulande propagiert: Wer gute Lehre haben will, darf nicht mehr Lehre verordnen, heißt es. Aber was heißt schon gute Lehre? Man muss ja nicht gleich ans Jura-Studium denken, dessen Vertreter aus Tradition ohne Theorie an der Praxis, ja selbst dem Examen vorbeidozieren. In den meisten Disziplinen sind die Verhältnisse verwickelter, doch unter dem Strich gilt wohl: (Lehr-)Masse und (Lehr-)Klasse haben wenig miteinander zu tun. Vor allem: Für’s »Leben« (wenn damit grob umrissene Lebensläufe gemeint sind) lernen Studierende nichts oder jedenfalls viel weniger als ihnen lieb ist (worüber sie notorisch klagen). Wie auch, mag man da fragen – und ist den professores fast dankbar dafür, dass ihre Eitelkeit nicht so weit reicht, über einen Weltausschnitt dozieren zu wollen, dessen Zustände vom Elfenbeinturm aus kaum erkannt, geschweige denn durchschaut werden können.
Warum dann den Spieß nicht einfach umdrehen: scholae, nont vitae discimus. Studieren also um des Studierens willen und jeder Lehrling als »Unternehmer seines Selbst«? Dieses Credo durchzieht eine Universitätsrede, die, anders als Fichtes Ansprache, ihr Publikum nicht an seine akademische Pflichtvergessenheit erinnert, sondern ihm klarzumachen versucht, dass es für sich selbst etwas tun kann, bestenfalls. Andrew Abbott, Soziologe an der Universität von Chicago, bekennt offen, dass jede praktische Zweckbestimmung eine (Selbst-) Täuschung sei: »I have shown first«, so resümiert er vor Erstsemestern seinen ergebnislosen Durchgang durch gängige Vorstellungen, »that your general level or worldly success does not depend on your study here – indeed that success is already pretty much guaranteed. I have shown second that your detailed level of wordly success is a function of occupational choices that will come after your time here and that will be largely unrelated to it. I have shown third that there is no strong evidence that college education gives you cognitive skills not available elsewhere and forth that the much-vaunted basic intellectual skills may not in fact be the most important skills either in [...] professional life. Nor finally is there any reason to believe in a canon, since said canon is manifestly absent in actual American life« (weshalb er auch nicht als »kulturelles Kapital« fungieren kann). Oder kürzer noch und schockierender: »There is quite a strong case to be made that, given who you are and where you are, there is no particular necessity for you to study anything«. (Abbott 2002)
Abbotts Botschaft behält ihren Wert, auch wenn Chicago nicht die Welt ist. Letzten Endes kann mit dem Studium nur etwas anfangen, wer mit sich etwas anfangen will. Aber was? Man muss sich bilden wollen: »the ability to make more and more complex, more and more profound and extensive, the meanings that we attach to events and phenomena« – darum geht es, um nicht mehr und nicht weniger (Abbott 2002). Sinngewinne dieser Art können durch ganz verschiedene Operationen entstehen: Textinterpretation, mathematische Beweisführung, historischen Kontext, soziologische Imagination, also gerade nicht: selbstbestimmtes Studieren, falls dabei unterstellt wird, Disziplin (Studienfach) und Disziplin (Methode) hätten nichts miteinander zu tun. Kein Mensch, davon spricht schon Humboldt, wird jenseits der Wissenschaft(en) gebildet, einfach so, in einem Akt furioser Gedankenschwelgerei. Würden professores es schaffen, diese Einsicht zu vermitteln, sollen sie leben. Das Chicago- Exempel freilich ist an diesem Punkt merkwürdig blind: Abbott behandelt den Lehrkörper (warum auch immer) als »black box« – eine vernachlässigbare Größe verglichen mit der studentischen Motivation. Dieses Vakuum wartet darauf, gefüllt zu werden, und die Zeit für wirre Füllungen ist gekommen.
