Europäischer Bildungsraum – symbolpolitische Utopie oder zu verfolgendes Projekt?
40 Thesen zur unbewältigten Gegenwart unseres Schul- und Hochschulsystems
1. Das Thema Bildung ist ein »Megathema« (Roman Herzog 1999), nicht anders als das Thema Europa oder das Thema Globalisierung. Zusammen kommen diese Themen, wo man von einem scheinbaren oder wirklichen »Bildungswettbewerb« in einem »europäischen Bildungsraum« spricht und diesen in einem »globalen Bildungsmarkt« situiert. Gerade angesichts von PISA und SHANGHAI, so meinen Reformer in geradezu planetarischer Perspektive, müsse Deutschland unter anderem durch den BOLOGNA-Prozess und durch Exzellenzinitiativen im Bereich Bildung und Wissenschaft fit gemacht werden. HUMBOLDT steht dagegen auf der Fahne einer Art nationaler Tradition. Schon die Schlagworte der ›Reformisten‹ nähren die Vermutung, dass es sich unter dem Vorwand der Europäisierung der Institutionen höherer Bildung in Wirklichkeit um eine Art ›chinesische‹ Verschulung handeln könnte: Wie nach dem Modell der schematischen ›Ausbildung‹ von Mandarinen würden allerlei technische Sekundärtugenden als angebliche ›Schlüsselqualifikationen‹ vermittelt. Es könnte sich daher weniger um eine zielführende Reform handeln als um eine mehr oder weniger unbeabsichtigte ›Italianisierung‹ deutscher Bildungsinstitutionen durch Absenkung des Bildungsniveaus auf die tiefstmögliche Stufe – und das alles in vermeintlicher Übernahme US-amerikanischer Muster der Anpassung an die Zwänge einer Massen- und Industriegesellschaft.
2. In dieser Kritiklinie steht offenbar nicht nur die Medikation in Frage, sondern schon die Diagnose der vermeintlichen oder wirklichen Insuffizienzen, aus denen eine Notwendigkeit zugleich der Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit und der Homogenisierung der europäischen Bildungslandschaft oder auch nur einer Verbesserung der Lehre abgeleitet wird. So wurde in manchen Bundesländern wie Schleswig-Holstein unter dem Vorwand »Europa« der BOLOGNA-Prozess der Modularisierung des Universitätsstudiums sogar in die Hochschulgesetze aufgenommen. In der Tat waren zuvor die Quote der Studienabbrecher und die Verweildauer an den Hochschulen zu hoch gewesen. Doch auch nach der Reform erzieht das deutsche Hochschulsystem ironischerweise gerade deswegen zu Selbstverantwortung, weil es, anders als die meisten Colleges der englischsprachigen Welt, gar nicht die Ressourcen erhält für ein allzu intensives ›Pampering‹ der Studierenden. Die Vermeidung einer entsprechenden Infantilisierung der Studierenden geht allerdings einher mit einer großen Anzahl an Studienabbrüchen derer, denen die nötige Autonomie im Studium zu schwer ist, oder mit dem viel gescholtenen ›Endlos-Studium‹. Wer mehr Anleitung braucht, der findet seinen Weg nicht durch das Chaos der ›Angebote‹ im deutschen System. Es ist, andererseits, durchaus problematisch, wenn unter dem Vorwand der Homogenisierung der europäischen Hochschullandschaft das Hochschulwesen stärker »nachfrage-orientiert« organisiert werden soll, also so, dass ein Abschluss praktisch garantiert wird. Das schadet mit Sicherheit der Leistungselite, die ihr Studium nach guter gymnasialer Vorbildung eigenständig und professionell angehen kann und nützt am Ende bestenfalls auf dem Papier oder in der Statistik.
3. Es wären dementsprechend auch die in PISA-Studien erhaltenen quantitativen Aussagen über die abstrakt aggregierten Kenntnisse diverser Schulpopulationen allererst qualitativ in zielgerichtete Orientierungen zurückzuverwandeln. Analoges gilt für das Ranking der in SHANGHAI als ›die besten‹ angesehenen Universitäten der Welt. Während in Deutschland bisher sehr gute Institutionen miteinander konkurrieren, nicht anders als die vielen Schauspiel- und Operhäuser, zentriert sich in anderen Staaten die Ausbildung von Eliten auf wenige Exzellenzorte wie Stanford/CA, Princeton/NJ, Harvard und MIT in Cambridge/Mass. oder Oxford/England. Das erzeugt zwar eine Art brain drain, so wie die Metropolitan Opera im Lincoln Center New Yorks oder die Mailänder Scala Sänger, Sängerinnen und Dirigenten attrahiert. Die Absorption vieler unserer Absolventen im Ausland (praktisch in allen Fächern) zeigt aber zugleich, dass die Universitätsausbildung in unserem Lande bis dato durchaus konkurrenzfähig ist. Wer daher über die Abwanderung von exzellenten Nachwuchswissenschaftlern klagt und für »Spitzenforscher« Rückkehrprogramme fordert oder fördert, hat damit schon ein überwiegend positives Urteil über die »Exzellenz« unserer Bildungseinrichtungen gefällt und sollte uns daher allererst erklären, was er denn warum und wie verbessern will.
4. Fragwürdig sind dabei insbesondere alle quantitativen Rankings, die, wie etwa das GÜTERSLOH-Ranking der BertelsmannStiftung, informelles Wissen der geschilderten Art nicht berücksichtigen. Es ist daher kein Wunder, dass für hinreichend informierte und kritisch denkende Zeitgenossen die statistischen Ergebnisse derartiger Rankings erstens als hochgradig abhängig erkennbar sind von der Wahl der Frageformen oder ›Daten‹-Erhebung. Zweitens finden die sich ergebenden Rankings vorzugsweise dadurch Anerkennung, dass die hinreichend gut bewerteten Institutionen oder Personen sich auf sie berufen. Die Skepsis der anderen gilt als nicht weiter relevant. Die Anerkennung der Rankings und ihre Folgen haben daher immer auch die problematische Struktur einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das zeigt sich, drittens, sehr schön, wenn in den Hochschulrankings von Wochenzeitschriften wie DIE ZEIT oder DER SPIEGEL immer wieder gerade unattraktive Studienstandorte mit naturgemäß besseren Proportionen zwischen der Anzahl von Lehrenden und Studierenden höchste Bewertungen erzielen. Das hat den schönen, vielleicht heimlich sogar beabsichtigten Effekt, dass mancher Studienanfänger sich für, sagen wir, und das nur exempli gratia, Mannheim, Chemnitz oder vielleicht auch für eine der schönen Ostseestädte entscheidet. Es könnte sogar, viertens, so sein, dass auch das SHANGHAI-Ranking nicht als ›objektive‹ Bestätigung für die hohe Qualität englischsprachiger Universitäten angesehen werden kann.
