Otto Schlüter (1872–1959). Sein Wirken für die Geographie und die Leopoldina.
Meeting der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften – am 16. und 17. Oktober 2009 in Halle (Saale)
Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina veranstaltete gemeinsam mit der Deutschen Akademie für Landeskunde (DAL), der Martin-Luther- Universität Halle-Wittenberg und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (SAW) unter dem Titel »Otto Schlüter (1872–1959). Sein Wirken für die Geographie und die Leopoldina« im Oktober 2009 ein Meeting. An die Vortragsfolge im Hause der Leopoldina schloss sich am folgenden Tag eine landeskundliche Fachexkursion in das südöstliche Harzvorland an, die durch den Süden Sachsen-Anhalts und in den Norden Thüringens führte. Anlass war der 50. Todestag des Geographen, Hochschullehrers und Wissenschaftsorganisators Otto Schlüter, der lange Zeit in Mitteldeutschland wirkte und sich unter anderem um die landeskundliche Erfassung und Darstellung dieser Region sowie um die analytische Geographie der Kulturlandschaft außerordentlich verdient gemacht hat. Das Meeting wurde von Walter Roubitschek (Mitglied der Leopoldina, Halle/Saale) und Günther Schönfelder (SAW, Leipzig) konzipiert, vorbereitet und mit Unterstützung zahlreicher Fachkollegen und Mitarbeiter der Leopoldina durchgeführt.
Otto Schlüter, geboren am 12.11.1872 in Witten an der Ruhr, begann seine akademische Ausbildung in Freiburg i. Br. 1891 mit dem Studium der Fächer Geschichte, Germanistik und Philosophie, das er 1892 bis 1895 in Halle mit dem Schwerpunkt Geographie fortsetzte und bis 1898 in Berlin vertiefte. Nach seiner Promotion 1896 bei Alfred Kirchhoff in Halle gab vor allem seine Buchpublikation aus dem Jahre 1903 »Die Siedelungen im nordöstlichen Thüringen«1, die 1906 in Berlin als Habilitationsschrift anerkannt wurde, wichtige Impulse für die Siedlungsgeographie. Zusammen mit den nachfolgenden theoretischen Überlegungen in »Die Ziele der Geographie des Menschen« (1906)2 begründete er eine neuartige Sichtweise der Anthropogeographie.
Mit der Berufung zum ordentlichen Professor für Geographie und Direktor des Geographischen Seminars der Fridericiana 1911 (die heutige Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg) fand Schlüter in Halle (Saale) seinen Lebensmittelpunkt und in Mitteldeutschland seinen landeskundlichen Wirkungsraum. Bis zu seiner Emeritierung 1938 und wegen der Kriegsfolgen auch wiederholt noch danach leitete er das Seminar und den Sächsisch-Thüringischen Verein für Erdkunde zu Halle. Daneben fungierte er im Rahmen der Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland (der heutigen DAL) für die Provinz Sachsen und Anhalt. Dabei war die kartographische Darstellung für Schlüter bei jeglicher lokalen und regionalen Untersuchung stets ein unentbehrliches Mittel der Information und Dokumentation. Hierzu sei nur auf den »Mitteldeutschen Heimatatlas« (1935–1942) und die erweiterte Neuauflage unter dem Titel »Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes« (Leipzig 1959, 1960, 1961) verwiesen.
Schlüters eigentliches Lebenswerk war »Die Siedlungsräume Mitteleuropas in frühgeschichtlicher Zeit« (Remagen 1952, 1953, 1958). Seit seiner Berufung war er umsichtig bemüht, die räumlich differenzierte Genese unserer heutigen Kulturlandschaft festzustellen. Als Grundlage diente ihm die Erfassung der jeweils regional vorherrschenden Landnutzung seit der Zeit vor 900 n. Chr., dem Hochmittelalter und dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dafür verwendete er neben naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und damals ihm zugänglichen historischen Quellen ebenso die Altersschichtung der Ortsnamen. Seine Ergebnisse dokumentierte Schlüter in einer in mehreren Varianten gedruckten kleinmaßstäbigen Übersichtskarte. Erstmalig schuf er so eine methodische Grundlage der Kulturlandschaftsforschung für ein weiträumiges, länderübergreifendes Gebiet. Sein beispielgebender Ansatz regte in der Folge eine Vielzahl an Studien an, welche seither unsere Erkenntnisse erweitert und vertieft haben.