5. Humbug und Humboldt
Wo viel Elend ist, liegt der radikale Schnitt nahe: Man stellt die punktuelle Kritik (voice) ein, träumt vom Ausbruch (exit) und kündigt das Wohlverhalten (loyalty) auf. So kommt unter den Bewegten Jacques Derridas »unbedingte Universität« ins Spiel. »Die Universität«, heißt es da hochgemut, »müsste der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht: Die gegenwärtige und determinierte Gestalt der Demokratie sowenig wie selbst die überlieferte Idee der Kritik als theoretischer Kritik, ja noch die Autorität der Form ›Frage‹, des Denkens als ›Befragung‹«. Es muss ein Recht geben, »alles zu sagen, sei es auch im Zeichen der Fiktion und der Erprobung des Wissens; und das Recht, es öffentlich zu sagen, es zu veröffentlichen.« (Derrida 2001, S. 14; Horst u. a. 2010)
Keineswegs glaubt Derrida, dass diese radikale Veranstaltung jemals funktioniert hat. Im strikten Sinne lässt sie sich gar nicht realisieren, weil ihr jede Art von Selbstschutzmechanismus fehlt (Derrida 2001, S. 16). Wenn alles geht, dann geht eben auch wirklich alles. Was unterscheidet dann Derridas Universität von einem Narrenkäfig? Anything goes – dieses Prinzip regiert beide Institutionen, und beide können es nicht durchhalten. Erst mit den Grenzbestimmungen kommen die ausschlaggebenden Unterschiede ins Spiel. Allerdings: Je weiter die Differenzierung voranschreitet, desto höher wird das Risiko, dass vom Ideal am Ende nichts mehr übrig bleibt, weil im Zusammenspiel aller sogenannten »realistischen«, sprich: restriktiven Zusätze sich schließlich durchsetzt, was »ist« – der Status qu. a.s Argument.
Dem Dilemma, entweder bei der Narretei oder aber im Käfig zu landen, entkommt man durch den Austauschs des Ideals: Freiheit wird ersetzt durch Wahrheit. Dann präsentiert sich die unbedingte Universität als ein anderer Platz: »Die Universität ist der Ort der Wissenschaft, die Wissenschaft ist der Sinn der Universität.« Wissenschaft ihrerseits »versucht, systematisch und methodisch zu erkunden, was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist und warum es der Fall ist. Die wissenschaftlichen Aussagen sollen die Welt so beschreiben, wie sie tatsächlich ist. Nur vor dem Hintergrund dieser Verpflichtung auf die Wahrheit werden die intellektuellen Tugenden verständlich, auf die die For- scher eingeschworen sind und ohne die Wissenschaft schlechterdings nicht denkbar ist. Wissenschaftler dürfen niemals unkritisch und ungeprüft fortschreiben, was Menschen sowieso schon glauben oder glauben wollen« (Tetens 2008, S. 24).
Gefragt wird auch hier, nichts gilt unbesehen; doch gefragt werden darf, anders als bei Derrida, immer nur bedingt, nämlich in einer bestimmten Frage-Form: eben »systematisch und methodisch«. Wahrheit erweist sich daher, genauer besehen, als Regulativ, das festlegt, welche epistemologischen Praktiken »wissenschaftlich« genannt zu werden verdienen. Dann geht eben nicht mehr alles – nur wer zur Sache kommt, darf reden. Autonomie und Ausschluss sind zwei Seiten derselben Medaille.
Dass nicht jedermann einfach hineinreden kann, aber auch niemand, der richtig fragt, ausgeschlossen werden darf, macht jene (selbst-)aufklärerische Praxis möglich, die man sich wohl in Chicago vorstellt; wir denken dabei an Humboldt. In ihrem Rahmen ist es strikt untersagt, »ständische« Teilnahmebedingungen einzuführen, etwa mit dem kleinmütigen Argument, (auch) in der Wissenschaft seien Lehr- nun mal keine Herrenjahre. Schließlich stehen den »Lehrenden« keine »Belehrten«, sondern »Studierende« gegenüber, die in einer arbeitsteilig angelegten Wissenschaftsproduktion ihren eigenen, unverzichtbaren Beitrag leisten: »Es ist,« bemerkt Humboldt, »eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. […] Beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich vonstattengehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen muthig hinstrebenden«. (Humboldt 1993, S. 256). Forschung aus Lehre – das ist Humboldts eigentliche Devise. Dass sie unter den gegebenen Umständen in hohles Pathos umkippt, verwundert niemand. Eher schon fragt man sich, warum unter den üblichen Verdächtigen ein möglicher Verursacher überhaupt nicht auftaucht: der Forschungsbetrieb selbst.