5. Gerade auch die deutschen Protagonisten der PISA-Studien verfolgen als Pädagogen offenbar das an sich ehrenwerte Ziel, ›finnische Verhältnisse‹ in unserer Schulbildung zu erreichen. Dass die größeren Probleme der Schulen unseres Landes eng mit unserer glücklicherweise ethnisch nicht mehr so homogenen Gesellschaft zusammenhängen, wäre dann aber realistischerweise ebenfalls zu berücksichtigen.
6. Wenn man sich von Statistiken allzu unmittelbar beeindrucken lässt, gibt es die Gefahr, dass deutsche Bildungspolitik innerhalb und außerhalb der Bildungsinstitutionen das autonome institutionelle Denken aufgibt. Eine andere Gefahr lässt sich am Beispiel der Berichterstattung über die Proteste gegen die Bahnschnellstrecke Ulm-Stuttgart und den dafür nötigen Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs recht schnell klarmachen: Es gehört zur Rolle der Medien, Kritik zu unterstützen, selbst wenn diese in der Darstellung des Problems, in diesem Fall unter dem Titel »Stuttgart 21«, rein selektiv vorgeht. Kritik kann dabei immer auch Rechthaberei sein oder sie kann sich selbst widersprechen, etwa wenn man an die Folgen des Verzichts auf staatliche Infrastrukturmaßnahmen denkt – oder diese gerade nicht bedenkt.
7. Möglicherweise ist der Mangel an institutioneller Planung samt der zugehörigen Verwandlung von Projekten in bloße Zufallsprozesse, gesteuert durch einen Ad-hoc-Konsens oder zufälligen Dissens und dem Schwanken zwischen beiden, die Folge eines latenten Empirismus. Dieser Empirismus lässt sich allgemein charakterisieren als ein unbedachter Übergang von einer bloß historischen Statistik zu einer generisch-prognostischen Wahrscheinlichkeit und damit zu einer kausalartigen Theorie. Als solcher ist er im Grunde verwandt mit dem als desaströs bekannten Verfahren, in der Vergangenheit verlorene Kriege in der Zukunft durch unmittelbare historische Analogien gewinnen zu wollen. Das hat zu so untauglichen Strategien geführt wie etwa den Festungsbauten nach den Mustern Vaubans oder Maginots oder zur Parallelisierung des Iraks mit Nazideutschland. Die hiermit angesprochene Analogie von bloß ›empirischer‹ Methode und rückwärtsgewandter Kriegsführung besteht darin, dass man von den ›Zufälligkeiten‹ einer reinen historia ganz unbefangen zu Allgemeinurteilen übergeht, ohne zu prüfen, ob ein solcher Übergang nicht etwa nur unter besonderen Rahmenbedingungen sinnvoll ist. Dabei sind schon probabilistische Erwartungen Allgemeinurteile, und zwar des Inhalts, dass sich auch in Zukunft die entsprechenden relativen Häufigkeiten reproduzieren werden – was sich aber vernünftigerweise nie ohne Zusatzwissen auf bloße Statistik gründen lässt. Kurz, aus Statistiken allein lassen sich keine verlässlichen Allgemeinurteile oder gar wissenschaftliche Erklärungen bzw. stabile Prognosen destillieren.
8. Strukturelles Nachdenken ist nie ohne eine methodische Kaskade der gestuften Berücksichtigung von allgemeinem Vorwissen und Vorerfahrungen möglich. Hierher gehört die Einsicht in die (von Kant »transzendental«, von anderen »präsuppositionslogisch« genannten) Rollen von Rahmeninstitutionen und die allgemeinen Erfahrungen, die wir in und mit ihnen machen. In unserer empiristischen und damit subjektivistischen Zeit abstrahieren wir davon und glauben der Tendenz nach lieber an eine empirische Statistik einerseits, an fromme Reden über ein bloß erwünschtes Gutes andererseits. Das führt zu einer latenten Missachtung republikanischer Strukturen durch einen »Demokratismus«, der eine qualifizierte Teilung von Wissen und Macht samt der zugehörigen Expertenkulturen und einer zugehörigen Expertenethik zugunsten von sich laufend ändernden Mehrheiten des Protests und Gegenprotests aufgibt. Ein solcher Demokratismus wird dann leider nicht mehr von Demokratie unterschieden. Als eines seiner Momente kann auch eine Leistungsbewertung gelten, in der die freien Urteile innerhalb kompetenter Eliten (wie etwa in dem sokratischen Paradigma der Beurteilung der Kompetenz eines Schusters durch die besten Schuster) ersetzt werden durch allerlei Formen bloßer Akklamation einerseits, eines kollektiven Disagreements anderseits. Hierher gehören durchaus auch schon die quantitativen Evaluationen in einer administrativen Bürokratie. Sie stützen sich regelmäßig auf Konsensurteile in Kommissionen. Diese mögen allgemein zielführend sein. Oft aber sind sie auch sachfremd und rein zufällig. Hinzu kommt, sozusagen als Gegenproblem, ein inzwischen häufig allzu überschwängliches Lob vermeintlich oder wirklich allseitig exzellenter Wissenschaftler, eine Art Heroisierung von Very Important Persons, samt der zugehörigen Unterschätzung wirklicher Leistung in der Arbeitsteilung. Eine Kritik an der Ambivalenz in dieser Evaluationspraxis erscheint schwierig, zumal sie seit den Zeiten des Sokrates und Platon zwischen Publikumsakklamation und selbsternanntem Elitismus schwankt.
