Von Schweiggers erstem Galvanometer bis zu Cantors Mengenlehre. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Mathematik und Physik an der Universität Halle-Wittenberg in der Zeit von 1817 bis 1890.
Von Karl-Heinz Schlote und Martina Schneider, Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main 2009, viii + 394 Seiten, 41 Abbildungen, Festeinband.
Funktechnik, Höhenstrahlung, Flüssigkristalle und algebraische Strukturen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Mathematik und Physik an der Universität Halle-Wittenberg in der Zeit von 1890 bis 1945.
Von Karl-Heinz Schlote und Martina Schneider, Wissenschaftlicher Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main 2009, vii + 451 Seiten, 47 Abbildungen, 4 Diagramme, Festeinband.
»Die Arbeit des Mathematikers ist […] für den Physiker von grundlegender Bedeutung. Auf der anderen Seite erwachsen wiederum dem Mathematiker aus den Anregungen, die ihm die Physik bietet, reiche Aufgaben.«1
Die Entwicklung der vielfältigen Beziehungen zwischen Mathematik und Physik an der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg, der späteren Martin-Luther-Universität, für fast eineinhalb Jahrhunderte zu untersuchen, ist das Ziel der beiden vorliegenden Bände aus der Reihe »Studien zur Entwicklung von Mathematik und Physik in ihren Wechselbeziehungen«. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf die Entwicklung der theoretischen und der mathematischen Physik sowie die mit der Mathematisierung der Physik verbundenen Problemstellungen. Zur Analyse der Wechselbeziehungen werden für die Mathematik und die Physik die Veränderungen im Lehrkörper, die Forschungen der einzelnen Hochschullehrer, ihre Vorlesungstätigkeit und ihre Aktivitäten in regionalen und überregionalen Gelehrten Gesellschaften betrachtet. Diese Schwerpunkte werden in den beiden Bänden jeweils in ein bzw. zwei Kapiteln analysiert, wobei die Betrachtungen auf angrenzende Fächer wie die Astronomie ausgeweitet werden.
Der Band »Von Schweiggers erstem Galvanometer bis zu Cantors Mengenlehre« ist, wie im Untertitel angegeben, der Entwicklung in der Zeit von der Vereinigung der Universitäten Halle und Wittenberg im Jahre 1817 bis 1890 gewidmet. Nach der territorialen Neuordnung Deutschlands begann mit der Vereinigung der beiden traditionsreichen Universitäten in Halle a. d. Saale und Wittenberg zur in Halle ansässigen Vereinigten Friedrichs-Universität ein neuer Entwicklungsabschnitt dieser Alma Mater. Damit war zwar der Fortbestand der Hallenser Universität, die am Ende des 18. Jahrhunderts noch zu den bedeutendsten deutschen Universitäten zählte, gesichert, doch war sie nun eine unter mehreren preußischen Provinzuniversitäten und stand nicht mehr im Mittelpunkt der staatlichen Förderungen. Vor dem Hintergrund einer mäßigen Finanzausstattung wird in den beiden Bänden dargestellt, wie es gelang, sowohl junge talentierte Dozenten als auch angesehene Fachvertreter der Physik bzw. Mathematik für eine Tätigkeit in Halle zu gewinnen. Zu diesen Gelehrten zählten Wilhelm Weber, Wilhelm Hankel, Eduard Heine, Carl Neumann und Georg Cantor im 19. Jahrhundert, Ernst Dorn, Gustav Mie, Gustav Hertz, Adolf Smekal, Heinrich Jung, Gustav Doetsch, Helmut Hasse sowie Heinrich Brandt in den Jahrzehnten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar war die Tätigkeit in Halle oft nur eine Durchgangsstation in deren Wissenschaftlerkarriere, doch trug dies mit dazu bei, dass die Alma Mater Hallensis im 19. Jahrhundert einen angesehenen Platz unter den mittelgroßen deutschen Hochschulen behaupten konnte. Bemerkenswerte Ereignisse auf diesem schwierigen Weg waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Umwandlung des gemeinsamen Lehrstuhls für Physik und Chemie in zwei Professuren, jeweils für eine der Disziplinen, und der Versuch zur Gründung eines Mathematisch-physikalischen Seminars im Jahre 1837. Letzterer scheiterte, führte aber zur Einrichtung eines »Seminars für Mathematik und die gesammten Naturwissenschaften«. Diese lose institutionelle Klammer verlor jedoch mit dem raschen Voranschreiten der einzelnen Disziplinen sehr schnell ihre Bedeutung, bildete aber 1890 noch den Ausgangspunkt für die Gründung eines mathematischen Instituts. Im gleichen Jahr erhielten auch die Physiker nach über ein Jahrzehnt lang währenden Bemühungen mit der Einweihung des neuen physikalischen Instituts eine deutliche Verbesserung ihrer Lehr- und Forschungsbedingungen. Die Ergebnisse in den mathematischen bzw. physikalischen Forschungen im 19. Jahrhundert an der Hallenser Universität werden retrospektiv von der Schaffung der Mengenlehre durch Georg Cantor ab den 1870er Jahren überstrahlt. Doch Schweiggers »Multiplikator«, als frühe Form eines Galvanometers, Rochs Arbeiten zu Abel’schen und elliptischen Integralen, Knoblauchs Untersuchungen zur Wärmestrahlung, die kurze Blüte der mathematischen Physik unter Heine und C. Neumann, Oberbecks Bemühungen, die Gesetze des Wechselstromkreises aufzuklären, sowie die Analyse von Eigenschaften der Röntgenstrahlen durch Dorn sind ebenfalls erwähnenswert. Eine wichtige Rolle für den Gedankenaustausch zwischen Physikern und Mathematikern spielten die örtlichen Gelehrten-Vereine und Gesellschaften. Dazu kam 1878 mit der Verlegung ihres Sitzes nach Halle die Leopoldina, eine große nationale Akademie. In einem abschließenden Kapitel wird dann die Entwicklung der Wechselbeziehungen zwischen Mathematik und Physik in Halle in einen breiteren internationalen Kontext eingebettet.