6. »Stecknadel-Forschung«
Zunächst einmal: Jene, die lautstark Humboldt hochhalten, drehen sein Prinzip um und entdramatisieren es damit: Bestenfalls Lehre aus Forschung erscheint ihnen wünschenswert, ja überhaupt nur denkbar. Fraglich ist freilich, ob unter heutigen Bedingungen dem Radikalitätsverlust ein Realitätsgewinn gegenübersteht. Was zu Humboldts Zeiten immerhin noch möglich gewesen sein mag, scheint der radikalen Veränderung des herrschenden Forschungsbegriffs zum Opfer gefallen zu sein.
Humboldts Ideal verherrlicht Forschung als Prozess der Kommunikation – ein gemeinschaftliches Arbeiten wissbegieriger Seelen zum Zwecke höherer Einsicht in das, was die Welt im Innersten zusammenhält: Den »Wissenschaften« (im Plural – es geht also nicht um ein schimärenartiges Wissen als solches) habe besonders gut getan, dass sie universitär – und nicht an außeruniversitären »Akademien« (ohne Studierende) – verankert seien. Professoren, resümiert er, »sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Musse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft.« Und weiter: »Der Gang der Wissenschaft ist offenbar auf einer Universität, wo sie immerfort in einer großen Menge und zwar kräftiger, rüstiger und jugendlicher Köpfe herumgewälzt wird, rascher und lebendiger. Ueberhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbstthätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stossen sollte.« (Humboldt 1993, S. 262)
Große und kleine Meister, sich wechselseitig beflügelnd, erfahren, aber einseitig die einen, ihnen gegenüber andere, deren Routinemangel durch Vitalitätsvorsprünge mehr als kompensiert wird: Diese kommunitaristische »Ideenfabrik« hat Humboldt im Kopf. In krassem Gegensatz dazu steht jener quasi-industrielle, wirklich fabrikmäßige, sprich: fordistische Forschungsbetrieb, der den naturwissenschaftlichen Alltag heute ausmacht und auch innerhalb der »weichen« Wissenschaft seit Längerem Fuß gefasst, ja sogar immer mehr Anhänger findet. Adam Smiths legendäres Stecknadelbeispiel beschreibt diese Praxis der Arbeitsteilung samt ihren Vorzügen sehr genau, sofern man es einfach auf Gehirne (Nadeln) und Gedanken (Köpfe, Drähte) bezieht: »Um eine Stecknadel anzufertigen, sind [...] achtzehn verschiedene Arbeitsgänge notwendig, die in eigenen Fabriken jeweils verschiedene Arbeiter besorgen, während in anderen ein einzelner zwei oder drei davon ausführt. Ich selbst habe eine kleine Manufaktur dieser Art gesehen, in der nur 10 Leute beschäftigt waren, so dass einige von ihnen zwei oder drei solcher Arbeiten übernehmen mussten.« So »konnten sie zusammen am Tage doch etwa 12 Pfund Stecknadeln anfertigen, wenn sie sich einigermaßen anstrengten. Rechnet man für ein Pfund über 4000 Stecknadeln mittlerer Größe, so waren die 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48 000 Nadeln herzustellen, jeder also ungefähr 4800 Stück.« (Smith 1993, S. 190). Wenn jeder aber einfach vor sich hinproduziert hätte, wären es gerade mal 20 geworden – bestenfalls, denn um Stecknadeln komplett zu produzieren, bedürfte es eines handwerklichen Geschicks, über das nur wenige verfügen (und von jenen Arbeitern vermutlich kein einziger). Dieser Produktionsstil ist keineswegs nur eine Analogie des wissenschaftlichen Arbeitens, sondern wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts ganz offen als dessen Vorbild propagiert. So schlug der englische Mathematiker und Ingenieur Charles Babbage vor, sich an den Manufakturen ein Beispiel zu nehmen, weil sie ihre Tätigkeiten so lange zerlegen, bis deren Ausführung von unqualifizierten Arbeitskräften übernommen werden kann – was die Wissens- wie jede andere Produktion präziser und preiswerter machen würde (s. Daston 2001, S. 146). Attraktive Qualitäten für eine expandierende und sich globalisierende Wissensindustrie, aber nichts, was auch nur im Entferntesten noch an Humboldt erinnert.