Im Jahre 1923 wählte die Leopoldina Otto Schlüter zu ihrem Mitglied. Bald darauf war er als Sekretär der Naturwissenschaftlichen Abteilung im Vorstand der Akademie tätig. Als Vizepräsident seit 1942 lagen die Geschicke der Akademie bald in seiner Hand, als der XX. Präsident Emil Abderhalden durch die amerikanische Militäradministration im Juli 1945 in die Westzonen evakuiert wurde. Es ist in hohem Maße seinen Bemühungen zu danken, dass die Tätigkeit der Leopoldina in der schwierigen Nachkriegszeit weitergeführt wurde und endlich 1952 unter seiner Präsidentschaft ihre Arbeit offiziell und in Unabhängigkeit fortsetzen konnte.
Die Vortragsveranstaltung am 16. Oktober 2009 zum Wirken Schlüters für die Geographie und die Leopoldina eröffnete Gunnar Berg seitens der Deutschen Akademie der Naturforscher an ihrem halleschen Amtssitz vor über 120 Teilnehmern. Er zeigte den Entwicklungsgang der 1652 in Schweinfurtlichen Strukturen utengesellschaft bis zu ihren heutigen Aufgaben als Nationale Akademie der Wissenschaften auf. Schlüters historisch zu nennendes Verdienst bleibt die Weiterführung der Akademiearbeit nach Kriegsende 1945 sowie sein Einsatz für die offizielle Wiedereröffnung der Leopoldina, die mit der eindrucksvollen 300-Jahrfeier ihrer Gründung im Jahre 1952 Wirklichkeit wurde.
In seinem Grußwort würdigte für die Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg Magnifizenz Wulf Diepenbrock die zur Schlüter-Zeit wie heute fruchtbaren Bindungen zwischen der alma mater halensis und der Leopoldina. Unvergessen bleibt Schlüters Einsatz zur Fortführung der Studienrichtung Geographie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, gelang es doch, maßgeblich dank seiner Bemühungen, im Sommersemester 1949 und damit erstmalig in Deutschland den neuen Studiengang »Diplom-Geograph« einzuführen. 1956 ernannte die Universität Otto Schlüter zu ihrem Ehrensenator. Seit 2007 erinnert ein Straßenzug in Halle (Saale) an den Gelehrten.
Benno Parthier, Altpräsident der Leopoldina, richtete den Blick auf die herausragende Persönlichkeit Otto Schlüters in den Wirren am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den frühen Jahren der SBZ/DDR-Zeit. Trotz seines hohen Alters und des Verlustes zweier Söhne im Krieg sowie des Todes seiner Ehefrau hatte er sich als Interimspräsident unermüdlich für den Bestand der Akademie bei Bewahrung ihres gesamtdeutschen Status eingesetzt. Schlüter verkörperte den alten Wahlspruch der Leopoldina »Nunquam otiosus« mit Bescheidenheit und außerordentlichem Pflichtbewusstsein.
Die Reihe der Vorträge eröffnete Eckart Ehlers (Bonn) mit Betrachtungen zu »Otto Schlüters Plädoyer für eine Geographie des Menschen«. In seinen frühen theoretisch-methodologischen Schriften hatte sich Schlüter bemüht, für die Geographie auch in ihrem menschlichen Sektor und auf die Gesellschaft bezogen ein klar bestimmtes Forschungsobjekt zu finden. Bekanntlich erblickte er dies in der physisch-materiell existierenden und wahrnehmbaren Kulturlandschaft. Besondere Aufmerksamkeit seitens der Hörer fanden die Ausführungen zur Kenntnisnahme und Wirkung der Schriften Schlüters in der französischen, englischen und amerikanischen Geographie. Nach ihm haben dann vor allem die Anregungen Vidal de la Blaches und die französische Schule einer »Géographie Humaine« die Anthropogeographie weiter vorangebracht.