9. Präzise und in allen Einzelheiten kontrollierbare, in diesem Sinn ›objektive‹, Kriterien gibt es für Grobbeurteilungen komplexer Institutionen tatsächlich so wenig wie für Personen oder für die Einschätzung der Intelligenz oder des Charakters von Deutschen, Franzosen oder Russen. Gerade daher wäre aber auch ein methodenkritisches Wissen um die Unmöglichkeit eines rein statistischen Erkenntnisgewinns über die allgemeine Fachqualität einer Institution oder Person oder dann auch über Ursachen und Gründe von gewissen Folgen oder Erscheinungen institutioneller Verfassungen allererst zu entwickeln. Darin liegt der heimliche Kernsinn der ›empirismuskritischen‹ Ansätze platonisch-aristotelischer und dann auch wieder nachkantischer Philosophie. Deren Grundeinsicht ist gerade, dass generisches Wissen und Können sich nicht rein statistisch und lokal zeigt, sondern in einer nachhaltigen Kompetenz. Die platonischen und aristotelischen Wörter für ein solches ›know-how‹ und ›can-do‹ waren bekanntlich, als erworbene Disposition, »arete« und, in ihrem Vollzug, »energeia« (bzw. »entelecheia«) gewesen. Demgemäß unterscheidet sich reales Wissen als schon frei praktizierte personale Fähigkeit von einer bloß abstrakten Kenntnis von Sätzen einerseits, der Zuschreibung einer bloßen Möglichkeit, etwas zu tun, andererseits. Vorerwartungen oder Zuschreibungen ›a priori‹, besonders von kollektiven Fähigkeiten wie etwa der Leistungskraft von Institutionen, kontrollieren wir dann allerdings tatsächlich ›a posteriori‹ oder ›empirisch‹ dadurch, dass wir die realen Leistungen post hoc beschreiben. Empirische Statistik gehört in eben diese Kontrollsphäre, nicht unmittelbar in die Sphäre der Vor- oder gar Vollbegründung von Prognosen oder Erklärungen. Es sind daher die realen Erfahrungen über die Leistungen von institutionellen Kooperationsformen, wie wir sie aus dem Vollzug im individuellen und kollektiven Handeln kennen, sowohl von bloß verbalen Zuschreibungen mehr oder weniger utopischer Möglichkeiten als auch von bloßen Einzelstatistiken zu unterscheiden, mit denen wir immerhin allerlei Willkürurteile kritisieren können, die aber nicht für eine robuste Begründung generischen Wissens und Könnens ausreichen.
10. Das alles liefert eine tiefere – wenn auch extrem knapp skizzierte – Ursachenanalyse dafür, warum die Implementierung des BOLOGNA-Prozesses selbst ein erschreckendes Maß an institutioneller Inkompetenz zeigt. Weder wurde klar bestimmt, was denn die wirklich zu erreichenden Ziele sind, noch wurde gesehen, dass ein gemeinsames Ziel nur dann zu erreichen ist, wenn die Situation und Rolle der verschiedenen Akteure bei der Bestimmung der Wege angemessen berücksichtigt werden. Der Mangel an Explizitheit der Ziele und Wege verwandelt jedes Projekt in eine Art Zufallsprozess. Das ist das Grundproblem der Institutionalisierung neuer Kooperationsformen. Im Bildungs- und Wissenschaftsbereich wird das Wissen um solche Instituierungen besonders bedeutsam. Dabei ist der behutsame Schutz von Traditionen gerade deswegen so wichtig, weil nicht anders als in Natur und Technik immer auch partiell offen bleibt, welche der lokalen oder national entwickelten Problemlösungsmuster sich nicht doch später einmal in manchem Betracht als funktionstüchtiger als andere herausstellen werden. Es gilt daher immer, das Funktionieren von institutionellen Rahmenbedingungen an realen Paradigmen im jeweiligen Gesamtzusammenhang zu verstehen und nicht blindlings zu glauben, dass die Implementierung von Teilstrukturen anderer Paradigmen, die für einen gewissen Erfolg scheinbar verantwortlich sind, ohne Änderung des Gesamtrahmens sinnvoll sein könnte.
11. Z. B. ist eine Kopie US-amerikanischer Organisationsstrukturen von Hochschulen nicht sinnvoll ohne Einführung von hierzulande politisch zur Zeit nicht durchsetzbaren recht hohen Studiengebühren – mit der durchaus beobachtbaren Nebenfolge der Verfestigung plutokratischer Machtstrukturen über die institutionelle Bevorzugung der Kinder wohlhabender Eltern. Diese werden durch Stipendiensysteme in den USA oder Großbritannien bestenfalls gemindert, nicht aufgehoben. Man sollte daher nicht die längerfristigen Integrationsleistungen des deutschen Bildungssystems übersehen, wie sie in kurzfristigen Statistiken gar nicht abbildbar sind. Im Übrigen sollte man von einem Wunschdenken Abstand nehmen, das sich in utopischen Überschätzungen kurzfristiger Programme einer affirmative action etwa zugunsten der Kinder aus sozial schwachen Milieus ergeht. Trotz riesiger Probleme der Integration erzeugen unsere Bildungseinrichtungen langfristig gerade wegen des eingebauten Leistungs- und Autonomieprinzips wohl immer noch eine größere Homogenisierung der Bevölkerung in einer bildungsmäßigen ›Mittelschicht‹ als in anderen Ländern in vergleichbarer Lage.
12. Die Unterscheidung zwischen verbalutopischen Wünschen und sinnvollen Zielen ist neben einer Stufung von Primär- und Sekundärzielen und einer methodischen Planung von Umsetzungsschritten für jedes vernünftig gesteuerte Projekt zentral. Schon der Ausdruck BOLOGNA-Prozess verrät dabei, dass man gar nicht willens war und ist, die Reform der europäischen Bildungs- und Hochschullandschaft zentral, national oder lokal (auf der Ebene der Regionen und Einzelinstitutionen) wirklich als Projekt verantwortlich und sachkompetent zu planen und in seiner Durchführung entsprechend zielorientiert zu kontrollieren. Das lässt sich schon durch folgende Punkte illustrieren:
13. Zugunsten wohlklingender Wörter wie »Berufsausbildung« oder »employability« wurde vernachlässigt, dass in einem BA- oder ›Bachelor‹studiengang an einer Universität in 3–4 Jahren bestenfalls eine gute Berufsvorbildung zu erreichen ist. Stattdessen erzwang ein utopischer Reformismus, dass eine solide Vorbildung zum autonomen lebenslangen Lernen durch Einführung in ein kanonisches Fächerspektrum etwa der klassischen Disziplinen Physik oder Chemie, Geschichte oder Soziologie scheinbar wichtigeren Schlüssellochqualifikationen wie einem Schnellkurs im Umgang mit neuen Technologien geopfert wird. Dabei könnte sich jeder, der sein Studium professionell betreibt, das entsprechende Niveau an Zusatzwissen und Können auch selbst aneignen und hatte dies bisher auch immer tun müssen. Die erste ›Lebenslüge‹ des Reform›prozesses‹ besteht daher schon darin, dass man den Zielkonflikt zwischen schneller Berufsausbildung und ausbaufähiger Fachkompetenz überhaupt nicht zum Thema macht. Im Übrigen wären wohl für eine differentielle Bildung und Ausbildung weniger die Klassischen Universitäten und Technischen Hochschulen über die Grenzen ihrer Kapazitäten hinaus auszuweiten, als die Fachschulen und Fachhochschulen aufzuwerten und attraktiver zu gestalten. Hier könnte dann auch die Durchlässigkeit der Systeme nach der BA-Phase nützlich werden. Die zweite Unwahrhaftigkeit (insincerity) oder Ungenauigkeit (inaccuracy) besteht darin, dass man die Spannung zwischen einem stringenten Curriculum und einem im Prinzip vielleicht wünschenswerten Auslandsaufenthalt schon in der BA-Phase verschweigt oder übersieht. Vor einem ersten Hochschul- oder Universitätsabschluss ist eine akademische Migration nämlich nur in besonderen Fällen sinnvoll, etwa wenn Auslandserfahrungen selbst schon wichtig sind für die Fachkompetenz, z. B. im Bereich einer Sprach- und Landeskunde.