L’art c’est moi, la sciene c’est nous – der Spruch trifft es zwar auch nicht ganz, weil in beiden Formen Wissen auf Kooperation angewiesen ist, doch im einen Fall tauschen »Artisten« in Seminaren ihre persönlichen Gedanken aus, während im anderen »Arbeiter« entpersonalisierte (Mess-)Daten am Fließband herstellen. Dies zu lehren, hieße, die Leere lehren – oder jedenfalls nichts, was aus Forschung kommt, und schon gar nichts, was dahin führt. Einen bezeichnenden Befund dafür mag man darin finden, dass selbst die (vormals) »weichen« Wissenschaften das Theoretisieren expatriieren – wer dort, sich »härtend«, den naturwissenschaftlichen Fortschritt kopiert, hat für Gedankenflüge (selbst methodisch kontrollierte) keine Verwendung mehr – empirisch ermittelt geht »die Schnittmenge der Interessenten an Theorie und standardisierter Sozialforschung gegen Null« (Hirschauer 2008, S. 165). »Sargnagel-Forschung« wäre vielleicht ein passenderer Begriff.
7. Der Brei der Fakultäten
Eine Riege renommierter Juristen hat jüngst den ebenso aufwendigen wie unübersichtlichen Versuch unternommen, die Eigenart ihres Faches, sein proprium, begrifflich zu bestimmen (Engel/Schön 2007).
Nur ganz am Rande – im kursorischen Verweis darauf, dass diese Wissenschaft »in eine Nähe zu den beiden anderen großen praktischen Disziplinen, der Technik und der Medizin«, stehe –, scheint die Erinnerung daran durch, was Kant richtungsweisend zu dem Thema berichtet hat, nämlich: dass man trennen müsse zwischen »Fakultäten« mit praktischem Nutzen, deren Absolventen auf dem (lange Zeit ausschließlich oder vorwiegend staatlichen) Arbeitsmarkt gefragt seien, und solchen ohne gesellschaftlichen Gebrauchswert. Luhmann (1987) komplettiert diese Dichotomie mit dem Vorschlag, jene Klientel ihrer künftigen Sicherheit wegen streng zu examinieren, während diese leichter davonkommen könne, weil sie später mit höheren (Arbeitsmarkt-)Risiken konfrontiert sei.
Alles in allem, meint Kant, sei das keine zufällige Konstellation. Vielmehr könne man davon ausgehen, dass »die Organisation einer Universität in Ansehung ihrer Klassen und Fakultäten nicht so ganz vom Zufall abgehangen habe, sondern daß die Regierung, ohne deshalb eben ihr frühe Weisheit und Gelehrsamkeit anzudichten, schon durch ihr eignes gefühltes Bedürfnis (vermittelst gewisser Lehren aufs Volk zu wirken) a priori auf ein Prinzip der Einteilung, was sonst empirischen Ursprungs zu sein scheint, habe kommen können, das mit dem jetzt angenommenen glücklich zusammentrifft; wiewohl ich ihr darum, als ob sie fehlerfrei sei, nicht das Wort reden will.« (Kant 1975, S. 13) Deswegen gebe es eben drei »obere« Fakultäten, welche dem »Betreiber« Staat wichtiger seien als die »unteren« (von denen damals nur eine, Philosophie, existiert hat), nämlich Rechtswissenschaft, Theologie und Medizin. Wobei der Souverän zwar davor zurückschreckt, den Betrieb einfach selbst zu übernehmen, doch immerhin darauf insistiert, dass auf jeden Fall das Richtige gelehrt werde: »Daher schöpft der biblische Theolog (als zur obern Fakultät gehörig) seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine ins Publikum gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen Körpers, sondern aus der Medizinalordnung. – Sobald eine dieser Fakultäten etwas als aus der Vernunft Entlehntes einzumischen wagt: so verletzt sie die Autorität der durch sie gebietenden Regierung und kommt ins Gehege der philosophischen, die ihr alle glänzenden, von jener geborgten Federn ohne Verschonen abzieht und mit ihr nach dem Fuß der Gleichheit und Freiheit verfährt. – Daher müssen die obern Fakultäten am meisten darauf bedacht sein, sich mit der untern ja nicht in Mißheirath einzulassen, sondern sie fein weit in ehrerbietiger Entfernung von sich abzuhalten, damit das Ansehen ihrer Statute nichtogo-saw-small" src="http://www.denkstroeme.de/pic/logo-saw-small-002.p975, S. 15)
