Das ›Berliner‹ Universitätsideal Humboldts und die Jubiläumsliteratur der Universität Leipzig
Die Etikettierung eines Kanons zur Bestimmung der Idee oder des Idealtypus der Universität als Institution und Praxisform mit dem Namen »Humboldt« geschieht nach allgemeiner Ansicht erst im frühen 20. Jahrhundert. Humboldt selbst kann nicht als alleiniger Schöpfer dieses Ideals gelten, die Diskussion um das viel zitierte »Humboldtsche Bildungsideal« fasst meist mehrere Fragestellungen zusammen. Offen ist die Frage, ob überhaupt bzw. wie die später nach Humboldt benannten Ideale die Entwicklungen der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert bestimmt haben.
Im Folgenden möchte ich mich auf die Universität Leipzig konzentrieren. Als Fallbeispiel bietet sie die Möglichkeit, diese Fragen zu präzisieren. Im Blickpunkt stehen dabei zwei Dinge:
1. die zeitliche Entwicklung der Artikulation der Ideale, die später unter dem Etikett »Humboldt« zusammengefasst werden und
2. die Gründe für die Wahl von Humboldt als Patron oder Namensheiligem – was selbst als eine Sprach- und Kulturpraxis der vereinfachten Darstellung von historischen Entwicklungen durch Bindung an Heroen oder mythische Gründer zu begreifen ist, die naturgemäß einfachere Gemüter dazu veranlasst, einen solchen »Humboldt-Mythos« wieder zu entmystifizieren.
Es geht hier insgesamt stets um eine ideelle Ebene, allerdings enthält diese die Reflexionsform, in welcher einer realen Praxisform mit all ihren Kontingenzen und Akzidentien eine sinngebende Zielrichtung normativ zugeordnet wird. Wie dann aber im Detail die Artikulation der Ideale zur realen Entwicklung steht, kann hier nicht einmal ansatzweise durchleuchtet werden.
Auf einer allgemeinen Ebene geht es also um so etwas wie die Geschichte des ideellen Selbstbildes einer Universität. Festgemacht werden kann ein solches Selbstbild besonders im Kontext ihrer Selbstpräsentation. Sucht man nach schriftlichen Zeugnissen, die in erster Linie auf eine Selbstpräsentation abzielen, wird man, allein schon quantitativ gesehen, besonders im Umfeld der Universitätsjubiläen fündig. Unter den zahlreichen Texten, die zum Anlass eines Jubiläums veröffentlicht werden, finden sich zudem die verschiedensten Genres: So reicht das Spektrum von historischen Abrissen, über Kommentare zur aktuellen Universitätssituation oder Berichte über die Jubiläumsfeierlichkeiten, bis hin zu Festreden oder sogar Festgedichten.
Schauen wir nun zunächst in das Jubiläumsjahr 1809. Welche Universitäts- bzw. Bildungs- oder Wissenschaftsideale findet man zu dieser Zeit vor? Innerhalb der Jubiläumsliteratur dieses Jahres dominiert recht deutlich eine Art von Idealvorstellung, die sich auf den grundsätzlichen Charakter von Wissenschaft und Bildung, also ihre Wesensart, bezieht, was eng mit der Frage nach ihrem Endzweck verbunden ist.
In sehr vielen Veröffentlichungen wird der Wissenschaft und Bildung (in den Texten ist meistens von Wissenschaft die Rede) die Rolle einer Quasi-Religion zugeschrieben. Wissenschaft oder Bildung wird dabei nämlich grundsätzlich als Mittel gesehen, dem Leben Sinn zu verleihen, und zwar nicht nur in Bezug auf das Leben, sondern auch auf den Tod. Dem idealen Anspruch nach wird Wissenschaft deshalb durchaus als eine Art Heilswissen verstanden. Konkret zeigt sich das ideale Bild vom quasireligiösen Charakter der Wissenschaft und Bildung in den Jubiläumsquellen in vielfältiger Weise: Neben rhetorischen Elementen gibt es vor allem einen Programmpunkt während der Jubiläumsfeierlichkeiten, der diesen Charakter besonders unterstreicht. Es handelt sich um ein abendliches Säkularfest, das am 4. Dezember 1809 im Klassischen Kaffeehause in der Catharinenstraße (394) in kleinerem Rahmen stattfand. Zu den ca. 80 Gästen zählten neben Dozenten u. a. ehemalige Mitglieder der Universität, auswärtige Gelehrte, Studierende aus Leipzig und Vertreter des städtischen Lebens. Anwesend waren auch der Rektor Prof. Karl Gottlob Kühn sowie königliche Kommissarien – der König selbst weilte zu dieser Zeit gerade in Paris.