14. Ein gutes Ziel wäre daher gewesen, durch die Einführung des BA effektivere postgraduale Auslandsaufenthalte nach einem hinreichend frühzeitigen ersten Abschluss zu ermöglichen und damit bessere Passungen etwa für DAAD-Stipendien zu schaffen. Die Übersteuerung bei der Ausgestaltung der BA- und MA-Studiengänge hat dagegen bekanntlich den gegenteiligen Effekt: Die flexible Passfähigkeit bei Studienortwechseln innerhalb Europas war früher besser gewesen, als sie heute ist.
15. Die dritte Lebenslüge besteht in der Vorgabe, eine zielführende Reform könne kostenneutral geschehen, die vierte, es ließen sich marktwirtschaftanaloge Mechanismen ohne gravierende Nebenfolgen zur Steuerung von Wissenschaft und Bildung benutzen. Übersehen wird dabei, dass das qualitative Prinzip der ›Ehre‹ als freie personale Anerkennung personaler Leistungen nach wie vor eine ›Hauptwährung‹ in diesem sozialen System ist. Es ist damit ganz anders strukturiert als eine Arbeitsteilung, die sich weitgehend durch monetäre oder geldanaloge Evaluationen und Rankings steuern lässt. So weiß im Grunde jeder, dass das Zahlmaß eingeworbener Drittmittel, unter Einschluss des Gewinns von Exzellenzprojekten, per se, also ohne qualitative Gegenkontrolle der realen Ergebnisse, noch fast nichts über die wissenschaftliche Bedeutung von Projektleitern besagt. Es besteht daher die Gefahr, dass wichtige, aber nicht immer entscheidende Sekundärtugenden der Antragsteller, etwa die Fähigkeit der Werbung für ein Projekt‚ stärker gefördert werden als der wissenschaftliche Fortschritt.
16. Die Anerkennung oder Kritik einer einzigen kompetenten Person kann in der Wissenschaft bedeutsamer sein als die ganzer Kommissionen. Es ist dies »das sokratische Prinzip«, das unter dem Titel »Harnackprinzip« die Wissenschaftspolitik besonders der außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie der früheren Kaiser-Wilhelm- und heutigen Max-Planck-Gesellschaft bestimmt. Es ist allerdings dieses Prinzip, das auf Personen setzt, immer auch problematisch. Andererseits ist nicht nur das Angebot zu bewerten, das die einzelnen Wissenschaftler der Gemeinschaft machen, sondern immer auch, ob diese Angebote angemessene Aufnahme finden oder nicht. Insofern evaluieren Kommissionen Personen und es wird die Kompetenz von Kommissionen durch Personen beurteilt. Das zugehörige Wissen um die intrinsischen Einseitigkeiten von Peer-Evaluationen (etwa auch in der DFG) könnte und müsste wohl zu einer besseren Ergebniskontrolle und über diese gerade auch zu einer Evaluation der Begutachtungen selbst führen.
17. Manche Lebenslüge, wie sie sich aus einem Wunschdenken ohne genaue Betrachtung der Realstruktur von Institutionen ergibt, stützt sich auf eine Art normativer Wichtigtuerei, die, wie ein umgekehrter Mephistopheles, stets das Gute will und stets das Falsche schafft. Niemand ist nicht gutwillig. Doch Gutwilligkeit allein reicht nicht. Man muss auch die Ambivalenzen im System begreifen, zum Beispiel die hier genannten, – und diese dann auch aushalten. Wenn das nicht geschieht, schütten bisweilen Gegner wie Verteidiger von Hochschulreformen das Kind mit dem Bade aus. So meint mancher, ökonomische oder ökonomieanaloge Steuerungsmedien generell verteufeln zu müssen – was hier keineswegs geschehen soll, auch wenn das zunächst so scheinen mag. Die Figur des Mephistopheles enthielt noch in ironischer Brechung das Bild des homo oeconomicus. Dabei verteidigt der Autor des Faust zumindest partiell eine Denkform der Moderne, nämlich der Liberalbourgeoisie, mit ihrem strategisch denkenden Egoismus, der, wie über die unsichtbare Hand des Kapitalismus, private Laster in öffentlichen Wohlstand verwandeln soll. Dass diese Verteidigung zugleich Verführung ist, macht Goethes dramatisches Gedicht so interessant. Es wird daher keineswegs für die Abschaffung von ökonomischen Incentives, von Wettbewerb und Exzellenzinitiativen plädiert, auch nicht für die Umkehrung des BOLOGNA-Prozesses oder eine unmittelbare Rückkehr zu einer utopischen Vergangenheit unter dem Titel HUMBOLDT, der als Chiffre für eine Idealisierung einer nationalen Tradition der Entwicklung des Bildungswesens in Deutschland steht. Es geht vielmehr darum, eine bloße Verbalpolitik wie im Märchen von des Kaisers neuesten Kleidern zu durchschauen. »Sie reden nur von ›effort‹, aber es gibt ihn nicht« – so reagierte ein 13-jähriger Gymnasiast auf entsprechende Selbstdarstellungen einer mit Bestnoten ausgezeichneten britischen Highschool und charakterisierte damit britische und amerikanische Verhältnisse, wie sie Bildungsreformern in unserem Land als Muster alles Guten erscheinen. Die Ebene eines solchen billigen Selbstlobs ist ebenso zu verlassen wie die einer billigen Kritik: Es ist, im Einzelnen, immer alles verbesserungsbedürftig und der Verbesserung fähig. Um daher, wie in Punkt 12. formuliert, den schon angelaufenen Prozess einer quasi naturwüchsigen Entstehung eines europäischen Bildungsraums unter sich widersprechenden Zielvorstellungen allererst in ein partiell geplantes und vernünftig kontrolliertes Projekt zu verwandeln, bedarf es zuvörderst einer Explikation von allgemein relevanten Problemen und sinnvoll erreichbaren allgemeinen Zielen. Nur wenn diese nachvollziehbar anerkannt sind, kann das Projekt gemeinsam getragen werden. Erst dann wird man sich an die mehr oder minder richtungsrichtigen Incentives für die einzelnen Akteure nicht bloß notgedrungen, rein konformistisch, anpassen, wie dies zur Zeit offenbar geschieht. Die Pädagogik spricht in ihren Projekten der Bildung von Personen mit vollem Recht von der Bedeutung expliziter Lernzielbestimmungen insbesondere für die Kontrolle und Selbstkontrolle des je Erreichten. Nicht bloß verbale, teils tautologisch-selbstverständliche, teils utopische, sondern realisierbare Zielbestimmungen und zum Ziel führende Wege sollten nun endlich auch in der nationalen und europäischen Bildungspolitik vor dem Hintergrund sachlich richtiger Problembeschreibungen klar genug artikuliert werden. Das kann nicht bloß auf dem nach unten bekanntlich immer völlig offenen Niveau der Sonntagsrede geschehen.