Der zweite Band »Funktechnik, Höhenstrahlung und algebraische Strukturen« folgt im Aufbau dem ersten. Die Universität Halle-Wittenberg musste insbesondere in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg einen weiteren Bedeutungsverlust hinnehmen und wurde eine der am wenigsten frequentierten preußischen Universitäten. Weitere markante Ereignisse waren 1923 die Abtrennung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät von der Philosophischen, das vergebliche Ringen um eine Erweiterung des mathematischen Lehrköpers und die teilweise durch eine ungewöhnliche Berufungspolitik verursachten, häufigen Spannungen zwischen den Lehrstuhlinhabern für theoretische und Experimentalphysik. Trotz dieser vorwiegend ungünstigen Bedingungen konnten die Hallenser Physiker und Mathematiker eine Reihe bemerkenswerter Forschungsresultate erzielen. Hierzu zählen etwa die Bestätigung der von Hess entdeckten kosmischen Höhenstrahlung durch Werner Kolhörster, Hoffmanns Theorie der Schauerbildung zur Erklärung einiger in dieser Strahlung beobachteten Effekte, die Untersuchungen zu Flüssigkristallen von Dorn und Wilhelm Kast, die Hertz’schen Versuche zu Elektronenstößen sowie Smekals Bruchtheorie. Seitens der Mathematiker sind neben Doetschs Arbeiten zur Anwendung von Laplace-Transformationen zur Lösung von Integralgleichungen und zum Auffinden von transzendenten Additionstheoremen, vor allem die Arbeiten Hasses zur Klassenkörpertheorie sowie zu weiteren zahlentheoretischen und algebraischen Fragen, die Studien zu Mischgruppen und Gruppoiden sowie zur Arithmetik von Algebren von Reinhold Baer bzw. Heinrich Brandt und die Bemühungen Jungs um eine Arithmetisierung der algebraischen Geometrie zu nennen. Durch diese Beispiele wird bereits deutlich, dass die Hallenser Mathematiker wenig Interesse an der Beschäftigung mit physikalischen Fragen zeigten und ab den 1920er Jahre eine Neuorientierung der mathematischen Forschung auf Themen der sogenannten modernen Algebra stattfand. Die als theoretische Physiker tätigen Wissenschaftler hielten einen engen Kontakt zu experimentellen Untersuchungen. Sie bewegten sich jedoch auf traditionellen Forschungsgebieten. Mit Ausnahme von Mie waren sie nicht direkt an der Forschung zu den neuen physikalischen Theorien, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, beteiligt.
Eine wichtige Rolle spielte auch in diesem Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das Engagement der Hallenser Mathematiker und Physiker in den örtlichen naturwissenschaftlichen Vereinigungen und in der Leopoldina. Nachdem die Physiker mit Hermann Knoblauch in den Jahrzehnten vor der Wende zum 20. Jahrhundert den Präsidenten dieser bedeutenden Gelehrtengesellschaft stellten, stand mit Albert Wangerin bzw. August Gutzmer von 1906 bis 1924 jeweils ein Mathematiker an der Spitze dieser Akademie.
Insgesamt zeigt die Entwicklung des Wechselverhältnisses zwischen Mathematik und Physik an der Universität Halle-Wittenberg keine herausragenden Höhepunkte. Mathematische und theoretische Physik wurden dort nicht sonderlich gefördert und es entwickelten sich keine längeren Traditionen in diesen Gebieten. Die am Beispiel der Universität Halle-Wittenberg herausgearbeitete enge Verquickung von Theorie und Experiment in der theoretischphysikalischen Forschung, wobei die Theoretiker selbst experimentelle Untersuchungen durchführen, stellt nach Meinung der Autoren ein wichtiges, vielleicht zu wenig beachtetes Charakteristikum dieser Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.
Beide Bände enthalten ein Verzeichnis über die Vorlesungen zur mathematischen und theoretischen Physik, das die Analyse der Vorlesungstätigkeit zu diesen Fachgebieten ergänzt. Ein Personenverzeichnis sowie eine umfangreiche ca. 50-seitige Übersicht über die Archivalien und Literatur vervollständigen jeweils die beiden Darstellungen.
- 1Leon Lichtenstein, »Astronomie und Mathematik in ihrer Wechselwirkung. Mathematische Probleme in der Theorie der Figur der Himmelskörper«, in Herbert Beckert und Walter Purkert (Hg.), Leipziger mathematische Antrittsvorlesungen. Auswahl aus den Jahren 1869–1922, B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig 1987 (= Teubner-Archiv zur Mathematik Bd. 8), S. 147–185.