Das Festprogramm an diesem Abend war recht dicht. Teil des Programms war die symbolische Immatrikulation zweier junger Männer. An der Zelebrierung dieses Aktes zeigt sich nun sehr gut, was die Idee, dem Tod durch Wissenschaft Sinn zu verleihen, konkret bedeutete. In der Ansprache des Historikers Hans Karl Dippold heißt es nämlich: »Unsres Bleibens ist nicht hier, aber was wir für die Unsterblichkeit gethan, was wir gedacht, wie wir gewirkt, das wird ein Erbtheil unserer Söhne seyn. So mögen Ihnen diese heitern Knaben die Hoffnung künftiger Geschlechter bedeuten«. Das Wirken von Universitätsangehörigen und damit vermutlich indirekt die Wissenschaft wird bei Dippold also als ein stetig wachsendes Gemeinschaftswerk betrachtet. Einmal gewonnene Erkenntnisse behalten in diesem Gesamtwerk ihren festen Platz und sind damit über die Zeiten hinweg unsterblich. Was man hier also kurz gesagt findet, ist die Idee einer Unsterblichkeit durch Wissenschaft.
Diese Idee wird am selben Abend noch ein weiteres Mal in Szene gesetzt. Gleich im Anschluss an die Immatrikulation der beiden Knaben ertönt ein sogenannter Geisterchor, deren Sänger Thomaner waren. Geisterchor nannte man diesen Chor deshalb, weil er – wie es heißt – die »verewigten Zöglinge der Akademie« darstellen sollte, also die bereits verstorbenen Mitglieder der Leipziger Universität. Entsprechend war der Geisterchor, während er sang, nichtll eingerichondern nur von einem Seitenzimmer aus zu hören. Gleichzeitig war dieses Zimmer zu einer Art Mausoleum dekoriert worden. Darin befanden sich zwei große Tafeln mit goldener Schrift, die – so der Berichterstatter – »die Namen der Unsterblichen nannten, welche die Leipziger Universität unter die Ihrigen zählte«.
Diese – aber auch andere – Beispiele machen deutlich, dass ein para-religiöser Rahmen für die Wissenschaft im Jubiläumsjahr 1809 selbstverständlich gewesen zu sein scheint. An sich ist die Vorstellung, dass es sich bei Wissenschaft letztlich um eine Art Sinnstiftung mit quasi-religiösem Anspruch handelt, schon seit den Zeiten des Pythagoras nichts Neues. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts handelt es sich aber offenbar um eine Säkularisierung einer christlichen Tradition, deren Beginn man bis ins Mittelalter zurückverfolgen kann. Dass es sich dabei auch um die Umwandlung einer Idee der Volksbildung handelt, verbindet den Schritt, den die akademische Welt in die Öffentlichkeit geht, sogar mit dem Programm der philosophischen »Mystiker« des Hochmittelalters, einer »Imitatio Christi«. Das para-religiöse Konzept der Wissenschaft, wie man es 1809 vorfindet, beansprucht jetzt freilich methodisches Wissen nicht bloß über den rechten Weg, sondern auch das Ziel. Wissenschaft will damit selbst sinnstiftend wirken. Der Aneignungsprozess von Bildung oder Wissenschaft erscheint eben deshalb auch als reiner Selbstzweck. Wissenschaft ist somit nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern sie ist Mittel und Zweck in gleichen Maßen. Wissenschaft wird also, diesem Gedanken zufolge, an keinen äußeren Zweck mehr gebunden. Man könnte dieses das »romantische« Ideal der Wissenschaft als Selbstzweck bezeichnen. Dieses ist am Ende identisch mit dem »neuhumanistischen« oder eben »humboldtschen« Bildungs- und Wissenschaftsideal. Es findet sich damit in den Jubiläumsquellen der Universität Leipzig von 1809 durchaus auch schon das Kernstück der später sogenannten humboldtschen Ideale, wie man sie gern der Berliner Universitätsgründung zuschreibt. Schaut man genauer hin, findet man in der Jubiläumsliteratur noch weitere Facetten dieser sogenannten humboldtschen Bildungs- und Wissenschaftsideale. So scheint die in der Romantik aufkeimende Idealvorstellung von Wissenschaft und Bildung in den Jubiläumsquellen von 1809 eine Art Verteidigungsrhetorik geistiger Freiheit zu provozieren. Die Universität Leipzig wird in einer Ansprache während der Festlichkeiten z. B. »Tochter der Freyheit« genannt und in einem Liedtext heißt es: »Wo der Geist, beengender Fesseln los«.