18. Freilich werden zum Zweck strukturierter Übersichten die Ziele immer auch höchst allgemein und damit scheinbar schlagwortartig zu formulieren sein. Nur wer diese allgemeinen Darstellungsformen lesen kann, kann institutionell denken und projektadäquat planen. Gerade deswegen muss der angemessene Umgang mit solchen generischen Titeln und Aussagen disziplinär beherrscht werden. Ein Problem ist sicher auch, dass Natur- und Technikwissenschaftler und Wissenschaftspolitiker mit entsprechender Herkunft häufig dazu neigen mögen, dies allzu schnell als »Laberdisziplin« abzutun, wenn sprachlich so komplexe Probleme behandelt werden wie die richtungsrichtige Leitung freier Kooperationen freier Personen oder der Gegensatz zwischen kanonischer Bildung und einer ›allseitigen Berufsausbildung‹. Das im sogenannten Realsozialismus allzu häufig gebrauchte Wort »allseitig« hatte dabei die Lebenslüge von dessen Utopismus dem geübten Ohr längst schon verraten. Entsprechend steht Personenbildung als Entwicklung von Kompetenz dem Gerede von einer unmittelbaren ›employablity‹ gegenüber.
19. Intelligenz ist, wo es nicht bloß um technische Herstellungsverfahren oder Talent bzw. Bildungsfähigkeit als bloße Potenz, sondern schon um gebildete Kompetenz geht, insgesamt sogar als erweitertes Sprachverstehen zu begreifen. Sie ist, praktisch gesehen, in der Tat nicht viel mehr; auch wenn es verschiedene Begabungen für verschiedene Sprachausschnitte gibt, etwa für die der Musik, samt der notenschriftlichen Kompositionslehre, für die ›Sprachen‹ der anderen schönen Künste, für die exakten Formel- und schematischen Kalkulationssysteme der Mathematik, die terminologischen und wissenschaftssprachlichen Darstellungstechniken aller anderen Wissenschaften oder dann schließlich auch für die begrifflich und institutionenlogisch strengen Reflexionen der Philosophie.
20. ›Akademische Bildung‹ zielt nicht etwa ab auf einen eigenen Stand der Akademiker oder die bloße Reproduktion universitären Lehrpersonals bzw. akademischer Forscher. Und doch ist das erste Ziel die Fähigkeit zur Rezeption von Wissenschaft, also eine disziplinäre und disziplinierte Lese-, Schreib- und Redefertigkeit, die als freie Urteilsfähigkeit weit über die bloße Faktenreproduktion und ein schematisches oder verfahrensartiges ›Anwendungs‹ wissen hinausgeht.
21. Es ist dann gar nicht so falsch zu sagen, dass die Zielvorstellung akademischer Bildung ein potentieller Wissenschaftler und akademischer Lehrer ist und bleiben muss, selbst wenn die aktuale Fortsetzung der Ausbildung etwa in den Lehrerberuf mündet oder eine technische Ausprägung in Entwicklung oder Produktion enthält. Die oft unter dem Titel HUMBOLDT beschworene Einheit von ›Forschung und Lehre‹ in dieser Reihenfolge, also nicht in der umgekehrten Form einer Einheit von ›Lehre und Forschung‹, bedeutet daher realiter, dass nur der etwas lehren kann, der das Forschen und das relative Ergebnis des Forschens kennt und begreift.
22. Dabei gilt es aber auch gegen überzogene Ausdeutungen dieser Maxime gegenzusteuern. Eine Überfrachtung von Lehrprogrammen ist daher immer zu vermeiden, gerade wenn diese durch die jeweils allerneueste wissenschaftliche Mode bedingt wird, wie wir dies vor Jahren an der Mengenlehre im Mathematikunterricht sehen konnten, oder an der kalkulatorischen Linguistik der Generativen Grammatik, heute aber an einer farbenfrohen Hirnforschung oder an einer teils überspezialisierten Genforschung, um nur einige Beispiele zu nennen. Ähnlich fraglich ist, ob etwa Ökonomie als Lehrfach in die Schule gehört. Eine Integration ökonomischer Strukturaspekte in eine basale ›Gemeinschaftskunde‹ könnte ausreichen oder ohnehin besser sein. Grundsätzlich sind die Erfahrungen der klassischen Fächer zu nutzen.
23. Von besonderer Bedeutung ist der Erhalt von Zweitfach- und Nebenfachregelungen, von Flexibilität und Attraktivität. Angleichungen, wo sie sinnvoll möglich sind, sind nötig, aber auch der Schutz der regionalen Unterschiede, wo bewährte Traditionen und Erfahrungen abstrakten Schematisierungen und Homogenisierungen vorzuziehen sind – egal, ob man das schon aus einer globalen Perspektive (an)erkennt oder nicht. Das betrifft durchaus auch den Gebrauch der eigenen Nationalsprache und die Zumutung des Spracherwerbs an Gaststudenten auf jedem Niveau der Vorbildung. Nur das führt zu akademischer bzw. wissenschaftlicher Autonomie, dem zentralen Ziel jeder höheren Bildung.