Von solcher eingängigen Klarheit (vielleicht wird Kant deswegen einfach vergessen) ist die universitäre Szene heute weiter denn je entfernt. Zwar gibt es immer noch Disziplinen mit besonders strapaziösen Prüfungsordnungen oder solche, deren Absolventen einen privilegierten Zugang zum Arbeitsmarkt haben; und selbstredend sind unsere »oberen Fakultäten«, jedenfalls soweit es um das Curriculum geht, keine »echten« Wissenschaften, sprich solche, denen es darum geht, ihren Weltausschnitt einfach bestmöglich zu verstehen – Theologen, Mediziner, Pädagogen, Techniker, Juristen »traktieren« ihre Objekte auf je eigene Art. Aber es kann auch wild durcheinander gehen: Zahllose Juristen finden keine angemessene Arbeit, Volkswirte paradieren mit hohen Durchfallquoten, wiewohl sie kaum den »oberen« Disziplinen zuzurechnen sind, Medizinberufe sind weiterhin ziemlich krisensicher; und Theologen erfreuen sich immer noch staatlicher Protektion, wiewohl sich ihre Nützlichkeit verflüchtigt hat. Vor allem aber: Employability und Exzellenz sind dabei, das gesamte Feld neu aufzumischen, mit ganz eigensinnigen Vorstellungen davon, was »oben« oder »unten« ist (sodass z. B. untere Exzellenz mit oberer Mediokrität ausgesprochen spannungsreich koexistiert).
Kurzum: ein zähflüssiger, undurchsichtiger Brei. Jedenfalls kein einfacher »Ort«, daher auch keiner falscher für den falschen Mann Humboldt (Schimank 2009) – der wiederum als Säulenheiliger schon zu seiner Zeit nur bedingt getaugt hat: Schließlich mussten bereits damals ein Kodex, Katechismus oder Knochen einfach kapiert werden, ohne dass Elemente einer forschenden Kommunikation den Vermittlungsprozess hätten infizieren können. Was sich seither geändert hat, ist, oberflächlich betrachtet, zwar sehr viel und alles Mögliche, doch unterhalb des Gekräusels dominiert ein strukturbildender Trend: eben der Aufstieg des modernen, »seriellen« Forschungsbetriebs samt seiner rigiden Theorieabstinenz, die »freien Vernünfteleien« ganz enge Grenzen setzt: zero tolerance.
8. Des Pudels Kern
In zeitlicher Hinsicht ist Humboldts Regime seit jeher begrenzt, denn irgendwann beginnt der Ernst des kurzen Lebens – das fröhliche währt nur so lange, wie uns die Gesellschaft für jung hält: juvenes dum sumus. Also ein ganzes Studium hindurch? Oder bis zum Bachelor (wie in Chicago)? Soll vielleicht noch früher Schluss mit lustig sein, etwa dann, wenn alle wissen müssen, was sie studieren wollen (»Orientierungsphase«). Oder überspringt man die Jugend gleich ganz und macht sofort ernst, weil jede Verzögerung als Handikap gilt? Nach dem Motto: Was Hänschen verplempert, holt Hans nie mehr rein.
Diese Unsicherheit im Zeitlichen verdeckt das sachliche Dilemma – niemand weiß so recht, zu welchem Zweck »junge Menschen« studieren sollen. Dahinter steckt der soziale Aspekt und eigentliche Kern: Homo studens ist eine unbekannte (unterbestimmte) Art.
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