Wird Wissenschaft nun generell als offenerer Prozess verstanden, hat dies auch Einfluss auf die Wesensbestimmung einer Universität. Die Jubiläumsquellen von 1809 machen deutlich, dass sich die Leipziger Universität nicht als eine reine Lehranstalt verstanden wissen möchte und damit also keinen Raum darstellen will, in dem Lehrer- und Schülerverhältnisse vorherrschen. Vielmehr scheinen sich Vertreter der Leipziger Universität als eine Art Verbund von Personen zu sehen, die sich zum Forschen und Lehren zusammengetan haben – und im Ansatz klingt dabei evtl. auch so etwas wie die Forderung nach Einheit von Lehre und Forschung an. Am Klarsten kommen diese neuen Gedanken zur Wesensbestimmung der Universität in folgender Passage eines Jubiläumsberichtes zum Ausdruck: »Denn feierlich verbanden sich an diesem Weihefeste der Wissenschaft von neuem deutsche Männer zu forschen und zu lehren«.
Die Universität wird in ihrem Wesen allerdings nicht nur als eine Art Interessengemeinschaft von Individuen – bezogen auf eine bestimmte Bildungsmentalität – bestimmt. Mehrfach wird überdies die Einheit des Wissens, d. h. die inhaltliche Einheit aller Wissenschaften hervorgehoben. Das Ideal einer inhaltlichen Einheit aller Wissenschaften tritt in der Jubiläumsschrift des außerordentlichen Medizinprofessors Karl Friedrich Burdach zutage. Burdach war durch die romantische Naturphilosophie geprägt. Er leitet eine Einheit der Wissenschaften in seiner Schrift aus der Vorstellung ab, dass in der Natur ein einheitliches System von Kräften wirkt.
An dieser Stelle nun soll ein zeitlicher Sprung um 100 Jahre vorgenommen und auf Wissenschafts- bzw. Bildungsideale geschaut werden, welche sich in der Selbstpräsentation der Universität Leipzig anlässlich der 500-Jahr-Feier im Jahr 1909 finden. In einem Vergleich zum Jubiläumsjahr 1809 wird sehr schnell deutlich, dass der explizite Rückgriff auf die jetzt Humboldt zugeschriebenen Ideale eine Art Selbstverständlichkeit geworden ist. Es sind dies vor allem die Ideale Freiheit des Geistes, Einheit des Wissens, Autonomie und Einheit von Forschung und Lehre. Besonders häufig findet sich in der Jubiläumsliteratur die Formulierung Einheit von Forschung und Lehre. Dieses Ideal hat gewissermaßen eine zentrale Stellung unter den gängigen Universitätsidealen. Die Stichworte Freiheit des Geistes, Einheit des Wissens und im Ansatz sogar auch schon die Idee einer Einheit von Forschung und Lehre finden sich aber auch bereits 100 Jahre früher. Dieser Befund stimmt mit einer Einschätzung des Historikers Dieter Langewiesche überein, der erkennt, dass die prägenden Universitätsideale des 19. Jahrhunderts erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Etikett »Humboldt« erhalten.