24. Andererseits gilt es, auch allerlei Mythen kritisch aufzuheben. Nicht die Mathematik ist schwer, die rechte Vermittlung der Mathematik ist schwer. Das gilt für alle MINT-Fächer, also neben der Mathematik auch für die Informatik, die Naturwissenschaften und die Technikwissenschaften. Insofern wäre es daher tatsächlich richtig, einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der ›Lehre‹ bzw. der Nachwuchsausbildung in diesen Fächern zu legen. Dazu wäre dann aber, auf vielleicht überraschende und doch sinnvolle Weise, gerade die zur Zeit vernachlässigte Kooperation mit denjenigen Wissensbereichen zu vertiefen, welche über die Sachfokussierungen der MINT-Fächer hinaus die geschichtliche Entwicklung der im weitesten Sinn begrifflichen Darstellungs- und damit auch der Vermittlungsformen des Wissens zum Thema haben, samt der kulturellen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Das sind nun gerade die von der allgemeinen Meinung und dem Selbstverständnis der MINT-Fächer in ihrer Bedeutung unterschätzten oder in ihren Aufgaben fehlverstandenen Geistes- und Sozialwissenschaften.
25. Wo es ein Mangel an Bewerbern für MINT-Fächer gibt, wären womöglich Studiengänge mit geistes- oder kulturwissenschaftlichen Begleitfächern sowohl vom subjektiven Interesse der Studienanfänger her als auch im objektiven Blick auf die nötigen Kompetenzen in einer lebenslangen Berufslaufbahn höchst attraktiv. Doch hier scheint sich die Flexibilität der Universitätsund Fachhochschulausbildung in den MINT-Fächern sowohl in Deutschland als auch in Europa noch in sehr engen Grenzen zu bewegen – mit den bekannten Folgen, dass die Studierendenströme um die MINT-Fächer einen großen Bogen machen. Bisher hat man gegen dieses Phänomen noch nicht viel mehr als schöne Reden gestellt; es sind noch nicht einmal die Ursachen begriffen, um vom Mangel an zielführenden Gegenstrategien gar nicht weiter zu sprechen.
26. Es ist dann auch ein Zeichen schlechter Wissenschafts›politik‹ in Vergangenheit und Gegenwart, wenn die Halbwertzeiten von gesetzlichen oder institutionellen Regelungen immer kürzer werden. Unser Land scheint freilich den Ausnahmezustand revolutionärer Umwälzungen fast allzu sehr zu lieben, bildungspolitisch etwa den ideologischen Dauerstreit um Einheitsbildung oder Kompetenzförderung. Für das Bildungs- und Universitätswesen droht entsprechend eine Dauerrevolution. Wir ›reformieren‹ augenscheinlich auf Druck einer sich übrigens laufend ändernden und weitgehend gedächtnislosen öffentlichen Meinung unsere Bildungsinstitutionen derzeit zu Tode – und bemerken nicht einmal mehr die Kreisbewegungen als Folge der Widersprüche zwischen den häufig einfach bloß ideologischen Gesamtbeurteilungen, die gerade in ihren ›empirischen‹ Begründungen durch Einzelfälle jede allgemeine und nachhaltige geschichtliche Erfahrung und jedes Strukturwissen vermissen lassen.
27. Es gibt hier eine interessante Gemeinsamkeit zwischen Philosophen und Politikern. Beiden geht es um ›vernünftige‹ Urteile über allgemeine Folgen struktureller Formen unseres gemeinsamen Lebens und Handelns und damit auch um allgemeine Strukturentscheidungen. Beide haben dabei mit einer ›doxa‹, einer mehr oder weniger schwankenden Mehrheitsmeinung, zu kämpfen. Zugleich appellieren beide an die Anerkennung nachhaltiger Vorschläge. Und beide erkennen, hoffentlich, ›Empirie‹ in der Form kurzfristiger Statistiken und kurzfristiger Mehrheitsmeinungen als moderne Varianten von Sophistik.
28. Der Philosophie geht es dabei nicht um unmittelbares Sachwissen über die Welt, sondern um ein metastufiges und allgemeines Wissen über die Institution, das Projekt der Wissenschaft, ganz gemäß der berühmten Formel des Aristoteles »noesis noeseos«. Es geht um die logischen und methodischen Formen von Wissenserwerb und Wissenschaft, von Ausbildung und personaler Bildung – und um die Einsicht in die Bedeutung der thematischen und technischen Ausdifferenzierungen allgemeinen Wissens in kanonische Disziplinen, von der Mathematik und den Naturwissenschaften, der Physik, Chemie und Biologie bis zu den Text- und Sprachwissenschaften bzw. den Geschichtswissenschaften. Nur ein kanonisches Wissen verdient es, als verschriftlichter Standard allgemein gelehrt und gelernt zu werden. Wer daher von einem beschleunigten Verfallsdatum wissenschaftlichen Wissens spricht, verwechselt offenbar ›empirische‹ Einzelkenntnisse, wie sie etwa in historischen Einzelberichten anekdotisch auftreten, oder Einzeltechniken bzw. erst noch zu prüfende Hypothesen mit einem kanonisch lehrbaren Grundlagenwissen, das der Idee nach gerade nicht so schnell veralten darf.
29. Die Philosophie verteidigt dabei insbesondere auch die Einsicht in die Spannung zwischen der personalen (›sokratischen‹) und der transsubjektiven (›akademischen‹) Form von Wissenschaft. Das Personale zeigt sich darin, dass nur der Mut des kritischen Einspruchs Einzelner gegen eine allzu verfestigte doxa oder Lehre Wissenschaft strukturell voranbringen kann. Das hat übrigens bekanntlich auch Albert Einstein immer wieder betont. Das Transsubjektive besteht nicht darin, dass der Konsens ein Wahrheitskriterium wäre, sondern dass jedes reale Wissen als bestmöglicher Vorschlag für eine möglichst nachhaltige Orientierung zu verstehen und entsprechend von Experten zu prüfen ist. Den Schibboleth einer in ihrem Status nicht begriffenen ›ewigen‹ Wahrheit oder ›absoluten‹ Wirklichkeit anzurufen, erübrigt sich damit. Denn nur ein realiter als anerkennungswürdig erkanntes Wissen, nicht ein bloßer Glaube an eine nur irgendwie mögliche Wahrheit sollte die Wissenschaft leiten. Sie ist dabei formelle Institution sowohl der Prüfung als auch der Kanonisierung und Lehre von generischem, d. h. allgemeinem Wissen.