Dietrich Denecke (Göttingen) hob Otto Schlüters Bedeutung für die Siedlungsgeographie, die Kulturlandschaftsforschung und die Landeskunde hervor. Mit dem Ziel der Rekonstruktion einer »Urlandschaft« und von »Altlandschaften« versuchte Schlüter, die Entwicklung des Landschaftsraumes bis zu ihrem gegenwärtigen, weitgehend vom Menschen geformten Zustand zu ergründen. Vordergründiger Untersuchungsgegenstand ist für ihn die Morphogenese der Kulturlandschaft gewesen. Dieser Ansatz stand für die deutsche Anthropogeographie, besonders für die historische Geographie, bis Ende der 1960er Jahre im Blickpunkt und förderte eine Vielzahl landeskundlicher Untersuchungen, die weiterführende Erkenntnisse hervorbrachten. Ansichten zur Tragfähigkeit Schlüterscher Betrachtungsweisen für die heutige Humangeographie rundeten den Beitrag ab.
In seinem Beitrag »Otto Schlüters ›Mitteldeutscher Heimatatlas‹ und die heutige landeskundliche Bestandsaufnahme im mitteldeutschen Raum« stellte Günther Schönfelder (Leipzig) das kartographisch dokumentierte und damit kulturhistorisch orientierte landeskundliche Schaffen Schlüters in den Vordergrund. An den wegen der Kriegsereignisse unvollendet gebliebenen »Mitteldeutschen Heimatatlas«, 1935 bis 1942 erschienen 32 Blätter, wurde erinnert und die zweite Auflage hervorgehoben. Unter dem Titel »Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes« (56 Blätter) wurde das nach Inhalt und Raum ergänzte Werk, wofür ebenfalls ein erweiterter Autorenkreis gewonnen werden konnte, unter maßgeblicher Mitwirkung von Oskar August fertiggestellt und in drei Lieferungen nebst Erläuterungen in Leipzig von 1959 bis 1961 veröffentlicht. Schönfelder würdigte den nachhaltigen Einfluss des Schaffens Schlüters anhand von Beispielen aus der Tätigkeit der Kommission für Landeskunde der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
»Otto Schlüters Wirken in der Leopoldina« behandelte Sybille Gerstengarbe (Halle/Saale). Im Mittelpunkt ihres Berichtes standen Schlüters Bemühungen als amtierender Vizepräsident ab 1945 um den Bestand und die Wiederzulassung der Akademie. Nach schwierigen Verhandlungen gelang ihm dies angesichts des nahenden 300. Gründungstages der Leopoldina 1952. Schlüter sorgte maßgeblich dafür, dass die Akademie ihre Unabhängigkeit und ihren gesamtdeutschen Charakter behielt. So konnte die Leopoldina während der politischen Teilung Deutschlands und Europas eine einzigartige Brückenfunktion zwischen den Wissenschaftlern in Ost und West ausüben und Voraussetzungen ihrer heutigen Stellung schaffen.
Ebenso eindrücklich wie umfassend brachte Karl-Heinz Krause (Halle/ Saale) den Hörern Otto Schlüters Wirken als Direktor des Geographischen Seminars der halleschen Universität nahe. Von 1911 bis zu seiner Emeritierung 1938, dann infolge mehrfacher kriegsbedingter Vakanz bis 1951, leitete Schlüter das Geschehen dieser Lehr- und Forschungseinrichtung. Außer durch seine Publikationen war er auch als ausgezeichneter Hochschullehrer bekannt. Zeitweilig hatte er über 200 Hörer; 63 Doktoranden promovierten bei ihm. Als Lehrstuhlinhaber hatte er von 1914 bis 1945 zugleich den Vorsitz des Sächsisch- Thüringischen Vereins für Erdkunde zu Halle übernommen, die Vortragstätigkeit geleitet und die Mitteilungen dieser Gesellschaft herausgegeben.