In zwei Richtungen lässt sich dieser Befund aber noch verschärfen. Bis zum frühen 20. Jahrhundert gibt es nämlich, erstens, eine Verschiebung innerhalb der Prioritätenreihenfolge der Leitidee für die akademische Hochschule, hin zum Ideal einer Einheit von Lehre und Forschung. Die Leipziger Jubiläumsquellen geben Anhaltspunkte, warum es zu solch einer Verschiebung kam. Es entsteht in den Jubiläumsbeiträgen der Eindruck, dass sich die Universität Leipzig Anfang des 20. Jahrhunderts Gefahren ausgesetzt sah, die besonders den Bereich »Forschung« bedrohten. Als Bedrohung wurden dabei vor allem (wie heute) die steigenden Studentenzahlen wahrgenommen. In entsprechenden Passagen werden sie als Folge sozialer Aufstiegsbestrebungen begriffen, und zwar »unterer Schichten«, wie es heißt. Die Argumentation geht dann im Groben wie folgt weiter: Da sich mit diesen Aufstiegbestrebungen in der Regel konkrete Berufsvorstellungen verbänden, drohe letztlich eine Verschulung auf Kosten des alten, universell ausgerichteten Bildungsideales und indirekt wohl auch auf Kosten von Forschung. Das Pochen auf eine Einheit von Forschung und Lehre wird damit zu einer Art Abwehrhaltung
Der zweite Aspekt betrifft die Gründe der Verknüpfung des Namens Humboldt mit dem romantischen Wissenschaftsideal bzw. dem neuhumanistischen Bildungskanon. Es geht dabei um die Realisierung des Ideals Einheit von Forschung und Lehre. Das wird vor allem in der Festrede Wilhelm Wundts klar, gehalten am 30. Juli 1909 in der Wandelhalle der Universität Leipzig. In dieser Rede erwähnt Wundt Humboldt nicht als Urheber des Gedankens einer, wie er sagt, »notwendigen Zusammengehörigkeit der Lehre und Forschung«, sondern als Person, die jenes Bildungsideal an einer Hochschule erstmals verwirklichen wollte. Er führt dann weiter aus, dass die Realisierung einer Einheit von Lehre und Forschung inzwischen weit fortgeschritten sei. So auch in Leipzig. Niederschlag gefunden habe das Ideal vor allem in der neuen Unterrichtsform des Seminars bzw. in der fachlichen Organisation als Institut. Bereits auf den ersten Blick sichtbar sei diese strukturelle Veränderung an den zahlreichen Neubauten, in denen sich eben u. a. auch speziell eingerichtete Seminarräumlichkeiten befanden.
Welche Motivation steht hinter dieser Argumentation? Bedenkt man, dass sich eine Universität wie Leipzig Anfang des 20. Jahrhunderts offenbar besonders als Forschungsinstitution bedroht fühlt, könnte es sich um so etwas wie den Versuch handeln, das Selbstverständnis als Forschungsuniversität durch Tradition zu legitimieren. Solche Thesen gibt es auch bereits. Man könnte das mit Humboldt verknüpfte Argumentationsmuster darüber hinaus aber auch noch allgemeiner lesen. Generell scheint es Wundt nämlich auch darum zu gehen, erfolgreiche reale Entwicklungen als Umsetzung von Idealen darzustellen. Sucht man nun nach einem Symbol für eine derartige Verzahnung von Ideal und Realität, eignet sich eigentlich niemand besser als Humboldt. Wundt nennt ihn wohl nicht umsonst »Staatsmann und Gelehrter«. In der Rolle des »Staatsmannes « ist sein Einfluss auf reale Strukturen leicht einsehbar. Zu dem Eindruck, dass sich Humboldt als »Staatsmann« stark von idealen Überlegungen leiten ließ, mag nachträglich vor allem die Anfang des 20. Jahrhunderts edierte fragmentarisch gebliebenen Schrift »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Lehranstalten in Berlin« beigetragen haben.