30.chaffen, so ist ein solcer selbst schon Prüfung des Lehrbaren. Es werden damit die Studierenden auch gleich zu Kritikern. Wer daher die Lehre von der Prüfung des Wissens in der Forschung abtrennt, verkennt die Bedeutung der auf Fichte und Schleiermacher zurückgehenden Ideen zur schulischen und nachhaltigen universitären Bildung, wie sie am Ende Willhelm von Humboldt zugeschrieben werden. Man beschädigt damit sowohl Wissenschaft und Lehre als auch personale Bildung und fachliche Ausbildung.
31. Philosophie, Wissenschaft und Politik haben darin ein ähnliches Problem, dass ihre Urteile nie jeden Einzelfall berücksichtigen können. Dennoch müssen sie möglichst allgemeinverständlich gemacht werden. Und es ist für die ›besten‹ unter den machbaren, nicht bloß utopischen, allgemeinen Möglichkeiten öffentlich zu werben. In den Wissenschaften wirbt man um Anerkennung der bestmöglichen Theorien; in der Philosophie geht es um die bestmöglichen Strukturexplikationen, in der Politik um die bestmöglichen gesetzlichen Regelungen. Nicht nur Politik ist daher Kunst des Möglichen. In allen diesen Bereichen brauchen wir immer einen Blick auf das Ganze, ohne uns in einzelne Details zu verlieren. Und wir brauchen für das je Einzelne und Besondere Urteilskraft, im Blick auf das nachhaltig Relevante. Allzu besondere Gesichtspunkte können hier das Urteil immer auch in die Irre führen, es zugunsten vermeintlicher Detailrichtigkeit insgesamt falsch machen.
32. Nachhaltig gute Bildung und Wissenschaft sind nur in einem gut verfassten Gemeinwesen möglich, und zwar gerade weil es dazu einer gewissen Freiheit und Freistellung der Wissenschaft und des Bildungswesens bedarf. Eine gute politische Ordnung ist wiederum nur in einer gut gebildeten Gesellschaft möglich. Die Philosophie im engeren Sinn der logischen Methodenkritik ist dabei seit Platon und Aristoteles eine Art Bewusstsein und Gewissen von lehrbarer Wissenschaft (episteme), praktischer Politik (politike techne) und einer unter dem inzwischen leider veralteten Titel ›Tugend‹ tradierten Ethik personaler Exzellenz und echter Kompetenz (arete ).
33. Wissenschaft lebt von der Spannung zwischen freier Kooperation und freiem Wettbewerb; ihre Dynamik ist, wie auch Professor Bruno S. Frey, Professor für Wirtschaftspolitik und »aussermarktliche Ökonomik« an der Universität Zürich, erkennt, wesentlich meritokratisch gesteuert, also durch die freie Anerkennung und explizite Auszeichnung persönlicher Leistungen. Diese Dynamik wird gefährdet durch eine zunehmende Bürokratisierung und eine ökonomische Schematisierung der Forschungsincentives. Frey bringt diese offenkundige Dialektik paradigmatisch so auf den Punkt: »Leistungslöhne zerstören die intrinsische Motivation«. Genauer meint Frey wohl, dass Wissenschaft über die Bezahlung hinaus immer auch durch das Streben nach objektiver Leistung oder Exzellenz (arete) bzw. das subjektive ›Streben nach Ruhm‹ (timophilia) gesteuert ist (siehe dazu auch Punkt 15). Dazu gilt es, den antagonistischen Widerspruch zwischen der Exzellenz der Besten (aristie) und dem Ruhm (timos) in seiner Struktur zu begreifen. Denn schon Platon sieht, dass ein Streben nach möglichster Vollkommenheit in den Dimensionen der Wahrhaftigkeit, der sorgfältigen Genauigkeit, der Kritikfähigkeit und einer transperspektivischen Objektivität in einer gewissen Spannung steht zum bewussten Streben nach Ruhm. Wenn daher die heutigen Förderinstitutionen von Wissenschaft die Selbstanpreisung zur Voraussetzung von Antragstellung und Bewilligung machen, ist das strukturell unklug.
34. Entsprechend beginnt mit der Timophilie und Timokratie, i. e. mit der Machtübernahme und Herrschaft der im falschen Sinne Ehr- bzw. Ruhmsüchtigen, der Verfall jeder guten Verfassung und Institution, gefolgt von der Machtübernahme und Herrschaft des Geldes als scheinbar quantitatives Maß gesellschaftlicher Anerkennung. Mit dem Verlust an Vertrauen in die personale Integrität der Hochschullehrer und Wissenschaftler geraten die Institutionen selbst, besonders die Universitäten, in eine Krise. Diese ist wohl nicht durch kurzfristige Exzellenzinitiativen aufzuhalten, zumal sich der immer bloß partiale Vergleich mit den dem Hörensagen nach besten Hochschulen Großbritanniens oder der USA verbieten sollte. Das eigentliche Problem ist dabei dieses: Die reine Länderfinanzierung des Bildungsbereichs hat zur Folge, dass eine nachhaltige Verbindung von exzellenter Forschung und der Bildung exzellenter Persönlichkeiten tendenziell gefährdet wird. Der notorische Geldmangel verwandelt stattdessen die Universitäten in college-artige Ausbildungsstätten und Professoren in Lehrer einer bloß etwas höheren Schule. Der viel ›reichere‹ Bund bevorteilt dabei außeruniversitäre Institutionen – und die ›mächtige‹ DFG. Man muss nicht so weit gehen zu sagen, die Exzellenzinitiative fände realiter außerhalb der Universitäten statt, auch wenn eine auffällige Häufung der Förderung von Kooperationsprojekten mit außeruniversitären Institutionen wie den MPIs etc. festzustellen ist. Es wird auch nicht beachtet, dass es eine strukturelle Benachteiligung der ostdeutschen Standorte schon deswegen gibt, weil diese sich noch immer in einer Phase des Wiederaufbaus befinden, der naturgemäß dafür sorgt, dass sich die besten Forscher und Professoren in prognostizierbarer großer Häufigkeit wieder in westliche Länder abwerben lassen. Die Lage lässt sich ebenso dramatisch wie ironisch, dafür ultrakurz, in der Aussage darstellen, dass wir vielleicht froh sein müssen, dass Königsberg und Breslau nicht zur Bundesrepublik Deutschland gehören; in der Exzellenzinitiative hätte man ihnen nämlich in prognostizierbarer Weise Konstanz vorgezogen.