Klaus Friedrich und Manfred Frühauf (Halle/Saale) schilderten die von vielen Wechselfällen beeinflusste institutionelle Entwicklung der Geographie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg nach der Zeit Schlüters bis zur gegenwärtigen Situation. 2006 entstand aus den bisher selbständigen Instituten für Geographie und Geologie das Institut für Geowissenschaften der Naturwissenschaftlichen Fakultät III. Im Mittelpunkt der Ausführungen standen das derzeitige Lehrangebot der sieben geographischen Fachgruppen (Professuren) sowie ihr auf den mitteldeutschen Raum bezogenes Forschungsprofil. Schließlich stellten die Referenten ihre Ansicht zu der Frage dar, inwieweit Schlüters theoretisch-methodisches Herangehen und seine Beiträge zur halleschen geographischen Regionalforschung auch heute in Lehre und Forschung Beachtung verdienen.
Die Vortragsveranstaltung wurde von einer Ausstellung begleitet. Neben Lebensstationen verdeutlichte sie u. a. anhand von Dokumenten den wissenschaftlichen Werdegang Otto Schlüters. Im Mittelpunkt standen seine Schriften und Kartenwerke, welche die Theorie und Methodik der Geographie und die deutsche Landeskunde vom Beginn des 20. Jahrhunderts an wesentlich prägten. Die weite Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen und seines Wirkens für die Leopoldina dokumentierten sowohl die hochrangigen Auszeichnungen Otto Schlüters und Glückwunschschreiben zu seiner Wahl zum XXI. Präsidenten der Leopoldina oder zu seinem 80. Geburtstag wie auch die auf seinen Tod am 12. Oktober 1959 folgenden zahlreichen Nachrufe.
Die Exkursion am Folgetag leiteten Manfred Frühauf und Günther Schönfelder. Sie führte von Halle (Saale) aus durch das südöstliche Harzvorland. Im Gebiet zwischen Helme, Saale und der unteren Unstrut hatte Schlüter Ende des 19. Jahrhunderts sein erstes regionales Arbeitsfeld zur Siedlungsgeographie und später zur eingehenden landeskundlichen Analyse und Darstellung gefunden. Die Fahrt veranschaulichte die natürlichen Strukturen und Prozesse im Talraum von Elster, Luppe und Saale südlich von Halle, im Bereich des Geiseltals und der Landschaftsräume der Querfurter Lössplatte, des Triaslandes mit seinen Schichtstufen, der Helme-Unstrut-Niederung, des Kyffhäusergebirges und des Mansfelder Seengebietes. Frühe Besiedlung, intensiver Ackerbau, einstiger Bergbau auf Kupferschiefer und Braunkohle sowie eine damit verbundene Industrie kennzeichnen die bisherige Nutzung und zukünftige Entwicklungspotentiale des Raumes. Die Gestaltung der Bergbaufolgelandschaft und die Behebung von Umweltschäden, die Weiterentwicklung von Siedlungen und Infrastruktur bei Abnahme der Bevölkerung durch Überalterung und Fortzüge u. a. zählen zu den Kernaufgaben heutiger Regionalentwicklung. Gleichzeitig stellt das südöstliche Harzvorland neben der Schutzwürdigkeit seiner Natur eine geschichtlich und kunsthistorisch reich ausgestattete Region dar. In der besuchten Gegend führten die Exkursionsleiter an lokalen Beispielen sowohl Schlüters frühe Untersuchungen als auch die modernen Methoden und Ergebnisse landschaftsökologischer und kulturgeographischer Feldforschung vor Augen. Abschließend sei als Fazit der zweitägigen Veranstaltung festgestellt, dass das von vier akademischen Einrichtungen getragene Meeting eine erfreulich starke Resonanz fand. Es ist vorgesehen, alle Vorträge, den Exkursionsbericht und einen Anhang zu Werk und Wirkung Schlüters als Heft 383 im Band 112 der Nova Acta Leopoldina zu veröffentlichen.