Was aber hat man davon oder besser: Wer hat etwas davon, reale Strukturen als Folge ideeller Überlegungen darzustellen? Eine Antwort deutet sich wiederum bei Wundt an, der darauf verweist, dass es zunächst in breiterem Umfang die Naturwissenschaften gewesen seien, bei denen es zu strukturellen Veränderungen hin zu einem forschungspraktischen Unterricht an Instituten gekommen sei. Man muss ergänzen, dass Wundt und auch andere Autoren genau darin den Schlüssel für den Erfolg des deutschen Universitätssystems liegen sahen. Werden derartige strukturelle Veränderungen nun als Folge von ideellen Vorüberlegungen interpretiert, wie es bei Wundt ja der Fall ist, haben allerdings auch die Geisteswissenschaften einen Anteil am Erfolg: Sie, vor allem die Philosophie – Wundt verstand sich ja als Philosoph und als Psychologe –, waren schließlich der wichtige ideelle Impulsgeber für diese Entwicklung.
Das Fallbeispiel Leipzig zeigt also, dass die später Humboldt zugeschriebenen Ideale im frühen 19. Jahrhundert als Grundkonsens »romantischer« Wissenschaft angesehen werden können und müssen. 100 Jahre später, Anfang des 20. Jahrhunderts, kam es dann allerdings zu einer gewissen Verschiebung eines universitären Selbstverständnisses. Das Selbstbild einer experimentellen und damit immer auch apparatetechnischen Forschungsuniversität gewinnt ganz offenbar (sogar rasant) an Bedeutung.
Daraus ergibt sich nun auch ein Hinweis darauf, warum erst Anfang des 20. Jahrhunderts der Name Humboldt mit dem neuhumanistischen Idealkanon verknüpft wurde. Eine wichtige Symbolkraft Humboldts mag nämlich insbesondere in der vermeintlich erstmals von ihm erwirkten Realisierung einer Forschungsuniversität gelegen haben. Darüber hinaus schien Humboldts symbolische Funktion aber auch dahin zu reichen, ganz allgemein als Realisierer von Idealen zu gelten. Das hatte nicht zuletzt den Vorteil, dass auch den Geisteswissenschaften ein gewisser Platz in der universitären Erfolgsgeschichte des 19. Jahrhunderts eingeräumt werden konnte. Da die Naturwissenschaften ihren Erfolg vor allem auf verbesserte Universitätsstrukturen zurückführten, blieb den Geisteswissenschaften zumindest die Rolle des Ideengebers für diese verbesserten Strukturen.
Die Jubiläumsquellen wirken bezogen auf einen sogenannten »Humboldt- Mythos« aber noch in einem weiteren Punkt erhellend. Eng verzahnt mit einem speziellen »Humboldt-Mythos« findet sich nämlich auch eine Art »Berlin- Mythos«, der in Leipzig ausdrücklich anerkannt wird. Nicht nur Humboldt, sondern auch allgemein die Universität Berlin wird als Vorbild für eine Umgestaltung der Leipziger Universität ab den 1820er Jahren genannt. Interessant ist dabei, dass dieser Berlin-Mythos stark nationalsymbolisch aufgeladen ist. Dieser Befund widerspricht partiell der Einschätzung Langewiesches, der die Kreierung eines Berlin-Mythos vor allem in Berlin selbst verortet und als Zeitpunkt dafür vor allem das Jahr 1910 nennt – also das Jahr, in dem die Berliner Universität ihr 100-jähriges Jubiläum feierte. Das Beispiel der Universität Leipzig 1909 zeigt hingegen, dass sich auch hier, trotz allen Konkurrenzdenkens, ein ausgeprägtes nationales Denken finden lässt, hinter dem lokale und föderative Tendenzen zurückstehen. Zum Ausdruck kommt dies z. B. in einer Rede des Leipziger Rektors Karl Binding beim Festakt im Neuen Theater. Dort heißt es: »Ganz besonders aber gedenken wir der deutschen Universität, die in der schwersten Zeit unseres Vaterlandes gegründet wurde, damit die tief wunden, die bedrückten Seelen sich an ihr erheben könnten, die wir im nächsten Jahre als junge, erst 100jährige Jubilarin begrüßen werden – voll Dankes dafür, daß sie die auf sie gesetzten Hoffnungen erfüllt, in einem knappen Jahrhundert das Größte geleistet und uns deutschen Universitäten alle übertroffen hat. Ich brauche den Namen Berlin nicht zu nennen.«