35. Insgesamt werden obendrein zeitlich befristete Anwendungsforschungen und allerlei Interdisziplinaritäten gegenüber einer nachhaltigen Grundlagenforschung und Grundlagenbildung systemisch bevorzugt. Am Ende ersetzt eine formale Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses nachhaltige Forschung. Die wohl ungewollte Gesamtfolge dieses Drittmittelwesens ist, dass insgesamt zu viele Promovenden und Post-Docs zu lange im Wissenschaftssystem verbleiben. Im Übrigen sollten Doktoranden und Post-Docs wie in anderen Ländern auch systematisch als Lehrende in ein Tutorialsystem für Nichtgraduierte eingebunden und damit in ihrem ›beruflichen Status‹ endlich auch hierzulande wirklich ernst genommen werden.
36. Wofür wünschen wir eine Vereinheitlichung im europäischen Wissenschafts- und Bildungswesen? Und welche Art Vereinheitlichung wünschen wir? Wie verhält sich dabei der Nutzen der Vereinheitlichung zu den Kosten? Ist der Nutzen bloß von der Art der Vorteile von DIN- und Dezimalmaßnormen im Unterschied zu den heute eher archaischen Maßeinheiten wie inches, miles oder Fahrenheit? Gibt es auch gute Gründe für den Erhalt einer nationalen und regionalen Vielfalt? Ein schlechter Grund wäre eine regionale Abschottung, wie sie vielleicht neben den unbezweifelbaren Schwierigkeiten der Umstellungsphase bis heute so archaische Maßnormen pint oder gallon in Gebrauch hält.
37. Sollte es wirklich jemals ein Projekt geben, einen Europäischen Bildungsraum zu schaffen, so ist ein solches als Institutierung von kanonischen Formen und Inhalten in Schulen, Hochschulen und einer tertiären Berufsfausbildung und Weiterbildung allererst zu schaffen. Das kann durchaus unter Wahrung von nationalen und regionalen Besonderheiten geschehen. Eine rein formale Angleichung von Bildungssegmenten ohne einen passenden fachlichen Kanon hilft dabei allerdings noch nicht weit. Nicht überall, wo BA oder MA draufsteht und ein Fach mitgenannt wird, ist nämlich schon wirklich ein fachlicher BA- oder MA-Kanon in der Ausbildung erreicht. Daher nützte es auch wenig, wenn man BA- oder MA-Abschlüsse im europäischen oder außereuropäischen Ausland rein ›formal‹ als gleichwertig ansieht oder auch nur entsprechende Module.
38. Damit wird klar, dass ein europäischer Bildungsraum ohne die (Problematisierung der) Kanonisierung des wissenschaftlichen Wissens der einzelnen Disziplinen nicht voll erfolgreich sein kann. Paradigmatisch und mustergültig kennen wir einen solchen Kanon aus der Grundausbildung in Mathematik, die bekanntlich mit der Reellen und Komplexen Analysis und der Linearen Algebra beginnt, den beiden Säulen einer im weiteren Sinne arithmetisierten und algebraisierten Geometrie. Entsprechend kanonisch strukturiert ist das Basiswissen der Physik, Biologie und Chemie, aber auch der Jurisprudenz oder Medizin, wobei sich naturgemäß das empirische Detailwissen der Biologie und Medizin aufgrund der enormen Ausweitung wissenschaftlicher Erkenntnisse besonders schnell entwickelt und den, wie schon gesagt, eher irreführenden Anschein erzeugt, als beschleunige sich die Halbwertszeit des ›Wissens‹ überhaupt. Richtig ist nur, dass kanonische Zusammenfassungen empirischen Einzel- und Detailwissens in der Biologie oder einer statistischen Soziologie von anderem Typ sind als das allgemeine Struktur- und theoretische Prinzipienwissen der Physik und Chemie, aber dann etwa auch der Philosophie oder Jurisprudenz.
39. Es ergeben sich daher unter anderem folgende Fragen: Wie hätte eine sinnvolle Arbeitsteilung auszusehen zwischen der Entwicklung kanonischen Wissen in den disziplinär geordneten kanonischen Grundlagenwissenschaften und einer echten Anwendung von Wissenschaft etwa in Fachhochschulen als den ›universities of applied sciences‹? Welche Rolle spielen Graduierte, Doktoranden und Post-Docs in den Universitäten als den Institutionen der methodischen Entwicklung kanonisierbaren Grundlagenwissens und wie lassen sich hier die nötigen Anzahlen sinnvoll steuern? Wie lassen sich überhaupt Studierendenströme angemessen lenken, nachdem es über Jahre hinweg nicht gelungen ist, die Fachhochschulen bzw. Ingenieurwissenschaften und insgesamt die sogenannten MINT-Fächer hinreichend attraktiv zu machen? Wie lässt sich, andererseits, verhindern, dass zugunsten der erhofften Verkürzung der durchschnittlichen Ausbildungszeit an den Universitäten durch das BAMA-System sowohl die Forschung als auch die wissenschaftliche Bildung von hervorragenden Personen auf der Strecke bleibt? Die deutschen Universitäten werden in dieser Entwicklung auf absehbare Weise den vielen mittelmäßigen Colleges in den USA ebenbürtig. Das aber wäre das Ende eigenständiger Grundlagenwissenschaft in diesem Lande. Das Problem ist offensichtlich nicht das der Finanzen, sondern das des rechten Umgangs mit den Ressourcen und einer klaren Konzeption der Wissenschaftslandschaft, jenseits der Hochglanzbroschüren des Selbstlobs der je schon etablierten Institutionen.
40. Soll also der sogenannte BOLOGNA-Prozess nicht bloß eine Zufallsfolge konformistischer Anpassung an eine zum Teil durch unredliche Zielträume ideologisch verdeckte staatliche Sparpolitik in den einzelnen Ländern bleiben, sondern ein Projekt der Ausgestaltung eines europäischen Bildungsraums werden, ist zumindest von einer bloß formalen zu einer echten Vereinheitlichung von angemessen ausdifferenzierten Bildungsgängen in Europa überzugehen, und zwar ohne Absenkung des Niveaus auf das niedrigste aller Beteiligten. Dabei stehen wir bestenfalls am Anfang.